Augsburger Allgemeine (Land Nord)
Ursula Herrmann: Der Fall, der niemals endet
Vor 40 Jahren wurde das Mädchen in einem Wald am Ammersee entführt und in eine Kiste gesperrt. Das Kind starb. Der Fall wurde von den Ermittlern gründlich vergeigt. Bis heute gibt es Zweifel, ob der Verurteilte der Täter ist
Augsburg/Eching Ursula Herrmann wäre heute 50 Jahre alt. Vielleicht wäre sie Lehrerin, wie ihre Eltern und ihr Bruder. Vielleicht hätte sie einen anderen Beruf. Vielleicht hätte sie eigene Kinder. Vielleicht auch nicht. Doch Ursula Herrmann lebt nicht mehr. Sie wurde am 15. September 1981 in einem Waldgebiet am Ammersee entführt und in eine Kiste gesperrt. Sie erstickte.
Der Mann, der von der Justiz für Ursulas Tod verantwortlich gemacht wird, lebt. Er ist 71, er ist gesundheitlich angeschlagen und er sitzt seit nunmehr 13 Jahren und fast vier Monaten im Gefängnis. Aber er lebt. Und recht bald könnte er sogar freikommen. Wie das? Warum muss der Mann, der für eines der spektakulärsten Verbrechen der deutschen Nachkriegsgeschichte verurteilt wurde, nicht länger hinter Gittern bleiben?
Werner Mazurek wurde im Mai 2008 in seinem Haus in Kappeln an der Schlei in Schleswig-Holstein festgenommen. Am 25. März 2010 wurde er vom Augsburger Schwurgericht zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt. Aber nicht wegen Mordes, sondern wegen „erpresserischen Menschenraubs mit Todesfolge“. Eine besondere Schwere der Schuld wurde nicht festgestellt. Dadurch und durch die Tatsache, dass der Haftvollzug in Norddeutschland nicht so streng ist wie zum Beispiel in Bayern, hat Ursulas Entführer sehr realistische Chancen, nach 15 Jahren vorzeitig aus dem Gefängnis entlassen zu werden. Das wäre dann im Mai 2023, also bereits in gut eineinhalb Jahren.
Vielen ist diese Aussicht ein Gräuel. Die Entführung und der Tod der kleinen Ursula ist einer der Kriminalfälle, die die Menschen bis heute bewegen. Das liegt daran, dass ein kleines Mädchen das Opfer ist. Das liegt an der perfiden Ausübung des Verbrechens. Das liegt aber auch daran, dass es bis heute Zweifel gibt, ob der Fall Ursula Herrmann wirklich korrekt aufgeklärt ist und ob der Richtige für die Tat büßt.
Werner Mazurek sagt bis zum heutigen Tag: Ich war es nicht. Eine kleine Unterstützergruppe, die ihm zur Seite steht, hat sich bei Facebook zusammengefunden. Dort gibt es auch Fotos von begleiteten Freigängen des verurteilten Entführers. Besonders umtriebig in der Gruppe ist Gudrun Rödel, die Frau, die sich im Fall der getöteten Peggy Knobloch aus Lichtenberg so sehr für den falsch verdächtigten geistig Behinderten Ulvi K. eingesetzt hat. Sie hat Mazurek im Gefängnis besucht, sie spricht ihm immer wieder Mut zu.
Rödel ist überzeugt, dass der Falsche im Gefängnis sitzt. Bemerkenswert an dem Fall ist auch, dass der Bruder der getöteten Ursula ebenfalls glaubt, dass nicht der wahre Täter verurteilt worden ist. Michael Herrmann hat 38 Jahre lang nach einer Wahrheit gesucht, mit der er leben kann. Es ist ihm nicht gelungen.
Das traumatische Erlebnis der Entführung seiner Schwester wird sein Leben für immer prägen.
Im Herbst 1981 ist Michael Herrmann ein unbeschwerter Heranwachsender von 18 Jahren, der sich für Musik und Mädchen interessiert. Doch am Abend des ersten Schultags passiert etwas Unfassbares: Seine kleine Schwester Ursula verschwindet. Die Zehnjährige besucht am späten Nachmittag ihre Turnstunde und isst dann noch bei ihrer Tante in Schondorf zu Abend. Gegen 19.15 Uhr macht sich das Mädchen mit seinem roten Fahrrad auf den Heimweg. Durch das Waldgebiet „Weingarten“sind es nur zwei Kilometer bis zum Elternhaus in Eching. Ursula kommt nie dort an.
Entführer lauern dem Mädchen auf. Sie betäuben es und bringen es zu einer Lichtung im dichten Wald. Dort stecken sie Ursula in eine eigens dafür gebaute Gefängniskiste und vergraben die Kiste im Boden.
In dem Verlies sind Essen und Getränke, Wolldecken, ein Toiletteneimer, ein Jogginganzug. Ein Transistorradio und eine Glühbirne sind an eine Autobatterie angeschlossen. Die Entführer haben auch Lesestoff in die Kiste gepackt: Comic-Hefte wie „Clever & Smart“und Groschenromane wie „Am Marterpfahl der Irokesen“. Sogar ein Lüftungsrohr ist eingebaut. Doch es funktioniert nicht. Das Mädchen erstickt.
Die Familie weiß davon noch nichts. Sie ruft die Polizei, als Ursula nicht heimkommt. Beamte finden das Fahrrad des Mädchens. Familie Herrmann ahnt Schreckliches. Aber erst zwei Tage später ruft jemand an, allerdings ohne etwas zu sagen. Er spielt lediglich die bekannte Melodie für Verkehrsnachrichten des Radiosenders ab, die ersten sieben Töne des Volksliedes „So lang der alte Peter“. Neun solcher Anrufe erhält die Familie Herrmann in den Tagen darauf. Am 18. September kommt der erste Erpresserbrief. Die Entführer verlangen zwei Millionen Mark Lösegeld. Drei Tage danach kommt der nächste Brief. 19 Tage nach Ursulas Verschwinden, am 4. Oktober 1981, wird die Kiste mit dem toten Mädchen gefunden.
Die Ermittlungen verlaufen unstrukturiert und teils unprofessionell. „Da wurde wahnsinnig viel versaut“, sagt der Augsburger Rechtsanwalt Walter Rubach, der Mazurek seit 2008 vertritt. Auch das führt dazu, dass 27 Jahre lang kein Täter gefunden wird. Dann verhaftet die Polizei im Mai 2008 Werner Mazurek als Verdächtigen. Er hat ein Tonband im Haus, von dem eine Gutachterin des Landeskriminalamts später sagen wird, es sei wahrscheinlich benutzt worden, um 1981 die Erpresseranrufe herzustellen. Mazurek wird angeklagt und im März 2010 wegen erpresserischen Menschenraubs mit Todesfolge zu lebenslanger Haft verurteilt. Aber nach einem ein Jahr dauernden Indizienprozess bleiben Zweifel.
Diese Zweifel haben Ursulas Bruder Michael Herrmann lange Jahre beschäftigt. Er wollte nicht, dass möglicherweise ein Unschuldiger hinter Gittern sitzt. Er schrieb Mazurek einen Brief ins Gefängnis, der mit den Worten schloss: „Wenn Sie nicht der Täter sind, wünsche ich Ihnen, dass sich noch neue Erkenntnisse auftun und Sie rehabilitiert werden können. Wenn Sie der Täter sind: Fahren Sie zur Hölle!“Vor zwei Jahren hat sich Michael Herrmann aus der Öffentlichkeit zurückgezogen. Für ihn ist klar, dass die Täter aus dem Umfeld des ehemaligen Landschulheims in Schondorf kommen, einem privaten Internat für Kinder einflussreicher Eltern.
Ende 2020 tauchte plötzlich ein angebliches Bekennerschreiben auf, das auffällig viele Details zum Fall enthält. Dennoch gehen die Ermittler nicht davon aus, dass das Schreiben vom Kidnapper stammt. Doch bis heute laufen Untersuchungen der Staatsanwaltschaft Augsburg zu dem Schreiben. Für die Ermittler ist es ein wenig so wie für viele Menschen: Der Fall Ursula Herrmann scheint niemals ein Ende zu finden – auch nach 40 Jahren nicht.