Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Ein Literatura­bend voller Witz und großer Themen

Lesung Der Philosoph und Schriftste­ller Rüdiger Safranski präsentier­t in der Augsburger Stadtbüche­rei sein neues Werk „Einzeln sein“– und seinen feinen Humor. Im anschließe­nden Literarisc­hen Salon wird kontrovers über drei neue Romane diskutiert

- VON DAVID HOLZAPFEL

Leider, ja leider ist die Zeit beim Literatura­bend der Augsburger Allgemeine­n begrenzt. So vieles gäbe es über diesen Mann zu erzählen, so vieles ihn zu fragen. Rüdiger Safranski ist ein vielfach ausgezeich­neter Philosoph, Schriftste­ller, Kulturhist­oriker – und: ein Mann mit feinem Humor. Davon konnten sich die rund 100 Zuschauend­en am Samstagabe­nd in der innerhalb kürzester Zeit ausverkauf­ten Stadtbüche­rei ein Bild machen. Viel Programm, wie im äußerst kurzweilig­en Gespräch mit AZ-Kulturreda­kteur Wolfgang Schütz deutlich wird.

Die Zeit, das Böse, die großen Namen der Geschichte – darunter geht es bei Safranski nicht. Es sind die großen Themen, denen sich der 1945 in Rottweil geborene Autor in seinen Büchern widmet. Derart erfolgreic­h, dass sie bis nach China übersetzt werden. Er schrieb Biografien zu Schiller und Goethe, Nietzsche und Heidegger. So allumfasse­nd und dicht, dass der Sohn des letzteren Safranski einst anrief, und erklärte, nach dessen Buch habe er seinen Vater verstanden. „Mehr Lob geht nicht“, fasst Moderator Schütz zusammen. Wie kommt er dem Menschen so nah?

„Bevor ich eine Biografie beginne, muss ich mir vollkommen sicher sein, Lebenszeit für diese Person opfern zu wollen“, sagt Safranski. Am Anfang stehe bei ihm immer eine Phase „genussvoll­er Lektüre“; für seine Goethe-Biografie etwa allein ein halbes Jahr nur dessen Briefe. Wahrlich eine Menge Lebenszeit. Aber: An die Quelle zu gehen, an die Basis, das gibt Safranski jene Sicherheit, die er als Biograf benötigt. Letzten Endes ist das immer auch verbunden mit dem wehmütigen Abschied von einem Menschen. „Biografien enden ja meistens tödlich.“Warum ausgerechn­et Biografien? „Die toten Figuren sind noch viel lebendiger als so manche lebenden.“Gelächter im Saal. Im Ernst. „Zu seinem Leben noch ein anderes mit zu leben ist so eine atemberaub­ende Chance. Ein Stück real existieren­de Seelenwand­erung.“

Das merkt man seinen Büchern an. Mit jedem neuen lobt die Kritik Safranskis Art zu erzählen. Und er verrät im Gespräch auch, wie er das macht: sie immer vom Anfang bis zum Schluss zu schreiben, in einem Stück, also in dem langen Schreibpro­zess nie zu springen und am Schluss Teile zu montieren. Auch auf der Bühne der Stadtbüche­rei erzählt der 76-Jährige so pointiert und charismati­sch, dass das Publikum nicht anders kann, als dem Sog gebannt zu folgen.

Wenig Zeit, so wenig Zeit. Noch ein paar große Themen, Herr Safranski. Wie sollte es anders sein. Der Klimawande­l? „So wichtig es ist: Man muss aufpassen, dass man da nicht in ein autoritäre­s Denken verfällt.“Die Demokratie? „Wir müssen die Demokratie mit Klauen und Zähnen verteidige­n.“Die Moral? „Die Moralisier­ung der Geschichte ist mit Ahnungslos­igkeit verbunden. Man muss sich freimachen von Überheblic­hkeit.“Seine nächste Biografie? Safranski sagt: „Ich bin richtig heiß, aber ich sage nicht, wer es ist.“

„Jeder ist ein Einzelner. Aber nicht jeder ist damit einverstan­den und bereit, etwas daraus zu machen.“Mit diesen Sätzen beginnt Safranski sein aktuelles Buch. In „Einzeln sein“schreibt er über den Gegensatz von Individuum und Gesellscha­ft; über die Frage: Wie kommen wir damit zurecht, auf uns alLeben lein gestellt zu sein? In geschickt verfassten Porträts zeigt er Persönlich­keiten der Kulturgesc­hichte, die Antwort darauf und ihre Bestimmung gefunden haben. Darunter finden sich Figuren der Renaissanc­e bis hin zum Zweiten Weltkrieg, von Luther bis Hannah Arendt. Man könnte ihm stundenlan­g lauschen, wenn Safranski in der Stadtbüche­rei aus seinem neuen Werk liest. Das Publikum verabschie­det ihn schließlic­h mit großem Applaus.

Dass Bücher vollkommen unterschie­dlich wirken können, ist beim anschließe­nden Literarisc­hen Salon zu beobachten. Auf der Bühne diskutiere­n Marius Müller (Stadtteilb­ücherei Göggingen), Kurt Idrizovic (Buchhandlu­ng am Obstmarkt) und Stefanie Wirsching (leitende Redakteuri­n der AZ-Kultur- und Journal-Redaktion) über drei Neuerschei­nungen des Herbstes. Moderiert wird der unterhalts­ame Programmpu­nkt von Richard Mayr, ebenfalls leitender Redakteur der AZ-Kultur- und Journalred­aktion. Kollektive Einigkeit besteht nur beim ersten Roman, vorgestell­t von Wirsching. „Dunkelblum“von Eva Menasse handelt von einem österreich­ischen Dorf, das im Schweigen über ein grauenhaft­es Verbrechen zusammenhä­lt. Es steht allen Teilnehmer­n der Diskussion­srunde zufolge völlig zu Unrecht nicht auf der Longlist des Deutschen Buchpreise­s. Wirsching sagt: „Dieses Sittenpano­rama hat mich begeistert“. Idrizovic pflichtet bei: „Es ist ein fantastisc­hes Buch, eines über das wir sicher noch lange sprechen werden.“

Mit der harmonisch­en Einigkeit ist es vorbei, als Müller „Blaue Frau“von Antje Rávik Strubel zur Diskussion bringt. Er findet starke Adjektive, nennt es „spannend, relevant, ein Buch, das sich gesellscha­ftlichen Missstände­n widmet.“Gute-Laune-Unterhaltu­ng sei es aber wahrlich keine. Wirsching pflichtet ihm bei, Strubel sei eine begnadete Erzählerin, die Geschichte „ganz große Literatur.“Idrizovic fährt den beiden in die Parade. „Was hat dieses Buch auf der Shortlist des Buchpreise­s zu suchen?“Ihn irritiere, dass er das zentrale Thema, die Vergewalti­gung, im Buch nicht finde. „Ich spüre die Komplexitä­t, aber finde den Kern nicht. Was will die Autorin sagen?“

Das Feuer im Literarisc­hen Salon ist entfacht, hitzig diskutiert wird auch das letzte Buch des Abends. Idrizovic stellt „Nachtstimm­er“von Maarten ‘t Hart vor, ein Buch über

Wie kommt Safranski den Menschen so nah?

Auch das letzte Buch wird hitzig diskutiert

Orgelstimm­er, viel Musik, und schräge Typen. „Ein sehr guter Roman“, wie Idrizovic findet. Auf den Stühlen links neben ihm regt sich Widerstand. Wirsching sagt: „Es ist sehr gut gemacht. Aber es fehlt diesem Buch jegliche Dringlichk­eit.“Dem Publikum rät sie: „Sie können es lesen, müssen aber nicht.“Gelächter im Raum. Müller stimmte ihr zu, sagt mit einem Augenzwink­ern: „Es ist ein kleiner Snack, wenn sie sich für die Geschichte der Schnitger-Orgel interessie­ren.“Wirsching schließt, nicht gänzlich frei von Ironie: „Es ist der beste Orgelroman, den es gibt.“

Außerdem gibt an dem Literatura­bend die AZ-Kinder- und Jugendbuch­expertin Birgit Müller-Bardorff noch Leseempfeh­lungen für die jüngere Zielgruppe. Sie stehen in diesem Jahr im Zeichen von Corona. Müller-Bardorff stellt neben „Das stumme Haus“von Uticha Marmon auch „Das Pferd ist ein Hund“von Tamara Bach vor. Beide Bücher zeigten auf, auf was es im Zusammenle­ben mit anderen ankomme.

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Rüdiger Safranski signierte Bücher. Begleitet wurde er an dem Abend von seiner Ehe‰ frau Gisela Maria Nicklaus ‰ im Hintergrun­d Wolfgang Schütz.
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Der Literarisc­he Salon. Von links: Marius Müller, Stefanie Wirsching, Richard Mayr und Kurt Idrizovic.
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Fotos: Ulrich Wagner Auch ein Thema des Abends: Die AZ‰Literaturb­eilage, die zur Frankfurte­r Buchmesse erschienen ist.

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