Augsburger Allgemeine (Land Nord)
Ein Literaturabend voller Witz und großer Themen
Lesung Der Philosoph und Schriftsteller Rüdiger Safranski präsentiert in der Augsburger Stadtbücherei sein neues Werk „Einzeln sein“– und seinen feinen Humor. Im anschließenden Literarischen Salon wird kontrovers über drei neue Romane diskutiert
Leider, ja leider ist die Zeit beim Literaturabend der Augsburger Allgemeinen begrenzt. So vieles gäbe es über diesen Mann zu erzählen, so vieles ihn zu fragen. Rüdiger Safranski ist ein vielfach ausgezeichneter Philosoph, Schriftsteller, Kulturhistoriker – und: ein Mann mit feinem Humor. Davon konnten sich die rund 100 Zuschauenden am Samstagabend in der innerhalb kürzester Zeit ausverkauften Stadtbücherei ein Bild machen. Viel Programm, wie im äußerst kurzweiligen Gespräch mit AZ-Kulturredakteur Wolfgang Schütz deutlich wird.
Die Zeit, das Böse, die großen Namen der Geschichte – darunter geht es bei Safranski nicht. Es sind die großen Themen, denen sich der 1945 in Rottweil geborene Autor in seinen Büchern widmet. Derart erfolgreich, dass sie bis nach China übersetzt werden. Er schrieb Biografien zu Schiller und Goethe, Nietzsche und Heidegger. So allumfassend und dicht, dass der Sohn des letzteren Safranski einst anrief, und erklärte, nach dessen Buch habe er seinen Vater verstanden. „Mehr Lob geht nicht“, fasst Moderator Schütz zusammen. Wie kommt er dem Menschen so nah?
„Bevor ich eine Biografie beginne, muss ich mir vollkommen sicher sein, Lebenszeit für diese Person opfern zu wollen“, sagt Safranski. Am Anfang stehe bei ihm immer eine Phase „genussvoller Lektüre“; für seine Goethe-Biografie etwa allein ein halbes Jahr nur dessen Briefe. Wahrlich eine Menge Lebenszeit. Aber: An die Quelle zu gehen, an die Basis, das gibt Safranski jene Sicherheit, die er als Biograf benötigt. Letzten Endes ist das immer auch verbunden mit dem wehmütigen Abschied von einem Menschen. „Biografien enden ja meistens tödlich.“Warum ausgerechnet Biografien? „Die toten Figuren sind noch viel lebendiger als so manche lebenden.“Gelächter im Saal. Im Ernst. „Zu seinem Leben noch ein anderes mit zu leben ist so eine atemberaubende Chance. Ein Stück real existierende Seelenwanderung.“
Das merkt man seinen Büchern an. Mit jedem neuen lobt die Kritik Safranskis Art zu erzählen. Und er verrät im Gespräch auch, wie er das macht: sie immer vom Anfang bis zum Schluss zu schreiben, in einem Stück, also in dem langen Schreibprozess nie zu springen und am Schluss Teile zu montieren. Auch auf der Bühne der Stadtbücherei erzählt der 76-Jährige so pointiert und charismatisch, dass das Publikum nicht anders kann, als dem Sog gebannt zu folgen.
Wenig Zeit, so wenig Zeit. Noch ein paar große Themen, Herr Safranski. Wie sollte es anders sein. Der Klimawandel? „So wichtig es ist: Man muss aufpassen, dass man da nicht in ein autoritäres Denken verfällt.“Die Demokratie? „Wir müssen die Demokratie mit Klauen und Zähnen verteidigen.“Die Moral? „Die Moralisierung der Geschichte ist mit Ahnungslosigkeit verbunden. Man muss sich freimachen von Überheblichkeit.“Seine nächste Biografie? Safranski sagt: „Ich bin richtig heiß, aber ich sage nicht, wer es ist.“
„Jeder ist ein Einzelner. Aber nicht jeder ist damit einverstanden und bereit, etwas daraus zu machen.“Mit diesen Sätzen beginnt Safranski sein aktuelles Buch. In „Einzeln sein“schreibt er über den Gegensatz von Individuum und Gesellschaft; über die Frage: Wie kommen wir damit zurecht, auf uns alLeben lein gestellt zu sein? In geschickt verfassten Porträts zeigt er Persönlichkeiten der Kulturgeschichte, die Antwort darauf und ihre Bestimmung gefunden haben. Darunter finden sich Figuren der Renaissance bis hin zum Zweiten Weltkrieg, von Luther bis Hannah Arendt. Man könnte ihm stundenlang lauschen, wenn Safranski in der Stadtbücherei aus seinem neuen Werk liest. Das Publikum verabschiedet ihn schließlich mit großem Applaus.
Dass Bücher vollkommen unterschiedlich wirken können, ist beim anschließenden Literarischen Salon zu beobachten. Auf der Bühne diskutieren Marius Müller (Stadtteilbücherei Göggingen), Kurt Idrizovic (Buchhandlung am Obstmarkt) und Stefanie Wirsching (leitende Redakteurin der AZ-Kultur- und Journal-Redaktion) über drei Neuerscheinungen des Herbstes. Moderiert wird der unterhaltsame Programmpunkt von Richard Mayr, ebenfalls leitender Redakteur der AZ-Kultur- und Journalredaktion. Kollektive Einigkeit besteht nur beim ersten Roman, vorgestellt von Wirsching. „Dunkelblum“von Eva Menasse handelt von einem österreichischen Dorf, das im Schweigen über ein grauenhaftes Verbrechen zusammenhält. Es steht allen Teilnehmern der Diskussionsrunde zufolge völlig zu Unrecht nicht auf der Longlist des Deutschen Buchpreises. Wirsching sagt: „Dieses Sittenpanorama hat mich begeistert“. Idrizovic pflichtet bei: „Es ist ein fantastisches Buch, eines über das wir sicher noch lange sprechen werden.“
Mit der harmonischen Einigkeit ist es vorbei, als Müller „Blaue Frau“von Antje Rávik Strubel zur Diskussion bringt. Er findet starke Adjektive, nennt es „spannend, relevant, ein Buch, das sich gesellschaftlichen Missständen widmet.“Gute-Laune-Unterhaltung sei es aber wahrlich keine. Wirsching pflichtet ihm bei, Strubel sei eine begnadete Erzählerin, die Geschichte „ganz große Literatur.“Idrizovic fährt den beiden in die Parade. „Was hat dieses Buch auf der Shortlist des Buchpreises zu suchen?“Ihn irritiere, dass er das zentrale Thema, die Vergewaltigung, im Buch nicht finde. „Ich spüre die Komplexität, aber finde den Kern nicht. Was will die Autorin sagen?“
Das Feuer im Literarischen Salon ist entfacht, hitzig diskutiert wird auch das letzte Buch des Abends. Idrizovic stellt „Nachtstimmer“von Maarten ‘t Hart vor, ein Buch über
Wie kommt Safranski den Menschen so nah?
Auch das letzte Buch wird hitzig diskutiert
Orgelstimmer, viel Musik, und schräge Typen. „Ein sehr guter Roman“, wie Idrizovic findet. Auf den Stühlen links neben ihm regt sich Widerstand. Wirsching sagt: „Es ist sehr gut gemacht. Aber es fehlt diesem Buch jegliche Dringlichkeit.“Dem Publikum rät sie: „Sie können es lesen, müssen aber nicht.“Gelächter im Raum. Müller stimmte ihr zu, sagt mit einem Augenzwinkern: „Es ist ein kleiner Snack, wenn sie sich für die Geschichte der Schnitger-Orgel interessieren.“Wirsching schließt, nicht gänzlich frei von Ironie: „Es ist der beste Orgelroman, den es gibt.“
Außerdem gibt an dem Literaturabend die AZ-Kinder- und Jugendbuchexpertin Birgit Müller-Bardorff noch Leseempfehlungen für die jüngere Zielgruppe. Sie stehen in diesem Jahr im Zeichen von Corona. Müller-Bardorff stellt neben „Das stumme Haus“von Uticha Marmon auch „Das Pferd ist ein Hund“von Tamara Bach vor. Beide Bücher zeigten auf, auf was es im Zusammenleben mit anderen ankomme.