Augsburger Allgemeine (Land Nord)
Migration als Waffe
Flucht
Der belarussische Diktator lässt immer mehr Menschen in die EU schleusen. Wie Recherchen belegen, verdienen Reisebüros und Fluglinien dabei gutes Geld. Polen reagiert mit Härte und plant einen Mauerbau an der Grenze
Warschau Sehnsuchtsort Hamburg, Endstation Warschau. So ergeht es Ende September Mahmoud A. Die polnische Polizei stoppt das Auto, in dem der 42-jährige Syrer mit drei seiner Landsleute hockt. Am Steuer ein Schleuser. Kurz darauf gestehen die Männer den illegalen Grenzübertritt. Mahmoud gibt sofort alles zu. Er will seine Geschichte erzählen. Wie sie ihn erst nach Belarus gelockt und dann fast erschlagen haben. Soldaten treten ihm gegen den Kopf, brechen ihm den Kiefer und treiben ihn aus dem Land. Immer nach Westen. Dabei wäre er auch von allein gegangen. Denn in Hamburg leben Bruder und Schwester, wie die Zeitung Rzeczpospolita berichtet.
Vor acht Jahren ist Mahmoud vor Krieg und Terror in Syrien geflohen. Acht Jahre, die er mit Frau und vier Kindern in Jordanien verbracht hat. Nun hat er sie zurückgelassen, um sie später nachzuholen. Es war sicher besser so. Denn in Polen häufen sich die Berichte über Minderjährige, die im Grenzgebiet zu Belarus aufgegriffen werden. Ausgehungert, krank oder halb erfroren. Mindestens sieben Menschen sind in dem sumpfigen Niemandsland gestorben, seit Diktator Alexander Lukaschenko im Mai beschlossen hat, Geflüchtete als politisches Druckmittel einzusetzen. Die Regierung in Warschau sagt: als Waffen.
Mahmouds Geschichte wirft ein grelles Licht auf die Hintergründe. Denn der 42-Jährige erzählt auch, wie er die Schleusung bei einem jor
danischen Reisebüro für 3000 Dollar regelrecht buchen konnte. Flug, Visum und Hotel in Minsk inklusive. Bei all dem, das belegen internationale Recherchen, arbeitet das Lukaschenko-Regime mit Reiseunternehmen, Fluglinien und Schleusern Hand in Hand. Die Folge: Seit dem Sommer zählten die polnischen Behörden rund 10000 illegale Grenzübertritte aus Belarus. Die meisten Geflüchteten kommen aus dem Irak, Syrien und Afghanistan.
Es ist genau das Szenario, das Lukaschenko bereits im Frühsommer an die Wand gemalt hat. Menschen aus Kriegsgebieten seien auf dem Weg „in das warme und bequeme Europa“, erklärte er damals. Und in Deutschland würden doch Arbeits
kräfte gebraucht. „Da werden wir sie nicht aufhalten.“Am Montag kamen die EU-Außenminister zu zweitägigen Beratungen in Luxemburg zusammen. Weit oben auf der Agenda: Belarus und Afghanistan. Die Bundesregierung erwägt weitere Sanktionen, um „gezielt gegen diese Art von Menschenschmuggel vorzugehen“. Man müsse vor allem die beteiligten Fluglinien treffen. Doch ob das reicht, ist fraglich. Denn der Migrationsdruck, der in der Corona-Pandemie weltweit nachgelassen hatte, steigt wieder spürbar an. So registrierte die europäische Asylbehörde EASO zuletzt eine deutliche Zunahme von Schutzgesuchen in der EU. Laut EASO-Chefin Nina Gregori lag die
Zahl der Asylanträge im August bei 16000 – 40 Prozent mehr als im Vorjahresvergleich.
Wichtigster Grund war die Luftbrücken-Evakuierung aus Afghanistan. Man beobachte aber auch die Lage in den Nachbarländern sehr genau, so Gregori. Das allerdings dürfte Lukaschenko ebenfalls tun. Experten gehen davon aus, dass sein Regime mit russischer Unterstützung durchaus über die Mittel verfügt, um die Migration aus ehemaligen Sowjetrepubliken wie Tadschikistan und Usbekistan zu steuern. Auch in den östlichen EU-Staaten gibt man sich keinen Illusionen hin. Lukaschenko werde „vor nichts zurückschrecken, um sein Ziel zu erreichen“, sagt Polens Innenminister
Mariusz Kaminski. Die rechtsnationale PiS-Regierung hat Militär an die gut 400 Kilometer lange Grenze entsandt. Tausende Soldaten errichten dort mit Nato-Draht Zäune. Ende vergangener Woche stimmte das Parlament in Warschau dem Bau einer „soliden, hohen Barriere mit Kameraüberwachung und Bewegungsmeldern“zu. Seit September gilt in der Region zudem der Ausnahmezustand. Kritiker vermuten, dass die Abschottung vor allem ein Ziel hat: gewaltsame Rückführungen von Geflüchteten zu erleichtern, sogenannte Pushbacks, die nach internationalem Recht illegal sind.
Dennoch gibt es inzwischen zahlreiche Belege, dass Migranten an den EU-Außengrenzen regelrecht „zurückgeprügelt“werden. Ein Reporterteam filmte kürzlich, wie Polizisten in Kroatien auf Geflüchtete einschlagen und sie nach Bosnien treiben. Hintergrund ist eine deutliche Zunahme der Migration „vor allem auf der Balkanroute“, von der EASO-Chefin Gregori zuletzt berichtete. Osteuropa sei in diesem Jahr „ein Hotspot“der Fluchtbewegungen. Die EU-Grenzschutzagentur Frontex sprach jüngst von 40 200 illegalen Einreisen auf dem westlichen Balkan seit Januar. Das sei eine Zunahme von 117 Prozent gegenüber 2020. Insbesondere Menschen aus Syrien, Afghanistan und Marokko versuchten auf dem Weg über Nord-Mazedonien, Bosnien oder Serbien nach Kroatien zu gelangen. Zielländer sind aber meist Österreich, Deutschland oder die Niederlande.