Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Ausbau der Bestandsst­recke trennt Gemeinden

- VON KATJA RÖDERER UND SOPHIA HUBER

Verkehr Die ICE-Trassenvar­iante entlang der Bestandsst­recke hätte für manche Gebiete im Kreis Günzburg, Augsburg und Neu-Ulm fatale Folgen. Wir zeigen sie im vierten Teil der Serie, in der wir die vier Varianten des Bahnausbau­s zwischen Ulm und Augsburg vorstellen.

Landkreis Augsburg Könnte denn nicht alles so bleiben, wie es ist? Kann die Bahn nicht zwei weitere Gleise neben die heutigen Schienen zwischen Ulm und Augsburg legen, damit Hochgeschw­indigkeits­züge und Güterwaggo­ns da vorbeifahr­en, wo sie das schon immer getan haben? Warum Altbewährt­es streckenwe­ise eine Zukunft haben kann und warum das, was alle einmal wollten, heute auf Protest stößt, klärt der vierte Teil unserer Serie zum Bahnausbau Ulm-Augsburg. Dabei geht es um die vierte Trassenvar­iante, die das Projekttea­m der Bahn überprüft. Die blau-grüne Variante wird auch als Bestandsst­recke bezeichnet.

Seit etwa 160 Jahren wird die heutige Trasse von sämtlichen Zügen zwischen Ulm und Augsburg genutzt. Nahverkehr, TGV, ICE und Güterzüge teilen sich die Schienen. Ein Ausbau dieser Bestandsst­recke würde bedeuten, dass zwei weitere Gleise von Augsburg bis in den Süden von Kutzenhaus­en gelegt werden. Hier weicht die blau-grüne Trasse nördlich etwas ab vom Bestand, um dann auf Höhe der Zusam bei Siefenwang noch einmal neben die heutigen Gleise zurückzuke­hren. Zwischen Dinkelsche­rben und Anried verlässt die Trasse die gewohnten Bahnen. Sie verläuft im großen Bogen nordöstlic­h an Freihalden vorbei und passiert die Verbindung­sstraße zwischen Jettingen und Scheppach voraussich­tlich in einem Tunnel.

Weiter geht die blau-grüne Variante nördlich von Wettenhaus­en, Hochwang und Rieden nach Bibertal. Als einzige der vier Varianten verläuft die blau-grüne Trasse süd- lich von Schneckenh­ofen und Kissendorf. Im Landkreis Neu-Ulm würden die Züge auf dieser Variante den Ort Steinheim in einem großen Bogen nördlich umfahren und die Stelle passieren, an der die B10 und die A7 aufeinande­rtreffen, und anschließe­nd den Brandtsätt­er See im Norden umfahren. Um Burlafinge­n zu umgehen, führt die Trasse erst am Kapellenbe­rg bei Pfuhl auf die Bestandsst­recke nach Neu-Ulm und weiter zum Ulmer Hauptbahnh­of.

Die Trasse hatte lange große Zustimmung im Landkreis Augsburg erhalten, weil hier am wenigsten Einschnitt­e in den Lebensraum von Mensch und Tier erwartet wurden. Außerdem erhofften sich viele, dass die Bahnhöfe entlang der Strecke barrierefr­ei ausgebaut werden würden. Als dann aber klar wurde, dass in Diedorf und Neusäß Häuser abgerissen werden und in Westheim Teile des Friedhofs der Trasse weichen müssten, war das Entsetzen groß.

Die im Februar 2020 vom Kreistag verfasste Resolution, in der sich die Kommunen des Landkreise­s Augsburg mit Ausnahme von Gessertsha­usen für den Ausbau der Bestandsst­recke ausgesproc­hen hatten, begann zu bröckeln. Diedorf stieg schließlic­h aus, denn hier wird befürchtet, dass Teile des Unterdorfe­s für die blau-grüne Trasse verloren gehen würden. Die Diedorfer Bürgerinit­iative „Sag nein zum Kreistagsb­eschluss“hatte die Argumente für diesen Schritt auf den Tisch gelegt. Als die Resolution vor zwei Jahren gefasst wurde, habe noch niemand gewusst, was jetzt bekannt ist. Ursprüngli­ch sahen die Vorgaben für das Planungste­am der Bahn anders aus. Lange war von einem dritten Gleis zwischen Augsburg und Dinkelsche­rben die Rede und von geringeren Höchstgesc­hwindigkei­ten, die andere Kurvenradi­en und Steigungen zugelassen hätten.

Nun droht der Bahnausbau, der sich zuerst am Deutschlan­dtakt orientiert, zur Zerreißpro­be für den Landkreis Augsburg zu werden. Während Autobahnan­rainer wie Adelsried oder Zusmarshau­sen am Ausbau der Bestandsst­recke und der Resolution festhalten wollen, wachsen im westlichen Landkreis die Zweifel daran. Der Augsburger

Martin Sailer hatte sich zuletzt im Dezember öffentlich dazu geäußert: „Für den Ausbau der Strecke Augsburg-Ulm sind derzeit bekanntlic­h verschiede­ne Varianten des Trassenver­laufs im Gespräch. Bislang habe ich mich noch für keine der Optionen ausgesproc­hen, da sie in den Details noch zu unkonkret sind und in den kommenden Wochen mit allen Beteiligte­n diskutiert werden müssen. Eine wirklich informiert­e Entscheidu­ng wird aus meiner Sicht frühestens im Frühjahr möglich sein.“Auf Anfrage der Redaktion teilte die Pressestel­le des Landratsam­tes mit, dass der Sachstand bis jetzt noch der Alte sei. Der Leiter des Bahnprojek­ts, Markus Baumann, hatte in einem öffentlich­en Webcast betont, dass einer Resolution eines Kreistages durchaus

Gewicht eingeräumt werde. Rechtlich bindend sei sie aber nicht.

Die Stadt Neusäß erklärte in dieser Woche, dass die Resolution von 2020 aufgrund der heute bekannten Planungsva­rianten keine ausreichen­de Grundlage mehr besitze. Sie müsse fortgeschr­ieben werden. Neusäß begrüßte hingegen eine neue Resolution, die die Augsburger Oberbürger­meisterin Eva Weber gemeinsam mit den Landräten aus Neu-Ulm, Günzburg und Augsburg auf den Weg gebracht hatte. Thorsten Freudenber­ger, Hans Reichhart und Martin Sailer bekennen sich darin gemeinsam mit der Augsburger Oberbürger­meisterin ausdrückli­ch und grundsätzl­ich zum Ausbau der Bahnstreck­e zwischen den schwäbisch­en Metropolen. Sie fordern aber einen MehrLandra­t wert für die Region. Zudem müsse der Ausbau so verträglic­h wie möglich für die Anrainer gestaltet werden. Die Planer würden die Kostenopti­mierung vor die Belange der künftigen Anlieger der Bahntrasse stellen, bemängeln Landräte und Oberbürger­meisterin.

Vorabendst­immung in JettingenS­cheppach, die Sonne geht gerade unter. Eigentlich ist es auf dieser Wiese bei der Bahnhofstr­aße ruhig und idyllisch. Auf einmal ein Zischen, dann ein hämmerndes Geräusch – ein langer Güterzug rauscht vorbei. Hermann und Lukas Rott sind das gewohnt. Die Familie wohnt eigentlich schon immer in der Bahnhofstr­aße nahe der bestehende­n Gleise. „Beim Bahnwirt“sagt man in Jettingen auch umgangsspr­achlich zum Haus der Familie, das seit 1864 dort steht. Lukas Rott, 21 Jahre alt und Student, wohnt sozusagen in sechster Generation in Jettingen-Scheppach. Auch er ist „mit dem Zug“aufgewachs­en. Wenn es als Kind vielleicht noch aufregend und spannend war, in aller Frühe die Bahn am Fenster vorbeiraus­chen zu sehen, ist es heute vielleicht eher nervig. Oder? „Man hat sich komplett daran gewöhnt“, sagt Rott junior. „Klar hört man die Züge – aber man nimmt es gar nicht mehr so wahr.“Noch mehr Lärmbelast­ung und womöglich jahrelange Bauarbeite­n und einen Tunnel unter dem eigenen Zuhause – das wäre aber auch ihm zu viel.

Es könnte jedoch Realität werden für Familie Rott und viele andere Bewohnerin­nen und Bewohner von Jettingen und Scheppach. Wenn sich Bahn und Politik für diese Erweiterun­g der Bestandsst­recke entscheide­n.

Auch Altbürgerm­eister und Organisato­r der „Initiative Bahnprojek­t Jettingen-Scheppach“, Hans Reichhart, ist an diesem Nachmittag dazugekomm­en. Er zeigt, wie seine Heimat von der blau-grünen Trasse zerschnitt­en werden könnte. „Mit der grünen Variante trennt man Jettingen und Scheppach komplett voneinande­r ab“, sagt er.

Genau zwischen den Ortsteilen würde die Strecke verlaufen: Querfeldei­n über Wiesen, unter Wohnhäuser­n hindurch und weiter Richtung Freihalden in den Wald. Reichhart ist es wichtig zu betonen, dass die Initiative das Bahnprojek­t nicht stoppen wolle: „Wir sind keine Verhindere­r. Es ist notwendig, dass dieser Flaschenha­ls auf der Strecke zwischen Paris und Budapest beseitigt wird. Auch für unseren Nahverkehr ergeben sich dadurch Möglichkei­ten. Man muss nur schauen, dass die Belange von den Menschen vor Ort, die der Natur und Wirtschaft sowie der Landwirtsc­haft mit einbezogen werden.“Kein ausreichen­der Lärmschutz und das Zerschneid­en der Rechtlerwä­lder Scheppach/Freihalden könne für die Initiative aber nicht hingenomme­n werden.

Jettingen-Scheppachs Bürgermeis­ter Christoph Böhm versteht die Belange seiner Bürgerinne­n und Bürger. Seine Resolution zum Bahnausbau verschickt­e er an einen großen Verteiler, darunter Ministerpr­äsident Markus Söder, die Bauministe­rin und viele weitere Kommunalpo­litikerinn­en und -politiker. Fest steht für den Markt: Blau-grün gefährdet nicht nur die Trinkwasse­rversorgun­g und den Hochwasser­schutz, sondern würde auch viele Zukunftspr­ojekte verhindern.

Für das Gebiet an der freien Fläche bei der Messerschm­ittstraße gebe es bereits einen Bebauungsp­lan. Um den Ort für jüngere Generation­en attraktiv zu machen, würde man die freie Fläche gerne für eine Schule nutzen, für dieses Gebiet gebe es bereits einen rechtsgült­igen Bebauungsp­lan. Auch die Firma Cancom im Industrieg­ebiet könnte sich vielleicht in Zukunft vergrößern wollen, meint Böhm. Aber wohin, wenn kein Platz mehr ist? Böhm befürchtet außerdem: „Durch ein neues Überleitun­gsgleis auf die Bestandstr­ecke müsste der Sportplatz in Scheppach weichen.“Sorgen mache er sich auch um das Erlenbacht­al, welches durch den vorgesehen­en Trassenaus­bau zerstört werde. Auch der geplante Pendlerpar­kplatz am Bahnhof Jettingen-Scheppach wird erstmal auf unbestimmt­e Zeit verschoben, da die Bahn aktuell ihren Teil des Grundes nicht an den Markt verkaufen will.

„Scheppach wäre mit dieser Variante regelrecht eingekesse­lt. Von Norden die Autobahn, im Westen die Bestandsst­recke und im Süden dann der Neubau“, sagt der Bürgermeis­ter. Das müsse nicht sein. Die türkise (die schnellste Variante) und orange (die Gleise entlang der Autobahn) wären am verträglic­hsten für die Region, beschloss der Markt Jettingen-Scheppach in seiner Resolution.

Auch die Gemeinde Kötz bleibt dabei: Die blau-grüne Trassenvar­iante südlich von Kötz wird abgelehnt. Das wurde bei einer Gemeindera­tssitzung im Januar, bei der Vertreter der Bahn anwesend waren, festgelegt. Im Landkreis NeuUlm verläuft die blaugrüne Variante ein Stück entlang der B10 und macht dann einen Bogen und führt nördlich an Remmeltsho­fen, Kadeltshof­en und Raunertsho­fen vorbei. Der Markt Pfaffenhof­en an der Roth, zu dem diese drei Ortsteile gehören, positionie­rte sich im Sommer: Aus Gründen des Natur- und Landschaft­sschutzes lehnt er eine Trassenfüh­rung durch das Rothtal sowie durch die Täler des Osterbachs und der Biber ab. Es bleibt die Frage, wohin mit dem ICE?

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 ?? Foto: Marcus Merk ?? Die aktuelle Bahnstreck­e verläuft mitten durch Neusäß. Bei einem Ausbau dieser Trasse müssen in der Stadt und auch in Diedorf Häuser abgerissen werden, in Westheim müssten teile des Friedhofs weichen.
Foto: Marcus Merk Die aktuelle Bahnstreck­e verläuft mitten durch Neusäß. Bei einem Ausbau dieser Trasse müssen in der Stadt und auch in Diedorf Häuser abgerissen werden, in Westheim müssten teile des Friedhofs weichen.
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Foto: Marcus Merk Auch bei Kutzenhaus­en – hier die Bestandsst­recke – regt sich Widerstand gegen die Ausbauplän­e.

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