Augsburger Allgemeine (Land Nord)
Ausbau der Bestandsstrecke trennt Gemeinden
Verkehr Die ICE-Trassenvariante entlang der Bestandsstrecke hätte für manche Gebiete im Kreis Günzburg, Augsburg und Neu-Ulm fatale Folgen. Wir zeigen sie im vierten Teil der Serie, in der wir die vier Varianten des Bahnausbaus zwischen Ulm und Augsburg vorstellen.
Landkreis Augsburg Könnte denn nicht alles so bleiben, wie es ist? Kann die Bahn nicht zwei weitere Gleise neben die heutigen Schienen zwischen Ulm und Augsburg legen, damit Hochgeschwindigkeitszüge und Güterwaggons da vorbeifahren, wo sie das schon immer getan haben? Warum Altbewährtes streckenweise eine Zukunft haben kann und warum das, was alle einmal wollten, heute auf Protest stößt, klärt der vierte Teil unserer Serie zum Bahnausbau Ulm-Augsburg. Dabei geht es um die vierte Trassenvariante, die das Projektteam der Bahn überprüft. Die blau-grüne Variante wird auch als Bestandsstrecke bezeichnet.
Seit etwa 160 Jahren wird die heutige Trasse von sämtlichen Zügen zwischen Ulm und Augsburg genutzt. Nahverkehr, TGV, ICE und Güterzüge teilen sich die Schienen. Ein Ausbau dieser Bestandsstrecke würde bedeuten, dass zwei weitere Gleise von Augsburg bis in den Süden von Kutzenhausen gelegt werden. Hier weicht die blau-grüne Trasse nördlich etwas ab vom Bestand, um dann auf Höhe der Zusam bei Siefenwang noch einmal neben die heutigen Gleise zurückzukehren. Zwischen Dinkelscherben und Anried verlässt die Trasse die gewohnten Bahnen. Sie verläuft im großen Bogen nordöstlich an Freihalden vorbei und passiert die Verbindungsstraße zwischen Jettingen und Scheppach voraussichtlich in einem Tunnel.
Weiter geht die blau-grüne Variante nördlich von Wettenhausen, Hochwang und Rieden nach Bibertal. Als einzige der vier Varianten verläuft die blau-grüne Trasse süd- lich von Schneckenhofen und Kissendorf. Im Landkreis Neu-Ulm würden die Züge auf dieser Variante den Ort Steinheim in einem großen Bogen nördlich umfahren und die Stelle passieren, an der die B10 und die A7 aufeinandertreffen, und anschließend den Brandtsätter See im Norden umfahren. Um Burlafingen zu umgehen, führt die Trasse erst am Kapellenberg bei Pfuhl auf die Bestandsstrecke nach Neu-Ulm und weiter zum Ulmer Hauptbahnhof.
Die Trasse hatte lange große Zustimmung im Landkreis Augsburg erhalten, weil hier am wenigsten Einschnitte in den Lebensraum von Mensch und Tier erwartet wurden. Außerdem erhofften sich viele, dass die Bahnhöfe entlang der Strecke barrierefrei ausgebaut werden würden. Als dann aber klar wurde, dass in Diedorf und Neusäß Häuser abgerissen werden und in Westheim Teile des Friedhofs der Trasse weichen müssten, war das Entsetzen groß.
Die im Februar 2020 vom Kreistag verfasste Resolution, in der sich die Kommunen des Landkreises Augsburg mit Ausnahme von Gessertshausen für den Ausbau der Bestandsstrecke ausgesprochen hatten, begann zu bröckeln. Diedorf stieg schließlich aus, denn hier wird befürchtet, dass Teile des Unterdorfes für die blau-grüne Trasse verloren gehen würden. Die Diedorfer Bürgerinitiative „Sag nein zum Kreistagsbeschluss“hatte die Argumente für diesen Schritt auf den Tisch gelegt. Als die Resolution vor zwei Jahren gefasst wurde, habe noch niemand gewusst, was jetzt bekannt ist. Ursprünglich sahen die Vorgaben für das Planungsteam der Bahn anders aus. Lange war von einem dritten Gleis zwischen Augsburg und Dinkelscherben die Rede und von geringeren Höchstgeschwindigkeiten, die andere Kurvenradien und Steigungen zugelassen hätten.
Nun droht der Bahnausbau, der sich zuerst am Deutschlandtakt orientiert, zur Zerreißprobe für den Landkreis Augsburg zu werden. Während Autobahnanrainer wie Adelsried oder Zusmarshausen am Ausbau der Bestandsstrecke und der Resolution festhalten wollen, wachsen im westlichen Landkreis die Zweifel daran. Der Augsburger
Martin Sailer hatte sich zuletzt im Dezember öffentlich dazu geäußert: „Für den Ausbau der Strecke Augsburg-Ulm sind derzeit bekanntlich verschiedene Varianten des Trassenverlaufs im Gespräch. Bislang habe ich mich noch für keine der Optionen ausgesprochen, da sie in den Details noch zu unkonkret sind und in den kommenden Wochen mit allen Beteiligten diskutiert werden müssen. Eine wirklich informierte Entscheidung wird aus meiner Sicht frühestens im Frühjahr möglich sein.“Auf Anfrage der Redaktion teilte die Pressestelle des Landratsamtes mit, dass der Sachstand bis jetzt noch der Alte sei. Der Leiter des Bahnprojekts, Markus Baumann, hatte in einem öffentlichen Webcast betont, dass einer Resolution eines Kreistages durchaus
Gewicht eingeräumt werde. Rechtlich bindend sei sie aber nicht.
Die Stadt Neusäß erklärte in dieser Woche, dass die Resolution von 2020 aufgrund der heute bekannten Planungsvarianten keine ausreichende Grundlage mehr besitze. Sie müsse fortgeschrieben werden. Neusäß begrüßte hingegen eine neue Resolution, die die Augsburger Oberbürgermeisterin Eva Weber gemeinsam mit den Landräten aus Neu-Ulm, Günzburg und Augsburg auf den Weg gebracht hatte. Thorsten Freudenberger, Hans Reichhart und Martin Sailer bekennen sich darin gemeinsam mit der Augsburger Oberbürgermeisterin ausdrücklich und grundsätzlich zum Ausbau der Bahnstrecke zwischen den schwäbischen Metropolen. Sie fordern aber einen MehrLandrat wert für die Region. Zudem müsse der Ausbau so verträglich wie möglich für die Anrainer gestaltet werden. Die Planer würden die Kostenoptimierung vor die Belange der künftigen Anlieger der Bahntrasse stellen, bemängeln Landräte und Oberbürgermeisterin.
Vorabendstimmung in JettingenScheppach, die Sonne geht gerade unter. Eigentlich ist es auf dieser Wiese bei der Bahnhofstraße ruhig und idyllisch. Auf einmal ein Zischen, dann ein hämmerndes Geräusch – ein langer Güterzug rauscht vorbei. Hermann und Lukas Rott sind das gewohnt. Die Familie wohnt eigentlich schon immer in der Bahnhofstraße nahe der bestehenden Gleise. „Beim Bahnwirt“sagt man in Jettingen auch umgangssprachlich zum Haus der Familie, das seit 1864 dort steht. Lukas Rott, 21 Jahre alt und Student, wohnt sozusagen in sechster Generation in Jettingen-Scheppach. Auch er ist „mit dem Zug“aufgewachsen. Wenn es als Kind vielleicht noch aufregend und spannend war, in aller Frühe die Bahn am Fenster vorbeirauschen zu sehen, ist es heute vielleicht eher nervig. Oder? „Man hat sich komplett daran gewöhnt“, sagt Rott junior. „Klar hört man die Züge – aber man nimmt es gar nicht mehr so wahr.“Noch mehr Lärmbelastung und womöglich jahrelange Bauarbeiten und einen Tunnel unter dem eigenen Zuhause – das wäre aber auch ihm zu viel.
Es könnte jedoch Realität werden für Familie Rott und viele andere Bewohnerinnen und Bewohner von Jettingen und Scheppach. Wenn sich Bahn und Politik für diese Erweiterung der Bestandsstrecke entscheiden.
Auch Altbürgermeister und Organisator der „Initiative Bahnprojekt Jettingen-Scheppach“, Hans Reichhart, ist an diesem Nachmittag dazugekommen. Er zeigt, wie seine Heimat von der blau-grünen Trasse zerschnitten werden könnte. „Mit der grünen Variante trennt man Jettingen und Scheppach komplett voneinander ab“, sagt er.
Genau zwischen den Ortsteilen würde die Strecke verlaufen: Querfeldein über Wiesen, unter Wohnhäusern hindurch und weiter Richtung Freihalden in den Wald. Reichhart ist es wichtig zu betonen, dass die Initiative das Bahnprojekt nicht stoppen wolle: „Wir sind keine Verhinderer. Es ist notwendig, dass dieser Flaschenhals auf der Strecke zwischen Paris und Budapest beseitigt wird. Auch für unseren Nahverkehr ergeben sich dadurch Möglichkeiten. Man muss nur schauen, dass die Belange von den Menschen vor Ort, die der Natur und Wirtschaft sowie der Landwirtschaft mit einbezogen werden.“Kein ausreichender Lärmschutz und das Zerschneiden der Rechtlerwälder Scheppach/Freihalden könne für die Initiative aber nicht hingenommen werden.
Jettingen-Scheppachs Bürgermeister Christoph Böhm versteht die Belange seiner Bürgerinnen und Bürger. Seine Resolution zum Bahnausbau verschickte er an einen großen Verteiler, darunter Ministerpräsident Markus Söder, die Bauministerin und viele weitere Kommunalpolitikerinnen und -politiker. Fest steht für den Markt: Blau-grün gefährdet nicht nur die Trinkwasserversorgung und den Hochwasserschutz, sondern würde auch viele Zukunftsprojekte verhindern.
Für das Gebiet an der freien Fläche bei der Messerschmittstraße gebe es bereits einen Bebauungsplan. Um den Ort für jüngere Generationen attraktiv zu machen, würde man die freie Fläche gerne für eine Schule nutzen, für dieses Gebiet gebe es bereits einen rechtsgültigen Bebauungsplan. Auch die Firma Cancom im Industriegebiet könnte sich vielleicht in Zukunft vergrößern wollen, meint Böhm. Aber wohin, wenn kein Platz mehr ist? Böhm befürchtet außerdem: „Durch ein neues Überleitungsgleis auf die Bestandstrecke müsste der Sportplatz in Scheppach weichen.“Sorgen mache er sich auch um das Erlenbachtal, welches durch den vorgesehenen Trassenausbau zerstört werde. Auch der geplante Pendlerparkplatz am Bahnhof Jettingen-Scheppach wird erstmal auf unbestimmte Zeit verschoben, da die Bahn aktuell ihren Teil des Grundes nicht an den Markt verkaufen will.
„Scheppach wäre mit dieser Variante regelrecht eingekesselt. Von Norden die Autobahn, im Westen die Bestandsstrecke und im Süden dann der Neubau“, sagt der Bürgermeister. Das müsse nicht sein. Die türkise (die schnellste Variante) und orange (die Gleise entlang der Autobahn) wären am verträglichsten für die Region, beschloss der Markt Jettingen-Scheppach in seiner Resolution.
Auch die Gemeinde Kötz bleibt dabei: Die blau-grüne Trassenvariante südlich von Kötz wird abgelehnt. Das wurde bei einer Gemeinderatssitzung im Januar, bei der Vertreter der Bahn anwesend waren, festgelegt. Im Landkreis NeuUlm verläuft die blaugrüne Variante ein Stück entlang der B10 und macht dann einen Bogen und führt nördlich an Remmeltshofen, Kadeltshofen und Raunertshofen vorbei. Der Markt Pfaffenhofen an der Roth, zu dem diese drei Ortsteile gehören, positionierte sich im Sommer: Aus Gründen des Natur- und Landschaftsschutzes lehnt er eine Trassenführung durch das Rothtal sowie durch die Täler des Osterbachs und der Biber ab. Es bleibt die Frage, wohin mit dem ICE?