Augsburger Allgemeine (Land Nord)
Francesca Melandri: Alle, außer mir (89)
MStellen Sie sich vor: Eines Tages steht vor Ihrer Tür ein junger, dunkel häutiger Flüchtling, der begründet behauptet, Enkel Ihres Vaters zu sein. Was wird nun passieren? Ein Szenario, hier – nicht ohne Sarkasmus – in einer römischen Familiengeschichte über drei Generationen hinweg durchgespielt. © 2018 Verlag Klaus Wagenbach, Berlin
ehr als jedes Wappen und jeder Adelstitel waren sie die Reliquie seiner Revanche gegen die Militäreliten, die ihn ein Leben lang als minderwertig erachtet hatten. Der Beweis, dass das Blut in seinen Adern als Neu-Markgraf nicht weniger edel war als das der Nachkommen von Päpsten. Im Gegensatz zu ihnen, die immer in der Etappe gelegen hatten, hatte er sein Blut für das Vaterland vergossen.
Der Name, den Graziani dem großen, unpassenderweise einem Schweizer Chalet nachempfundenen Haus in der Mitte des Landguts gegeben hatte, war hingegen ganz unspektakulär: Villa Schneewittchen. Auf einer Säule neben dem Eingangstor war auf einer Keramikkachel die Zeichentrickprinzessin abgebildet, die man auf der ganzen Welt kannte. Viele hielten sie für eine Hommage an seine Frau, die Graziani immer noch sehr liebte. Ihre blasse Haut und das rabenschwarze Haar verliehen Markgräfin Ines tatsächlich eine gewisse
Ähnlichkeit mit der Disney-Prinzessin. Doch war dies nicht der Grund, warum der Markgraf sich den Film immer wieder angeschaut hatte - mit ihr, mit der Tochter, mit beiden zusammen und auch allein –, bestimmt zehnmal. Nicht Ines erkannte der Marschall in der Prinzessin mit der weißen Haut wieder, sondern die eigene schneeweiße Uniform, bevor sie von seinem Blut getränkt wurde. Und das grausige Ende der eifersüchtigen Hexe, die vergeblich versucht hatte, sie umzubringen, bereitete ihm Freude wie das seiner eigenen Feinde. Schneewittchen war er selbst. „Mach dir keine Sorgen, ich komme zurück. Ich komme immer zurück“, hatte Attila ihr bei seiner Abreise gesagt. Doch Abeba hatte ihn nicht mehr wiedergesehen und nach neun Monaten ein Kind auf die Welt gebracht. Als sie es zum ersten Mal auf den Arm nahm, blickte das Neugeborene ihr direkt und ohne Scheu in die Augen. Es war der Blick von Bekele, und sie dachte: „Wo du wohl gerade bist, mein Bruder, wie es dir wohl geht?“Ob der Sohn ihrer Eltern wohl lebte – ob man überhaupt in der Gehenna von Nokra überleben konnte –, oder der Tod ihn von seinen Qualen erlöst hatte. Abeba ehrte ihren Bruder, indem sie dem Baby einen Namen gab, den es als Vorbild tragen würde. Sie nannte es Ietmgeta – „ich bin edel überall“.
Ietmgeta war sehr hellhäutig, als flösse in seinen Adern ausschließlich talian-Blut. Abeba hoffte. Wie viel besser wäre sein Leben, wenn er als weiß gelten würde! Doch nach wenigen Tagen begann sich die Haut hinter seinen Öhrchen, zart und rund wie Hibiskusblüten, dunkler zu färben. Dann auf der Stirn, den Beinen, dem Rücken. Nach wenigen Wochen hatte das Baby am ganzen Leib die Farbe von der Erde nach einem Regen. Nur die Hand- und Fußflächen waren noch so rosa wie kurz nach der Geburt.
Und doch war Abeba überzeugt, dass Attila auf seinen Sohn stolz gewesen wäre. Er hätte ihn auf den Arm genommen und ihm seinen Vaternamen gegeben, damit er vollständig hieße: Ietmgeta Attilaprofeti. Ihr hätte er ein silbernes Armband geschenkt, wie es die neuen Väter aus Glück tun. Sie musste ihm nur mitteilen, dass er geboren war. Richter Carnaroli trank wie jeden Morgen, bevor er das Gericht betrat, einen Caffé Macchiato in dem Cafè neben dem neuen Gebäude der Hauptpost. Wären dort nicht die unzähligen Abessinier gewesen, die Säcke auf den Köpfen trugen, bunte Kleider über den dünnen Leibern, hätte dies genauso gut eine Straße in den vom Faschismus gegründeten Städten in Italien sein können – Sabaudia, Littoria, Pomezia. Denn das sollte Addis Abeba dem Grunde nach werden: die Gründungsmetropole des neuen Imperiums. An dem schmiedeeisernen Tischchen sitzend verspürte der Richter aber nicht das geringste Interesse an Terrazzostufen, an kleinen gusseisernen Balkonen oder den abgerundeten Wänden des italienischen Rationalismus, verkleidet mit Kachelmosaik. Er war in die neueste Ausgabe von Das Recht im Faschismus vertieft, und was er da las, war aufwühlend.
Bastarde. So bezeichnete die Zeitschrift Mischlinge. Treulos und gefährlich wie Juden. Immer unzufrieden und gekränkt, also von Natur aus schlecht. Die Quintessenz des Unreinen, denn das Halbblut bringt die klare Hierarchie der menschlichen Rassen durcheinander und sät das Chaos. Jetzt erklärte auch das Recht sie zu Ausgestoßenen,
bestrafte ihre Väter, die Mitleid mit ihnen empfanden, und zwang sie, die Mütter zu verlassen. Als handelten die italienischen Männer in den Kolonien – was das Produkt ihrer Testikel betraf – nicht ohnehin schon ausreichend nach dem Motto des Duce: „Me ne frego – da pfeif ich drauf“.
Artikel 3, Gesetz 882 vom 13. März 1940: Der Mischling kann nicht von dem Elternteil mit italienischer Staatsangehörigkeit anerkannt werden. Dem Mischling darf nicht der Nachname des Elternteils mit italienischer Staatsangehörigkeit gegeben werden.
Artikel 5: Der Unterhalt, die Erziehung und die Bildung des Mischlings sind komplett und ausschließlich Aufgabe des eingeborenen Elternteils. Aber nein, sagte sich der Richter ärgerlich. Clara Carnaroli – so hieß seine Tochter. Den Nachnamen des Vaters konnte ihr niemand mehr nehmen. Gerade noch rechtzeitig hatte er ihn ihr legal gegeben, kurz vor Erlass der Rassengesetze. Die Lippen des Richters verzogen sich in bitterer Zufriedenheit. Ja, er hatte gewonnen, aber zu welchem Preis. Er hatte seine Tochter jahrelang nicht gesehen. N. N. hingegen … ihr ja, ihr hatten sie den Namen entziehen können.
Auch er war dazu übergegangen, sie so zu nennen, die wenigen Male, wenn er an sie zu denken wagte. Wie in Claras Zeugnissen, die seine Verwandten ihm jedes Trimester aus Rom schickten. Religion: sehr gut. Rechnen: gut. Zeichnen und Schönschrift: gut. Geschichte und faschistische Kultur: sehr gut. Hygiene und Körperpflege: sehr gut. Bestätigt wird der Besuch von Klasse 4 der Grundschule von Carnaroli, Clara, Tochter von Ascanio und N. N.
„Deine Mamma ist gestorben, Clara“, hatten ihr die Verwandten in Italien gesagt, als sie sie bei sich aufnahmen. Ihm hatte das nicht gepasst, und er wäre vorher lieber gefragt worden. Doch nun musste er zugeben: Sie hatten Recht. Es gab keinen Grund, in ihr die Sehnsucht nach einer Mutter zu wecken, die sie nie wiedersehen würde. Im Gegenteil, es wäre grausam. Ob sie lebte oder tot war, was interessierte das den italienischen Staat? Gar nicht. Die Mütter mit dem falschen Blut haben keinen Namen, sie sind tot, obwohl sie leben. Seiner Tochter hatte er durch die Anerkennung, nur wenige Jahre bevor es verboten wurde, die italienische Staatsangehörigkeit gesichert. N. N. hatte er nicht retten können vor den Abgründen eines Lebens als Native.
Er wischte sich eine Spur Kaffee von den Lippen und sah auf.