Augsburger Allgemeine (Land Nord)
Als Martin Walser mal mit Habermas durch die Lüfte flog
Unermüdlich, dieser Schriftsteller: Anlässlich seines 95. Geburtstags gibt er in Buchform einige seiner Träume preis.
Von Martin Walser wird man nur in sehr spezifischem Sinne behaupten wollen, dass es ruhig um ihn geworden sei. Gewiss, die Zeiten der scharfen Zwischenrufe und aufgeregten Debatten dürften vorüber sein. Dass er sich nicht mehr so einmischt wie früher, daran hat natürlich Corona seinen Anteil – und sicher auch die Mühsal des hohen Alters. Doch in seinem ureigenen Metier ist der 1927 geborene Autor vom Bodensee nach wie vor präsent, mehr als viele deutlich jüngere seiner Kollegen: Von Walser ist noch so gut wie alle Jahre ein neues Buch erschienen, und da macht auch das laufende Jahr keine Ausnahme.
Und nach wie vor sind er und sein in über 70 Jahren entstandenes Riesenwerk auch von Interesse für Autoren, die sich schreibend davon herausgefordert fühlen. Zu ihnen gehört der Theologe und Publizist Michael Albus, der im Sommer 2019 als Gast von Walser in dessen Haus ein Gespräch über zwei Tage hinweg geführt hat, das nun unter dem Titel „Lieber träumen wir alles, als dass wir es sagen“in Buchform erschienen ist. Wer einigermaßen informiert ist über Walsers Lebenslauf, seine Themen und Bücher, wird aus diesem Dialog nichts grundstürzend Neues erfahren, zumal das von Martin Walser und Jakob Augstein vor fünf Jahren unter dem Titel „Das Leben wortwörtlich“veröffentlichte Gespräch ungleich ergiebiger war. Und doch vermittelt Michael Albus’ Interview einen Eindruck von der staunenswert anhaltenenden intellektuellen Beweglichkeit des Schriftstellers in biblischem Alter. Etwa wenn Walser auf eine entsprechende Aufforderung nicht einfach „Rückblick“auf seinen Leben halten mag, sondern darauf besteht, nichts anderes als „Rückblicksblitze“bieten zu können, spontan Aufsteigendes statt kalkulierter Zusammenfassung.
Vermittelt hatte das Treffen Arnold Stadler, seit langem eng befreundet mit Walser. Der Schriftstellerkollege, der auch selbst an den beiden Tagen in Nußdorf anwesend war, hat das Buch dann auch um einen Essay „zu Leben und Schreiben Martin Walsers“ergänzt. Glücklicherweise fühlt auch er sich nicht zur großen Bilanz aufgelegt, sondern gibt dem privaten Walser in seinem Haus am See und umgeben von seiner Frau Käthe und den Töchtern viel Raum. Dennoch schlägt Stadler kenntnisreich Schneisen zu Walsers Texten, zu seinem Schreibprozess, seinem Sichten von „Präfiguriertem“in den Tagebuchnotizen, die oftmals den Keim bilden für eigene Titel in Walsers Spät- und Spätestwerk.
So wie jetzt „Das Traumbuch“, Walsers jüngster Streich, aus aufgeschriebenen Träumen aus zweieinhalb Jahrzehnten schöpft. Auch wenn das Geträumte keineswegs weitschweifig, sondern als konzentriertes Notat auf höchstenfalls einer halben Buchseite Platz findet, mag man sich zunächst wundern, weshalb ein Schriftsteller unumwunden allzu Persönliches preiszugeben bereit ist. Doch nicht ohne Grund hat Walser über sein „Traumbuch“den Vers des bewunderten Hölderlin vorangestellt: „O ein Gott ist der Mensch, wenn er träumt, ein Bettler, wenn er nachdenkt“– am saftigen Material, das die Bilder der Nacht zu liefern imstande sind, kann ein Schriftsteller wie Walser nun eben mal nicht vorbei. Für das Buch hat die Künstlerin Cornelia Schleime alte Bodensee-Postkarten übermalt, die dem Buch jeweils ganzseitig mitgegeben wurden und so eine assoziativ begleitende Bildspur zu den Walser-Träumen darstellen.
Es sind Träume, wie sie wohl jeder von sich kennt: Träume vom Versagen, von unmöglichen Taten, von Todesangst und von entgrenzter Lust. Walser notiert alles ungerührt und in gewohnter Wortpräzision. Doch da ihm, wie er bekennt, die Notwendigkeit einer Deutung von Träumen nicht einleuchten will, verzichtet er auf alle weitergehenden Einordnungen der mal mehr, mal weniger skurrilen Nachtgebilde. Bekannte Namen treten auf und tun Verrücktes, mit Habermas fliegt Walser durch die Lüfte, Grass dichtet er einen neuen Roman an (Titel: „Tod im Odenwald“), „Siegfried“taucht mehrfach auf und ist natürlich als Unseld zu denken. Dass Reich-Ranicki sich in Walsers Schlaf hineinschleicht, hat man schon immer vermutet, mehr überrascht Joachim Kaiser, der „in einer
Baumwollturnhose“auftritt und „sexuelle Absichten“hat.
Auch als Traumdeutungsverächter weiß Walser natürlich (und erwartet es gewiss von seinem Publikum), dass solch ein Nachtgespinst nicht als etwas real Gedachtes zu verstehen ist. Wozu obendrauf kommt, dass das literarische Ich – wozu auch der träumend „ich“sagende Walser gehört – nicht vorschnell mit dem Autor gleichzusetzen ist. Erwähnt werden muss noch, dass auf der letzten Seite ein „Dank“an Alexander Fest für „die Auswahl und Anordnung“der Texte festgehalten ist. Die erfahrene Verlegerhand, die da zielsicher hineingegriffen hat in dessen Traumfundus, wird den an diesem 24. März 95 Jahre alt werdenden, nimmer schreibmüden Martin Walser doch nicht auch noch von Rowohlt zu dtv mitnehmen wollen?
Martin Walser: Lieber träumen wir alles, als dass wir es sagen. Ein Ge spräch mit Michael Albus. Mit einem Essay von Arnold Stadler. Patmos, 224 S., 25 ¤
Martin Walser, Cornelia Schleime: Das Traumbuch. Postkarten aus dem Schlaf. Rowohlt, 144 S., 24 ¤