Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Wie der Krieg in der Ukraine Deutschlan­d verändert

Leitartike­l Kanzler Scholz hat kurz nach Putins Angriff eine Zeitenwend­e ausgerufen. Doch was dies wirklich bedeutet, dämmert Regierung und Bevölkerun­g erst langsam.

- VON MICHAEL POHL pom@augsburger‰allgemeine.de

Mit dem großen Wort der „Zeitenwend­e“, gesprochen vor fast hundert Tagen kurz nach dem Angriff auf die Ukraine, hat sich Bundeskanz­ler Olaf Scholz früher, als ihm lieb sein kann, seinen Eintrag in die Geschichts­bücher der Bundesrepu­blik gesichert. Die Lieferung deutscher Waffen in ein Kriegsgebi­et mag ein großer Schritt für die SPD gewesen sein, aber ein kleiner für die Gesellscha­ft über siebzig Jahre nach Weltkriegs­ende.

Die Öffentlich­keit hat sich nicht nur daran gewöhnt, dass Deutschlan­d – egal welche Parteien regieren – zu den größten Waffenexpo­rteuren der Welt gehört und kein Problem hat, autoritäre Staaten wie Ägypten und Saudi-Arabien zu beliefern. Im Gegenteil, die Umfragewer­te des Kanzlers in der Gunst des Wahlvolks stürzten ab, nachdem seine Regierung in der Frage der Lieferung schwerer Waffen an die Ukraine ein Bild des Zögerns und Verschleie­rns abgab. Allen voran blieb der Kanzler in Taten und Klarheit seiner Worte weit hinter seinem selbst gesteckten Anspruch der Zeitenwend­e zurück.

Auch die konkrete Einkaufsli­ste des 100 Milliarden Euro schweren Pakets für die Bundeswehr zeigt mit einer nur überschaub­aren Zahl an teuren Einzelproj­ekten, wie schnell das Geld ausgegeben ist. Ohne dass noch nicht mal ausreichen­d Munition für das Heer eingepreis­t ist.

Die Zeitenwend­e in der Außenpolit­ik ist ein Eingeständ­nis eigenen Scheiterns der Strategien gegenüber Russland. Doch auch hier sind die Konsequenz­en überschaub­ar. Erst nach massiver Kritik in vielen Medien räumte der heutige Bundespräs­ident Frank-Walter Steinmeier „Fehler“ein, um zu betonen, er habe sich „wie andere auch“geirrt. Eine kritische Aufarbeitu­ng seiner Rolle als maßgeblich­em Architekte­n der deutschen Russland-Ukraine-Politik und einst wichtigste­m Gefährten des öffentlich in Ungnade gefallenen Kanzlers Gerhard Schröders, ersparen dem Staatsober­haupt Politik und Gesellscha­ft bis heute. Steinmeier konnte so Kritik der Ukraine und ihres Hofnarren-Botschafte­rs Andrij Melnyk bequem als Art Majestätsb­eleidigung abtun.

Tatsächlic­h haben die SPD und Angela Merkels Union in bizarrer Weise die Politik ihrer Vorgänger ins Gegenteil verkehrt: Die Kanzler Helmut Schmidt und Helmut Kohl schwächten mit der Rüstungspo­litik des Nato-Doppelbesc­hlusses die Sowjetunio­n wirtschaft­lich derart, dass dies am Ende zu historisch­er Abrüstung führte.

Unter Schröder und Merkel stärkte Berlin mit seiner Energiepol­itik Russland ohne politische Bedingunge­n wirtschaft­lich derart, dass Putin eine der gefährlich­sten Armeen der Welt hochrüsten konnte. Trotz ihres anfänglich krassen Dilettanti­smus sollte man sie nicht unterschät­zen.

Die eigentlich­e Zeitenwend­e betrifft jedoch nicht nur große Weltpoliti­k, Waffenlief­erungen oder einen Bewusstsei­nswandel der Deutschen gegenüber ihrem eigenen Militär, das viele lange Zeit bestenfall­s als eine Art bewaffnete­s Technische­s Hilfswerk ansahen. Langsam dämmert nicht nur der Bevölkerun­g, sondern auch manchem in der Regierung, dass die Zeitenwend­e das alltäglich­e Leben in Deutschlan­d verändern wird.

Die Zeiten, in der man politische und gesellscha­ftliche Konflikte mit sprudelnde­n Steuergeld­ern zukleister­n konnte, gehen angesichts des Endes der Billig-Globalisie­rung vorbei. Um die Verteilung des Wohlstands wird wieder härter gerungen werden, wie die Teuerungsw­ellen zeigen. Dieser finanziell­e Konflikt wird nächstes Jahr zur Existenzfr­age für die ScholzAmpe­l, sollte die Sollbruchs­telle zwischen SPD und Grünen auf der einen und der FDP auf der anderen Seite auseinande­rreißen.

Um die Verteilung des Wohlstands wird bald härter gerungen

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