Augsburger Allgemeine (Land Nord)
„Kommen die Raketen auch zu uns?“
TitelThema Zerstörte Häuser, Panzer und mit Flüchtlingen überfüllte Bahnhöfe: Die Bilder aus der Ukraine wirken vor allem auch auf viele Kinder verstörend. Wie Eltern und Lehrkräfte damit umgehen können.
Weitnau Manchmal hat auch Sebastian Danner keine Antwort. Etwa dann, wenn die Schülerinnen und Schüler seiner 3b in Weitnau im Oberallgäu wissen wollen, weshalb in der Ukraine seit Monaten Bomben auf Hochhäuser fallen. „Warum machen die Erwachsenen das?“, fragen die Kinder. „Warum lässt man zu, dass so viele Menschen sterben?“Danner ist ein politischer Mensch, sitzt im Gemeinderat, verfolgt die Nachrichten und nimmt privat an einer Online-Vorlesungsreihe zur Geschichte der Ukraine teil. Trotzdem sagt der Klassenlehrer: „In solchen Momenten fühlt man sich wahnsinnig hilflos.“Doch die Kinder wollen sprechen über den Krieg, über das Leid und die möglichen Folgen für ihre eigene Heimat – sie fragen: „Kommen die Raketen auch zu uns?“
Immer wieder interessieren sie sich dabei auch für die nukleare Bedrohung und Danner versucht, Antworten zu liefern. Er will Stabilität geben, den Kindern ein Begleiter sein. Dabei ist es täglich eine Gratwanderung. Einerseits will er die Schülerinnen und Schüler nicht verrückt machen, andererseits: beschönigen oder gar die Kinder abschotten? „Das ist nicht möglich“, sagt er überzeugt. Er müsse im Unterricht nicht erklären, welch verheerende Auswirkungen ein Atomwaffeneinsatz hätte, oder was auf den Bildern und Videos aus Butscha und Mariupol zu sehen ist. „Es reicht, wenn man weiß, dass es schlimm ist“, sagt Danner.
Ähnlich sieht das auch Michael Gurt. Er ist Medienpädagoge in München und verantwortlicher Redakteur bei Flimmo, einem Ratgeber für Eltern. „Kriegsbilder aus dem Ukraine-Krieg können Kinder emotional überfordern und massive Ängste auslösen“, sagt Gurt. Dabei könne es auch sein, dass sie ihre Ängste nicht artikulieren, aber etwa Bilder mit Bomben malen oder Krieg „nachspielen“. Das gelte vor allem im Kindergarten- und Vorschulalter, weil sich Kinder in diesem Alter noch kaum vom Gesehenen distanzieren könnten. „Die beziehen das auf sich und entwickeln Ängste um ihre eigene Familie und Freunde“, erläutert der Medienexperte. „Je jünger sie sind, desto ver
störender können die Nachrichten auf sie wirken.“
Bei älteren Kindern sei dagegen eher das Problem, dass sie über soziale Medien eigenständig auf dramatische Bilder, Propaganda und Fake News stoßen. „Falschmeldungen können Jugendliche zusätzlich verunsichern und verängstigen. Denn oft können sie nicht zwischen Fakten und Fake News unterscheiden“, sagt Dr. Anne Sartor. Sie ist Oberärztin der Klinik für Kinderund Jugendpsychiatrie am Josefinum in Augsburg. Auch hier sei es wichtig, dass Eltern mit ihnen sprechen und bei der Einordnung von Informationen helfen. Häufig ist zu
die Rede davon, wie nah der Krieg für die Menschen in Deutschland ist. Sartor sagt, dass kleinere Kinder auch hier Probleme haben, diese Nähe richtig einzuordnen. „Die haben sehr feine Antennen.“Sie verstünden unter Umständen nicht, dass der Krieg nicht in ihrer unmittelbaren Umgebung stattfindet. „Dies kann Unsicherheiten im Alltag sowie Ängste verstärken und zu einer emotionalen Belastung führen.“
Gurt und Sartor raten beide dazu, Kinder im Umgang mit den Nachrichten zu begleiten – mit Bedacht und in kindgerechter Sprache. „Wenn der Krieg zum Thema wird,
ist es wichtig, auf ihre Fragen einzugehen und sie mit ruhigen, einfachen Worten zu beantworten, ohne zu dramatisieren“, sagt Gurt. „Es ist wichtig, Kindern Geborgenheit zu geben und selbst Ruhe und Stabilität auszustrahlen.“Auch die Psychotherapeutin warnt vor zu viel Emotionalität. „Elterliche Ängste und Sorgen können sich auf Kinder übertragen“, führt Sartor aus. Gerade in Familien, die eh schon unter der Pandemie und finanziellen Einschränkungen gelitten haben, könne der Krieg diese Gefühle noch verstärken. Doch der Impuls müsse dabei von den Kindern ausgehen, ihnen sollten die Erwachsenen zuhödem ren und nur über das sprechen, was sie beschäftigt.
Ab dem Grundschulalter schlägt Medienexperte Gurt vor, mit den Kindern gemeinsam, also mit Eltern oder anderen Bezugspersonen, auf Informationssuche zu gehen. Geeignet dafür seien spezielle Kindernachrichten im Fernsehen oder in der Zeitung. Sebastian Danner und die 17 Kinder der Klasse 3 b in Weitnau schauen zwei- bis dreimal die Woche „logo!“auf dem Kindersender KiKa und sprechen im Anschluss darüber.
Gerade zu Kriegsbeginn wurde in den jeweils knapp zehnmütigen Sendungen häufig zu Ukraine-Themen berichtet – zu Geflüchteten, die Nato, was Kriegsverbrechen sind oder auch wie Berichterstattung im Krieg funktioniert. Mittlerweile haben nicht nur dort andere Themen wie der Klimawandel, die Situation der Uiguren oder die Waffengesetze in den Vereinigten Staaten den Ukraine-Krieg wieder etwas überlagert. „Die Zusammenhänge werden in den Kindernachrichten dort anschaulich in kindgerechter Sprache erklärt, drastische Details und blutige Bilder aber ausgespart“, sagt Medienexperte Gurt. In Danners Klasse sollen die Kinder dann zu den jeweiligen Sendungen Überschriften formulieren und sich Fragen überlegen. „Manchmal sind dann alle Finger oben, das dauert schon mal 30 Minuten“, sagt Danner.
Wenn wieder einmal die Frage „Wann hört das endlich auf?“kommt, müsse Danner den Kindern schon einmal klarmachen, dass sie an der jetzigen Situation nichts ändern können. Gelegentlich nutzt er den Krieg auch, um über zwischenmenschliche Konflikte zu sprechen. Etwa, dass Streitereien auf dem Pausenhof mit Gesprächen lösbar sind und nicht mit Prügeleien. Sartor schlägt vor, im Gespräch mit den Kindern nicht nur Negatives zu betonen, sondern auch über die internationale Solidarität zu sprechen und sich etwa bei Spendensammlungen oder an Schulaktionen zu engagieren. „Das kann dazu beitragen, dass bei den Kindern ein gutes Gefühl entsteht, da sie durch ihre Unterstützung den betroffenen Menschen helfen.“
Auch in der 3 b in Weitnau haben sie gemeinsam Friedenstauben gebastelt und machen regelmäßig Sammlungen. „Das beste Gefühl haben sie, wenn Kinder aus anderen Ländern in die Klasse kommen und sie ihnen beim Ankommen und Einleben helfen und Freunde sein können“, sagt Danner.