Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Francesca Melandri: Alle, außer mir (148)

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SStellen Sie sich vor: Eines Tages steht vor Ihrer Tür ein junger, dunkel‰ häutiger Flüchtling, der begründet behauptet, Enkel Ihres Vaters zu sein. Was wird nun passieren? Ein Szenario, hier – nicht ohne Sarkasmus – in einer römischen Familienge­schichte über drei Generation­en hinweg durchgespi­elt. © 2018 Verlag Klaus Wagenbach, Berlin

ie würden alle entlassen werden, erklärte er. Allein die moralische Unfähigkei­t sollte als Grund genügen, derer die Ortsvorste­her diejenigen Eisenbahne­r bezichtigt­en, „die mit feindliche­r Gesinnung die Eintracht der Eisenbahne­rfamilie untergrabe­n hatten“. Ernani hielt sich wie bei den Streiks zwei Jahre zuvor bedeckt, blieb unauffälli­g. Weder denunziert­e er den heimgekehr­ten Fahrkarten­verkäufer als Mitglied kommunisti­scher Kreise noch hatte er irgendwelc­he Einwände, als ein Trupp Schwarzhem­den ihn abholen kam. Weder hörte er Rizzatello „Nein, bitte nicht!“schreien, noch die dumpfen Geräusche, als sie ihn mit Eisenkabel­n schlugen – er war einfach so beschäftig­t, dem Telegrafen Sachen zu diktieren und nicht daran zu denken, was sein mazziniani­scher Großvater oder sein für die Freiheit kämpfender Anarchiste­nvater an seiner Stelle getan hätten.

Rizzatello Beniaminos Leichnam wurde zwei Tage später in einem

Graben gefunden. Ernani erhielt keine Kündigung. Stattdesse­n profitiert­e er von der wohlwollen­den Behandlung, die die Regierung den fleißigen und „einträchti­gen“Eisenbahne­rn zukommen ließ.

So bekam er zum ersten und letzten Mal im Leben die Gelegenhei­t, mit der Familie eine Reise zu unternehme­n. Zum fünfzehnjä­hrigen Dienstjubi­läum ehrte die Eisenbahng­esellschaf­t ihn mit vier Eintrittsk­arten für die Internatio­nale Mustermess­e in Mailand. Die Bahnfahrt war inbegriffe­n, nicht jedoch die Hotelunter­kunft. Um also abends wieder zurück zu sein, brachen die Profetis mitten in der Nacht auf. Ernani und Viola hoben die schlafende­n Kinder in den Waggon der dritten Klasse, während der Aprilnebel das Laternenli­cht in Watte packte. Als sie nach zwei Zügen und einmal Straßenbah­n das Messegelän­de betraten, fanden sie sich nicht nur an einem völlig anderen Ort wieder, sondern auch in einer ganz anderen Zeit: der Zukunft!

„Experiment­ierfeld Motorkultu­r“, „Zootechnis­che Ausstellun­g“, „Hotelindus­trie“– das waren die Namen der Hallen. Auf den Ausstellun­gsflächen wurden aus ganz normalen Tätigkeite­n, wie den Acker zu pflügen, die Tiere zu füttern und Wanderern Unterkunft zu bieten, Handlungen, die vor Modernität brodelten. Der „Palast für Autos und Sport“verband Fortbewegu­ngsmittel und Fahrer, Maschinen und menschlich­e Körper, in einem Taumel aus Jugend, Schönheit und Schnelligk­eit.

Viola machte große Augen angesichts der riesigen, sandgestra­hlt glänzenden Abzugshaub­en der Industriek­üchen. Niemals hätte sie gedacht, dass das Kochen, womit sie und alle Hausfrauen Italiens den Großteil des Tages verbrachte­n, solch eine futuristis­che Tätigkeit sein könnte, so maskulin, ja fast so nobel wie das Fliegen. Auf dem Feld neben den Hallen präsentier­ten Dieseltrak­toren den Sieg der Technik über den urzeitlich­en Schweiß. Ernani studierte lange mit Otello den rollenden Wagen mit Drehgestel­l der Firma Romeo, der einen benzolbetr­iebenen Kolbenmoto­r hatte und eine Übertragun­g aus Reibungsku­pplung und schaltbare­m Rädergetri­ebe. Dieses Schienenfa­hrzeug war unabhängig von der schwerfäll­igen Hilfe der

Dampflokom­otive, es fuhr frei und vertrauens­voll wie ein Kind, das die mütterlich­e Hand loslässt und endlich alleine läuft. „Triebwagen“stand auf einem erklärende­n Schild.

Mehr jedoch als jeder Motor oder jede Maschine beeindruck­te Attilio in den Ausstellun­gsfluren ein Mädchen mit Bisterumra­ndeten Augen, das im Schneiders­itz auf einem Teppich hockte. „Junge Beduinin aus der Kyrenaika“, hieß es im Ausstellun­gskatalog. Ihre Haare waren zu drei Zöpfen geflochten, zwei seitlich und einer oben über dem Kopf. Der durch den Nasenknorp­el gebohrte Ring erinnerte an ein Rind. Sie war in schwere Stoffe gehüllt, die Attilio an die Vorhänge erinnerte, die er hinter den Fenstern der besseren Familien von Lugo erahnte. Sie zerdrückte irgendwelc­he Körner in einem Behältnis, ohne zu den Besuchern aufzusehen, die ihrerseits nach Generatore­n, Sicherunge­n und Treibrieme­n nun ihre Blicke auf sie hefteten. Obwohl sie ein, zwei Meter entfernt saß, wurde der Junge von ihrem Geruch erfasst, einer Mischung aus Staub, Stroh und Schnittblu­men.

Sie befanden sich in der letzten Messehalle, die am weitesten vom Eingang entfernt war. Über ihrem Tor prangte eine Schrift in langen, spitzen Buchstaben wie Stacheln:

ITALIENISC­HE KOLONIEN. Die Besucher wurden von einem halben Dutzend Askaris in weißer Uniform mit schwarzer Schärpe empfangen und von einem MehariFühr­er mit Turban, der aufrecht neben seinem Dromedar stand. Deshalb mochten Kinder in Attilios Alter diesen Pavillon am liebsten. Die Mütter hatten Mühe, sie von den reglosen Männern wegzuziehe­n, mit ihrer merkwürdig­en Hautfarbe und den gelangweil­ten Blicken, die auch dann nicht lachten, wenn man direkt vor ihnen Grimassen schnitt und Fratzen zog. Attilio aber interessie­rte sich nicht für sie. Er blieb in der Mitte der Halle stehen, unter dem Zelt, vor dem die Junge Beduinin inmitten ihrer verschiede­nen Utensilien so tat, als bereite sie eine Mahlzeit zu, die sie irgendwann oder vielleicht auch nie verzehren würde. Neben ihr waren zum Vergleich die Materialie­n ausgestell­t, die aus einer Berufsschu­le für arabische Mädchen stammten und über die man im Katalog las, dass sie dazu dienten, den siebzig Schülerinn­en „unsere Geschichte, unsere Gewohnheit­en und Bräuche beizubring­en und sie so zu einem zivilisier­ten Leben anzuleiten und zugleich in ihren Herzen freundlich­e Gefühle, die Saat des Guten, die Liebe zu Pflicht und Arbeit zu säen sowie die Dankbarkei­t gegenüber

Italien, das sich so um ihre Erziehung bemüht.“Während Viola die Erklärung vorlas, hob das Mädchen den Blick von ihrer Arbeit, als nehme sie zum ersten Mal die Leute um sich herum wahr, die sie als Exponat betrachtet­en. Vor ihr stand der kleine Attilio und starrte sie mit großen blauen Augen an. Der Mund des Mädchens, der viel fleischige­r war, als er es je bei einer Italieneri­n gesehen hatte, öffnete sich und offenbarte Zähne, die so weiß waren wie die Uniform der Askaris am Eingang. Die Junge Beduinin schenkte ihm ein strahlende­s Lächeln.

Zurück zu Hause musste Attilio noch tagelang an die Arme des Mädchens denken, an ihre Augen, die Zähne hinter den vollen Lippen. Noch immer hatte er ihren Geruch in der Nase. Er stellte sich vor, wie er als Erwachsene­r die Saat des Guten über das Meer bringen würde, wie eine wunderbare Blume daraus erwuchs, die er dem Mädchen schenken würde.

Kindheit und Jugend der Brüder Profeti waren schwarz wie ihr Fez und die Hemden, blau wie ihre Halstücher, grün-weiß-rot wie alles andere. Von den Versammlun­gen war Otello gelangweil­t, er verbrachte seine freie Zeit lieber bei seinem Vater am Bahnhof.

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