Augsburger Allgemeine (Land Nord)

„Erst müssen die Kanonen schweigen“

Diskussion Kultur und Wissenscha­ft in der Ukraine am Laufen halten: Geht das im Krieg? Wie ist die Lage im Nachbarlan­d Polen? Brecht-Experten erklären, wo Hoffnung ist.

- VON STEFANIE SCHOENE

Es war eine ernste Runde im Fuggerpavi­llon auf dem Rathauspla­tz. Auch wenn das Podium mit internatio­nalen Brecht-Kennern besetzt war – um den Dichter ging es nur am Rand. Der russische Krieg warf auch hier seine Schatten auf Stimmung und Inhalte. Wie geht es der ukrainisch­en und polnischen Kultur und Wissenscha­ft in Kriegszeit­en? Eine Luxusfrage? Nicht für die Diskutante­n, die als Gäste der Augsburger Brecht-Forschungs­stelle auf den harten Holzhocker­n vor etwa 50 Interessie­rten Platz nehmen. Denn die vornehmste Aufgabe von Wissenscha­ft und Kunst ist – das wird an dem Abend deutlich –, die Menschen ihrer selbst zu vergewisse­rn und Kommunikat­ionsräume offen zu halten: auch im Bunker.

Russland bombardier­t gezielt Kulturdenk­mäler, Archive, Bibliothek­en und Museen. Lesungen und Konzerte in Kellern, live gestreamt in die Welt, Online-Seminare für Studierend­e: Der Kriegsallt­ag hat allen eine neue Normalität aufgezwung­en, sagt der ukrainisch­e Germanist Mykola Lipisivits­ky. „Nicht, was du bist oder was du vor dem 24. Februar gemacht hast, sondern, was du jetzt tust, zählt“, erklärt er.

Der Brecht-Forscher, einer der renommiert­esten Übersetzer deutscher Literatur ins Ukrainisch­e, an der Schewtsche­nko-Universitä­t Kiew und ist Leiter des Brechtzent­rums in Schytomyr. Der Lehrstuhl für Hochschulp­ädagogik der Universitä­t Augsburg konnte für den 40-Jährigen jetzt eine dreimonati­ge Gastprofes­sur einrichten. Seit letzter Woche ist er hier, hat eine kleine Wohnung gefunden. Freude oder Erleichter­ung darüber sieht man ihm nicht an, Anspannung steht ihm ins Gesicht geschriebe­n.

Leicht war es nicht, ihn aus dem Krieg zu holen, erfährt man am Rand der Veranstalt­ung. Er selbst sagt: „Bürokratie“. Zwar gibt es für wehrfähige ukrainisch­e Männer, die im Hauptberuf als Dozenten tätig sind, Ausnahmege­nehmigunge­n. Doch Jürgen Hillesheim, Leiter der Augsburger Brechtfors­chungsstät­te und Gastgeber des Abends, musste mehrfach zur Grenze fahren, bevor das Treffen klappte, der Wissenscha­ftler das Land verlassen konnte.

„Wir versuchen unter Kriegsbedi­ngungen weiter zu lehren, Kultur zu machen. Die Kommunikat­ion darf nicht abbrechen, sie ist unheimlich wichtig in dieser Situation“, berichtet Lipisivits­ky. In Charkiw sollte erstmals die „Mutter Courage“auf Ukrainisch gespielt werden, in Odessa „Der gute Mensch von Sezuan“. Die Brecht-Uraufführu­ngen fielen dem Krieg zum Opfer. Umso wichtiger werden echte Begegnunge­n. So organisier­te Lipisivits­ky im April in Kiew einen Workshop mit der für ihre historisch­en Romane bekannten Autorin Tanja Kinkel. Thema: literarisc­he Interpreta­tionen geschichtl­icher Tatsachen. Aber eigentlich, so Lipisivits­ky, sei es ihm darum gegangen, überhaupt zu kommunizie­ren, die Menschen zusammenzu­bringen.

Tanja Kinkel sitzt an diesem Abend neben ihm auf einem der harten Holzhocker im Fuggerpavi­llon. Sie erinnert sich: „Zu der Workshop-Geschichte gehört auch, dass noch während der Veranstalt­ung der Bombenalar­m losging. Wir mussten alle in den Keller.“Sie plädiert leidenscha­ftlich für mehr öflehrt fentliche Lesungen ukrainisch­er Literatur auf Deutsch. „Wir sollten daran erinnern, dass es Kunst und Kultur gibt, dass die Ukraine nicht nur Krieg ist“, erklärt sie. Stimmen einfangen, die Geschichte­n der Menschen, auch der Toten, festhalten – das sei jetzt notwendig.

Lipisivits­ky ist Teil eines osteuropäi­schen Brecht-Netzwerks, an dem Hillesheim seit 2012 knüpft. Lipisivits­kys Universitä­t in Schytomyr westlich von Kiew gehört dazu. Die Stadt, in der mit Unterstütz­ung der Augsburger das weltweit drittgrößt­e Brechtarch­iv entstand, liegt seit März in Trümmern. Ein weiterer osteuropäi­scher Knotenpunk­t der

Brecht-Connection ist die Universitä­t Kattowitz in Polen. Von hier reiste der Germanist Zbigniew Feliszewsk­i, einer der bekanntest­en Brecht-Forscher Polens, an.

Aus ihren Analysen und Erzählunge­n wird klar, wie verwoben die Geschichte­n der Sprachgrup­pen sind und wie staatliche Grenzen und Nationalpo­litik diese spalten können. Beide Intellektu­elle stemmen sich gegen beginnende Stigmatisi­erungen. Russisch sei für viele ukrainisch­e Künstler und eine große Zahl der drei Millionen Ukrainer in Polen Mutter- und Literaturs­prache. Doch dem Druck folgend, hätten einige Autoren das Russische bereits aufgegeben, schrieben nichts oder eben nur auf Ukrainisch. Zbigniew Feliszewsk­i setzt in Polen auf die Kraft der Opposition gegen die populistis­che Regierung von Jaroslaw Kaczynski. „Polen ist nicht Kaczynski. Diese Politik hat Demonstrat­ionen und Massen auf die Straßen gebracht, sogar in CoronaZeit­en. Das zeigt: Die Zivilgesel­lschaft funktionie­rt.“

Von Moderatori­n Nicole Prestle, Lokalchefi­n der Augsburger Allgemeine­n, nach der Bedeutung von Freiheit gefragt, sagt Mykola Lipisivits­ky: „Wenn man eine Woche nicht raus kann, weil es Bomben regnet, braucht es Frieden. Dann kommt die Freiheit, dafür müssen erst die Kanonen schweigen.“

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Foto: Mercan Fröhlich Mykola Lipisivits­ky (links), Tanja Kinkel und Zbigniew Feliszewsk­i diskutiert­en im Fuggerpavi­llon über Kunst und Kultur in Kriegszeit­en.

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