Augsburger Allgemeine (Land Nord)
„Erst müssen die Kanonen schweigen“
Diskussion Kultur und Wissenschaft in der Ukraine am Laufen halten: Geht das im Krieg? Wie ist die Lage im Nachbarland Polen? Brecht-Experten erklären, wo Hoffnung ist.
Es war eine ernste Runde im Fuggerpavillon auf dem Rathausplatz. Auch wenn das Podium mit internationalen Brecht-Kennern besetzt war – um den Dichter ging es nur am Rand. Der russische Krieg warf auch hier seine Schatten auf Stimmung und Inhalte. Wie geht es der ukrainischen und polnischen Kultur und Wissenschaft in Kriegszeiten? Eine Luxusfrage? Nicht für die Diskutanten, die als Gäste der Augsburger Brecht-Forschungsstelle auf den harten Holzhockern vor etwa 50 Interessierten Platz nehmen. Denn die vornehmste Aufgabe von Wissenschaft und Kunst ist – das wird an dem Abend deutlich –, die Menschen ihrer selbst zu vergewissern und Kommunikationsräume offen zu halten: auch im Bunker.
Russland bombardiert gezielt Kulturdenkmäler, Archive, Bibliotheken und Museen. Lesungen und Konzerte in Kellern, live gestreamt in die Welt, Online-Seminare für Studierende: Der Kriegsalltag hat allen eine neue Normalität aufgezwungen, sagt der ukrainische Germanist Mykola Lipisivitsky. „Nicht, was du bist oder was du vor dem 24. Februar gemacht hast, sondern, was du jetzt tust, zählt“, erklärt er.
Der Brecht-Forscher, einer der renommiertesten Übersetzer deutscher Literatur ins Ukrainische, an der Schewtschenko-Universität Kiew und ist Leiter des Brechtzentrums in Schytomyr. Der Lehrstuhl für Hochschulpädagogik der Universität Augsburg konnte für den 40-Jährigen jetzt eine dreimonatige Gastprofessur einrichten. Seit letzter Woche ist er hier, hat eine kleine Wohnung gefunden. Freude oder Erleichterung darüber sieht man ihm nicht an, Anspannung steht ihm ins Gesicht geschrieben.
Leicht war es nicht, ihn aus dem Krieg zu holen, erfährt man am Rand der Veranstaltung. Er selbst sagt: „Bürokratie“. Zwar gibt es für wehrfähige ukrainische Männer, die im Hauptberuf als Dozenten tätig sind, Ausnahmegenehmigungen. Doch Jürgen Hillesheim, Leiter der Augsburger Brechtforschungsstätte und Gastgeber des Abends, musste mehrfach zur Grenze fahren, bevor das Treffen klappte, der Wissenschaftler das Land verlassen konnte.
„Wir versuchen unter Kriegsbedingungen weiter zu lehren, Kultur zu machen. Die Kommunikation darf nicht abbrechen, sie ist unheimlich wichtig in dieser Situation“, berichtet Lipisivitsky. In Charkiw sollte erstmals die „Mutter Courage“auf Ukrainisch gespielt werden, in Odessa „Der gute Mensch von Sezuan“. Die Brecht-Uraufführungen fielen dem Krieg zum Opfer. Umso wichtiger werden echte Begegnungen. So organisierte Lipisivitsky im April in Kiew einen Workshop mit der für ihre historischen Romane bekannten Autorin Tanja Kinkel. Thema: literarische Interpretationen geschichtlicher Tatsachen. Aber eigentlich, so Lipisivitsky, sei es ihm darum gegangen, überhaupt zu kommunizieren, die Menschen zusammenzubringen.
Tanja Kinkel sitzt an diesem Abend neben ihm auf einem der harten Holzhocker im Fuggerpavillon. Sie erinnert sich: „Zu der Workshop-Geschichte gehört auch, dass noch während der Veranstaltung der Bombenalarm losging. Wir mussten alle in den Keller.“Sie plädiert leidenschaftlich für mehr öflehrt fentliche Lesungen ukrainischer Literatur auf Deutsch. „Wir sollten daran erinnern, dass es Kunst und Kultur gibt, dass die Ukraine nicht nur Krieg ist“, erklärt sie. Stimmen einfangen, die Geschichten der Menschen, auch der Toten, festhalten – das sei jetzt notwendig.
Lipisivitsky ist Teil eines osteuropäischen Brecht-Netzwerks, an dem Hillesheim seit 2012 knüpft. Lipisivitskys Universität in Schytomyr westlich von Kiew gehört dazu. Die Stadt, in der mit Unterstützung der Augsburger das weltweit drittgrößte Brechtarchiv entstand, liegt seit März in Trümmern. Ein weiterer osteuropäischer Knotenpunkt der
Brecht-Connection ist die Universität Kattowitz in Polen. Von hier reiste der Germanist Zbigniew Feliszewski, einer der bekanntesten Brecht-Forscher Polens, an.
Aus ihren Analysen und Erzählungen wird klar, wie verwoben die Geschichten der Sprachgruppen sind und wie staatliche Grenzen und Nationalpolitik diese spalten können. Beide Intellektuelle stemmen sich gegen beginnende Stigmatisierungen. Russisch sei für viele ukrainische Künstler und eine große Zahl der drei Millionen Ukrainer in Polen Mutter- und Literatursprache. Doch dem Druck folgend, hätten einige Autoren das Russische bereits aufgegeben, schrieben nichts oder eben nur auf Ukrainisch. Zbigniew Feliszewski setzt in Polen auf die Kraft der Opposition gegen die populistische Regierung von Jaroslaw Kaczynski. „Polen ist nicht Kaczynski. Diese Politik hat Demonstrationen und Massen auf die Straßen gebracht, sogar in CoronaZeiten. Das zeigt: Die Zivilgesellschaft funktioniert.“
Von Moderatorin Nicole Prestle, Lokalchefin der Augsburger Allgemeinen, nach der Bedeutung von Freiheit gefragt, sagt Mykola Lipisivitsky: „Wenn man eine Woche nicht raus kann, weil es Bomben regnet, braucht es Frieden. Dann kommt die Freiheit, dafür müssen erst die Kanonen schweigen.“