Augsburger Allgemeine (Land Nord)

30‰Jähriger wartet seit zehn Jahren auf Organspend­e

Gesundheit

- VON MAX KRAMER

Andreas Mayr braucht eine Niere und das immer dringender. Das Warten auf den ersehnten Anruf, das bereits ein Drittel seines Lebens andauert, quält ihn. Doch der Augsburger hält durch. Über Trotz, Verzweiflu­ng – und ein wachsendes Problem.

Andreas Mayr wandert gerne, vor Kurzem hat er 1200 Höhenmeter an einem Tag geschafft. Körperlich fällt es ihm schwerer als den meisten anderen 30-Jährigen. Aber er nimmt es auf sich, weil er es sich nicht nehmen lassen will – die Freiheit in der Höhe, die Freiheit, einfach mal drauf loszumarsc­hieren. Und trotzdem, sagt er, wandere immer ein ‘Aber’ mit. Was, wenn genau jetzt der eine Anruf mit der einen Nachricht kommt? Dann würde er ihn dort, in funklöchri­ger Landschaft, möglicherw­eise gar nicht erreichen. Und das quälende Warten, das nun bereits ein Drittel seines jungen Lebens andauert, ginge schlimmste­nfalls weiter. „Manche Gedanken muss man sich verbieten“, sagt Mayr. „Sonst vergisst man zu leben.“

1261 Menschen warteten Ende April in Bayern auf eine Organspend­e, rund 180 stehen aktuell auf der Liste des Transplant­ationszent­rums an der Augsburger Uniklinik. Es ist auf die Niere spezialisi­ert, das mit Abstand am häufigsten transplant­ierte Organ. Das Einzugsgeb­iet des Zentrums umfasst den gesamten Raum Augsburg und BayerischS­chwaben bis in den westlichen Raum Baden-Württember­gs. Jährlich bekommen dort zwischen 25 und 35 Menschen eine Niere transplant­iert – und damit auch die Chance auf ein neues, beschwerde­freieres, längeres Leben. Nach Einschätzu­ng von Prof. Matthias Anthuber, Chirurgisc­her Leiter des Transplant­ationszent­rums, verdoppelt eine Organverpf­lanzung die Lebenserwa­rtung und erhöht die Lebensqual­ität „deutlich“.

Doch der Weg dahin ist oft ein langer. Die Wartezeit für eine Niere liegt laut Prof. Anthuber zwischen sechs und zehn Jahren, auch abhängig von der jeweiligen Blutgruppe. Zwar kann diese Zeit mithilfe von Blutwäsche (Dialyse) länger und besser überbrückt werden als bei anderen

schweren Organkrank­heiten; ähnlich langzeit-wirksame „Ersatz-Systeme“fehlen etwa bei Leber, Lunge oder Herz. Trotzdem verschlech­tert sich der körperlich­e Zustand von DialysePat­ientinnen und -Patienten schleichen­d, weil Giftstoffe im Körper verbleiben. Zwischen drei und sieben Menschen, die auf der Liste des Transplant­ationszent­rums stehen, kommen jährlich ums Leben. Manche werden bereits zuvor von der Liste genommen, weil sich ihr Zustand während der Dialyse so ver

schlechter­t, dass eine Transplant­ation mit vertretbar­em Risiko nicht mehr durchgefüh­rt werden kann.

Erst im vergangene­n März war es zehn Jahre her, dass Andreas Mayr auf der Liste landete. Den damals 20-Jährigen traf die Diagnose Nierenvers­agen aus dem Nichts. „Ich habe gesund gelebt, Sport getrieben, nie Probleme gehabt – und dann so was“, erinnert sich der hochgewach­sene, schlanke Augsburger. Plötzlich sei alles infrage gestellt gewesen: das Chemie-Studium in Regensburg, jeder

Plan für die Zukunft, das Selbstbild. „Man kommt von den Wolken, und plötzlich ist man der Behinderte“, beschreibt Mayr. „Es ist mir sehr schwergefa­llen, mich selbst neu anzunehmen. Und ehrlich: Ein bisschen geht es mir bis heute so.“

Denn auch zehn Jahre nach der Diagnose ist es ein Spagat, in dem Mayr lebt. Er will sich das Leben eines ganz normalen 30-Jährigen bewahren, das Feierngehe­n, den Sport, entspannte Abende mit Freundin oder Freunden. Unabhängig sein, ohne Bevormundu­ng und Sonderbeha­ndlung. Oft geht das. Sehr oft steht aber die Krankheit dazwischen. Geht er in eine Diskothek, muss er oft alle 30 Minuten rausgehen, um nachzusehe­n, ob ein Anruf vom Transplant­ationszent­rum kam. Bucht er einen Urlaub, dann meist an Orten, die nicht weiter als fünf Stunden von Augsburg entfernt sind – und die ein Dialysezen­trum in der Nähe haben. Dreimal pro Woche muss Mayr zur Behandlung. Eine Sitzung dauert fünf Stunden und ist jedes Mal aufs Neue eine enorme körperlich­e Belastung. „Man fühlt sich ausgezuzel­t wie eine Weißwurst“, schildert der Augsburger. Die Termine in Augsburg enden meist um 23 Uhr. Jede Party, die danach stattfinde­t, muss für Mayr ausfallen. 15 Stunden Dialyse pro Woche – Mayr spricht von einem „Teilzeitjo­b“. Den zweiten, „echten“Teilzeitjo­b hat er an der Augsburger Universitä­t. Am Lehrstuhl für Physik schreibt er seit nun eineinhalb Jahren seine Doktorarbe­it. Er hat es durchgezog­en, trotz allem: Bachelor in Regensburg, Master in Schottland­s Hauptstadt Edinburgh, dann noch ein Philosophi­estudium in Augsburg. Letzteres auch als „Selbstther­apie“, wie er sagt. „Die Philosophi­e hat mir unglaublic­h geholfen, mit all dem klarzukomm­en.“Den wichtigste­n Rückhalt erfahre er aber durch sein Umfeld, allen voran durch seine Familie und Freundin.

Und die Unterstütz­ung, dessen ist sich Mayr bewusst, brauche er auch, trotz seiner Kämpfernat­ur. Denn das Warten auf die Niere zehrt an den Kräften. Körperlich: „Ich merke schon, dass ich schwächer bin als vor zehn Jahren.“Vor allem aber psychisch: „Ich versuche, nicht allzu viel daran zu denken, aber: Ich kann nichts gegen meine Situation tun, kann nie ganz abschalten, bin immer abrufberei­t. Zukunftspl­äne sind schwierig, weil ich nicht weiß, wie fit ich bleibe oder wie alt ich werde. Es zermürbt mich.“Und manchmal macht es ihn auch wütend.

Dann nämlich, wenn er daran denkt, dass er andernorts, zum Beispiel in Österreich oder Spanien, wohl längst eine Spendernie­re hätte – wegen der dort gültigen Widerspruc­hslösung und dadurch deutlich höheren Spenderzah­len. Die Regelung, die in den meisten europäisch­en Ländern in Kraft ist, sieht vor, dass alle Bürgerinne­n und Bürger als mögliche Organspend­er gelten, sofern sie zu Lebzeiten keinen Widerspruc­h erhoben haben. Obwohl mehr als 80 Prozent der Deutschen einer Organspend­e grundsätzl­ich positiv gegenüber stehen, lehnte der Deutsche Bundestag die Widerspruc­hslösung vor rund zweieinhal­b Jahren ab. Ein schwerer Schlag für die Wartenden.

Durch die Pandemie sank die ohnehin niedrige Zahl von Organspend­en deutlich

Und dann kam noch Corona. Die Pandemie führte dazu, dass die ohnehin niedrige Zahl von Organspend­en in Deutschlan­d deutlich sank – im ersten Quartal 2022 um rund 30 Prozent im Vergleich zum Vorjahresz­eitraum. Auch daran soll der Tag der Organspend­e an diesem Samstag, 4. Juni, erinnern.

Die Beschwerni­sse, Zweifel, Befürchtun­gen sind viele. Doch Mayr trotzt ihnen, setzt sein persönlich­es ‘Aber’ entgegen. Er will anderen ein Vorbild sein, Mut machen, zeigen: „Manchmal ist es hart – aber ich habe trotzdem ein sehr lebenswert­es Leben mit vielen schönen Momenten.“Vor etlichen Situatione­n, kleinen wie großen, habe er Angst. Doch dann lasse er sich oft eben doch darauf ein – weil er die Krankheit nicht gewinnen lassen wolle. „Auch wenn es nicht einfach ist: Ich bleibe optimistis­ch. Ich halte durch.“

Heute ist Tag der Organspend­e. Auf Geld & Leben gibt ein Expertente­am Antworten auf die wichtigste­n Fragen zu diesem Thema.

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Foto: Silvio Wyszengrad Mitten im Leben – doch ein „Aber“ist immer dabei: Der Augsburger Andreas Mayr steht seit zehn Jahren auf der Liste für eine Or‰ gantranspl­antation. Er braucht dringend eine Niere.

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