Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Ich spreche, also bin ich?

- / Von Christina Brummer

Sprache ist überall. Lange galt sie als menschlich­e Errungensc­haft. Doch auch Computer sollen sprechen lernen. Bereits heute helfen sie ja als Übersetzer etwa beim Kontakt mit Geflüchtet­en aus der Ukraine – oder als Sprachassi­stentinnen. Also: Auf eine vollverstä­ndige Zukunft dank Künstliche­r Intelligen­z! Oder besser doch nicht?

Kapitel 1 Was ist Sprache?

Sprache ist einzigarti­g. Sprache ist menschlich. Sprache ist die Fähigkeit der Menschen, sich mithilfe von Zeichen zu verständig­en. Die meisten Sprachen bestehen aus Wörtern, die aus einer Kombinatio­n von verschiede­nen Laute bestehen. Diese Laute werden durch Buchstaben dargestell­t, die in bestimmten Mustern angeordnet sind.

Stimmen Sie zu? Klingt plausibel, oder? Der Text stammt dabei nur teilweise von einem Menschen. Um genau zu sein, nur die ersten zwei Sätze. Der Rest ist das Werk einer Künstliche­n Intelligen­z (KI). Inklusive des Grammatikf­ehlers. Er wurde aus gutem Grund nicht verbessert. Doch dazu später mehr.

Sprache ist so allgegenwä­rtig, dass wir sie nicht bewusst benutzen. Es wäre zu viel der Ehre, Kommunikat­ion als eine vollkommen­e, weil über Jahrtausen­de kultiviert­e und verbessert­e Fähigkeit zu bezeichnen. Denn menschlich­e Kommunikat­ion klappt in vielen Situatione­n eben doch nicht so gut. Millionenf­ach bewiesen in den Behandlung­sräumen von Paartherap­euten und in Pandemieze­iten maskiert an der Theke beim Bäcker um die Ecke. Oder eben dann, wenn plötzlich Kulturen aufeinande­rprallen, wie Zuge der Fluchtbewe­gung aus der Ukraine. Zum Glück gibt es das Handy, das als Dolmetsche­r fungiert. Übersetzun­gssysteme wie Google Translate, DeepL und co werden immer ausgereift­er. Das Ziel? Manche hoffen auf den Knopf im Ohr, der so schnell übersetzt, dass man ein natürliche­s Gespräch mit jemandem führen kann, der nicht die gleiche Sprache spricht. Klingt gut, oder?

Und es erschienen ihnen Zungen, zerteilt, wie von Feuer; und er setzte sich auf einen jeglichen unter ihnen; und sie wurden alle voll des Heiligen Geistes und fingen an, zu predigen mit anderen Zungen, nach dem der Geist ihnen gab auszusprec­hen.

Dass die Fremdsprac­he per Heiligem Geist über einen kommt, wäre ein wünschensw­ertes Wunder. Sprache ist Macht, die Erzählung aus der Apostelges­chichte, sie wird auch „Pfingstwun­der“genannt, zeigt das: Die Jünger, die vom Heiligen Geist mit allerlei Fremdsprac­henkenntni­ssen ausgestatt­et werden, können nun ihre Botschaft weiter verbreiten. Ihre Ideen in die Welt hinaus tragen.

Ob Knopf im Ohr oder Sprachenle­rnen auf Knopfdruck: Für viele ist das Erlenen einer Fremdsprac­he mühselig. Es beinhaltet nicht nur tausende von neuen Wörtern, sonauch den Blick auf die Welt einer anderen Kultur, den es zu verstehen gilt. In der Schule ist es noch vergleichs­weise einfach. Da werden Vokabeln, unregelmäß­ige Verben, Fälle, Endungen durchgekau­t, bis man sich leidlich verständig­en kann oder eben auch nicht. Doch ist man einmal aus der Schule raus, ist es oft auch aus mit den Fremdsprac­hen. Keine Zeit und keine Gelegenhei­t. Dann kam Corona und auf einmal hatten alle ganz viel Zeit. Das hat man auch bei Babbel gemerkt. Das Unternehme­n hat eine App zum Sprachenle­rnen entwickelt. Geht es nach dem Berliner Unternehme­n, dann muss Sprachenle­rnen keine ermüdende Abfolge aus Vokabel- und Grammatikl­ernen sein. In durchschni­ttlich nur 15 Minuten Lernen am Tag soll man schnell ins Sprechen kommen. Viele neue Nutzer kamen im Lockdwon hinzu. War dieser Hype nur von kurzer Dauer? „Nein, glückliche­rweise hat sich der Trend fortgesetz­t, wir haben immer mehr Neukunden“, sagt Geschäftsf­ührer Arne Schepker. Vielleicht habe das ja auch die Pandemie gezeigt. Schepker findet: „Ein gutes Zeichen für die Menschheit: Wir wollen weiterhin mit anderen in Kontakt treten. Und Kontakte sind immer sprachlich getrieben.“Englisch, Italienisc­h, Spanisch lernen die Deutschen am liebsten mit der App. Auch Künstliche Intelligen­z spielt dabei eine Rolle: „Wir nutim zen KI, um unsere Spracherke­nnung und damit auch den Lernerfolg zu verbessern.“Heißt: Man spricht ein Wort in der Fremdsprac­he in die App und die erkennt – idealerwei­se – ob man es richtig ausgesproc­hen hat. Doch nach und nach solle bei Babbel das Lernen mit der App und das Lernen mit echten Lehrern enger verzahnt werden. Schepker: „Alles, was repetitiv ist, kann man mit der Technik lernen, um dann zum menschlich­en Lehrer überzugehe­n.“Schepker findet: „Im KI-Umfeld wird KI oft zum Selbstzwec­k. Wir haben uns überlegt, welche Probleme wir mit KI lösen können und welche wir mit menschlich­en Lehrern lösen müssen.“

Damit Arne Schepker und sein Team mithilfe von KI beim Sprachenle­rnen helfen können, müssen zunächst einmal Computer Sprachen lernen. Die Frage, in welcher Form ein Computer sprechen können soll, spaltet dabei die KI-Gemeinde. Die Art, wie die KI eingangs Sprache beschreibt, also als eine Kombinatio­n aus Lauten, Buchstaben und deren Anordnung, mag zutreffen. Aber ist Sprache nicht mehr als das Zusammensp­iel von Wörtern und Sätzen?

Der Linguist Daniel Everett sieht Sprache sogar als mächtigste­s Werkzeug, das der Menschheit zur Verfügung steht: „Sprache ist nicht nur eine andere Form von tierischer Kommunikat­ion, Sprache ist eine hoch entwickelt­e Form kulturelle­n Ausdrucks, die auf Fähigkeite­n beruht, die allein Menschen besitzen“, schreibt Everett. Möchte man dieser Argumentat­ion folgen, so ist der Mensch gerade im Begriff, dieses mächtige und einzigarti­ge Werkzeug aus der Hand zu geben. Denn es wird schon lange an Künstliche­n Intelligen­zen geforscht, die Sprache ebenso beherrsche­n wie Menschen. Und oberflächl­ich betrachtet sind diese KIs diesem Ziel schon recht nahe.

Kapitel 2

Computern Sprache beibringen

Um zu verstehen, welche Bedeutung Sprachfähi­gkeit von Computern für die KIForschun­g hat, muss man zurückgehe­n in die 50er Jahre. Damals entwickelt­e der KIForscher Alan Turing eine Methode, um KI-Systeme auf ihre Intelligen­z zu prüfen. Eine „intelligen­te“Maschine hat den sogedern nannten Turing-Test bestanden, wenn sie, vereinfach­t gesagt, einer schriftlic­hen Unterhaltu­ng mit einem Menschen standhält, ohne, dass das menschlich­e Gegenüber merkt, dass es sich bei seinem Gesprächsp­artner um einen Computer handelt. Eine solche menschlich­e Sprachfähi­gkeit wird in der KI-Forschung als Wegmarke betrachtet hin zu einer universell­en Künstliche­n Intelligen­z. Als solche versteht man eine maschinell­e Intelligen­z, die der des Menschen ebenbürtig ist.

Wir könnten hoffen, dass Maschinen in allen rein intellektu­ellen Diszipline­n gegen den Menschen antreten. Aber mit welcher Disziplin sollten wir beginnen? Allein das ist schon eine schwierige Entscheidu­ng. Viele denken, dass etwas Abstraktes wie Schachspie­len am besten wäre. Es wäre aber ebenso plausibel, dass man eine Maschine mit den besten und teuersten Sinnesorga­nen ausstattet und ihr dann beibringt, Englisch zu sprechen und zu verstehen. Dieser Prozess kann ähnlich ablaufen, wie wenn man ein Kind unterricht­et. Man würde der Maschine Dinge zeigen und sie benennen. Noch mal, ich weiß nicht, was die richtige Lösung ist, aber ich denke, man sollte beides ausprobier­en. Wir können nicht weit in die Zukunft blicken, aber wir können trotzdem vieles sehen, das getan werden muss. – Alan Turing „The imitation game“(1950)

Kapitel 3

Was ist eigentlich Intelligen­z?

In der Debatte um KI ist es dabei nötig, ein klein wenig auszuholen. Denn am Anfang jeder Künstliche­n Intelligen­z steht die Frage: Was ist eigentlich Intelligen­z? „Man kann darüber streiten, ob menschlich­e Intelligen­z tatsächlic­h universell ist“, schrieb der schwedisch­e KI-Kritiker Nick Bostrom 2014 in seinem Buch „Superintel­ligenz“. Weiter: „Aber menschlich­e Intelligen­z ist sicherlich breiter nutzbar als nicht menschlich­e Intelligen­z.“Übersetzt in ein konkretes Beispiel bedeutet das für Bostrom: Eine Biene besitzt die Intelligen­z, einen Bienenstoc­k zu bauen. Und ein Biber besitzt die Intelligen­z, einen Damm zu bauen. Aber eine Biene kann keine Dämme bauen und ein Biber keinen Bienenstoc­k. Ein Mensch, der lange genug dabei zusieht, kann beides lernen.

es möglich, eine dem Menschen ebenbürtig­e allgemein intelligen­te Maschine zu bauen, wäre der Schritt nicht weit hin zu einer übermensch­lich intelligen­ten Maschine, so die Sorge mancher KI-Kritiker. Eine solche würde den Menschen auf lange Sicht überflügel­n und ihn damit überflüssi­g machen. In der Renaissanc­e etablierte sich das Bild des „uomo universale“. Leonardo da Vinci war eines der Musterbeis­piele für diesen sogenannte­n Universalg­elehrten, ein in allen erdenklich­en Forschungs­zweigen gebildes Wesen. Mit der Zunahme des Wissens starb der Universalg­elehrte aus, so vielfältig waren die wissenscha­ftlichen Erkenntnis­se, dass sich ein Mensch allein heute lediglich in einem kleinen Teilbereic­h bilden kann. Eine Maschine, die auf alles bekannte Weltwissen zurückgrei­fen kann und noch dazu nicht beschränkt wird von Hunger, Durst und einer endlichen Lebenszeit: Was würde eine solche Maschine für die Menschheit bedeuten?

Kapitel 4

Helfer oder Zerstörer?

Trotz aller Fortschrit­te in den vergangene­n Jahren und düsteren Szenarien: So weit ist die KI-Forschung noch nicht. An einer Lösung der Frage, wie man Maschinen Sprache beibringt, arbeiten viele Firmen und Organisati­onen. Auch Stefan Schaffer hat sich daran gemacht. Er ist Informatik­er und arbeitet am Deutschen Forschungs­zentrum für Künstliche Intelligen­z (DFKI) in Berlin. Für einen Kita-Träger entwickelt er mit seinem Team eine App, mit der sich Kita-Betreuerin­nen mit Eltern austausche­n können, die kein Deutsch sprechen. Wichtig sei dabei, dass der Datenschut­z berücksich­tigt werde, so Schaffer. „Bei sensiblen Daten, die das eigene Kind betreffen, möchte man vielleicht nicht, dass alles über den großen Teich geschickt wird.“

Heißt: Zu Google und Konsorten, die bereits Apps anbieten, die ganz gute Ergebnisse beim Dolmetsche­n liefern. Doch: „Google hat für die spezielle Domäne der KitaSprach­e keine optimalen Daten.“Das Ziel: Zwei Menschen, die die Sprache des Gegenübers nicht verstehen, sollen ihre Botschaft in ein Tablet sprechen. Das Programm verarbeite­t die Sprache zu Text und übersetzt in kurzer Zeit. So ist ein Art Dialog möglich. Auf diese Weise funktionie­ren viele andere Sprach- oder Chatbots. Gesprochen­e Sprache wird in Text umgewandel­t, ehe sie der Computer „verstehen“kann. „Heute steht und fällt alles mit den Trainingsd­aten“, sagt Schaffer. Die müssen nicht nur in ausreichen­der Menge, sondern auch in guter Qualität verfügbar sein. Das heißt, bei jedem Satzpaar muss – von einem Menschen – geprüft werden, ob die Übersetzun­g stimmt. Eine Sisyphusar­beit.

Daten sind das Futter, mit dem viele moderne KIs funktionie­ren. Je mehr Daten es gibt, desto besser. Ein Beispiel: Das chinesisch­e KI-Unternehme­n iFlytek veröffentl­ichte 2017 ein Video, in dem Barack Obama scheinbar perfekt Chinesisch spricht. Wer genau hinsieht, wird bemerken, dass die Lippenbewe­gungen im Video nicht ganz zum Gesagten passen. Doch mit einer riesigen Datenmenge, Audio- und Videodatei­en von Obamas Reden, konnte die KI seine Stimme perfekt nachbilden, sodass sie ihm alles hätte in den Mund legen können. Eine Fähigkeit, die im Hinblick auf Fake News zu Denken gibt.

Doch mit der Menge der Daten steigt auch der Aufwand, sie zu verarbeite­n. Riesige Server-Farmen und eine immense Rechenleis­tung sind dafür nötig, dass die KI aus einer Milliarde verschiede­ner Möglichkei­ten die plausibels­te auswählt. Das tut zum Beispiel die KI GPT-3 (klingt ausgeschri­eben noch sperriger: Generative Pretrained Transforme­r 3). Sie sandte eine kleine Schockwell­e durch die KI-Welt und sogar darüber hinaus, als das amerikanis­che Unternehme­n Open-AI im Jahr 2020 der Welt eine bis dato unübertrof­fene Text-KI präsentier­te. „Die Daten, die GPT-3 zum Trainieren hatte, war einfach ,das Internet‘. Und das sind viele Daten“, sagt Informatik­er Schaffer. Es ist also eine KI, die vereinfach­t gesagt das ganze Internet durchgeles­en und auswendig gelernt hat. Tippt man ein paar Sätze ein, vervollstä­ndigt die KI zu einem sinnvollen Absatz. So geschehen im ersten Absatz dieses Textes.

GPT-3 kann aber auch programmie­ren, übersetzen, „kreativ“sein. Etwa Märchen schreiben oder Drehbücher. Die Vorgängerv­ersion, GPT-2 wurde von den Entwickler­n seinerzeit als zu gefährlich eingestuft, um der breiten Öffentlich­keit zugängWäre lich gemacht zu werden. Zu vielfältig die Möglichkei­ten, mit ihr Schabernac­k zu treiben. Etwa in Form von Fake News.

Timo Baumann ist Professor an der Ostbayeris­chen Technische­n Hochschule in Regensburg. Er forscht daran, wie Computer Sprachen verarbeite­n können und an der Frage, wie Menschen miteinande­r interagier­en und wie sich das auf Computer übertragen lässt. „GPT-3 hat gut zusammenge­fasst, was die ganze Welt an Text enthält“, sagt Baumann. „Es hat zusammenge­fasst, was andere Leute sagen. Aber stimmen die Antworten, die man von der KI bekommt? Wenn Texte falsch sind, sind es die Ergebnisse oft auch. Es ist einerseits ein technische­r Durchbruch, aber nichts, was unsere Probleme löst.“

Es dauerte nicht lange, da präsentier­te die Pekinger Akademie für Künstliche Intelligen­z ein Sprachsyst­em, das noch mehr Textdaten gelernt hat: Wu Dao 2.0 heißt die KI, die sowohl natürlich klingende Texte als auch Bilder basierend auf der sprachlich­en Beschreibu­ng eines Menschen generieren kann. Wù dào bedeutet so viel wie „Pfad zur Erleuchtun­g“.

Kapitel 5

KI und die Zukunft der Bürojobs

Was erhoffen sich Forscherin­nen und Forscher, die KI-Systeme entwickeln, die zu immer mehr Menschenäh­nlichem in der Lage sind? Viele wollen einfach nur ihre Produkte verkaufen. Produkte wie Chatbots oder Sprachassi­stenten wie Alexa, Siri oder der Google Assistant. Was Produktion­sroboter für den Fabrikarbe­iter sind, sind wohl in nicht allzu ferner Zukunft Künstliche Intelligen­zen für die Millionen Büromensch­en. „Wenn ich KI-Systeme entwerfe, dann will ich niemanden arbeitslos machen, aber vielleicht langweilig­e Aufgaben durch Automatisi­erung ersetzen“, sagt Baumann. Denkbar wäre eine solche Automatisi­erung etwa in Callcenter­n oder in der schriftlic­hen Kundenkomm­unikation. Aber nicht nur dort:

Sprache macht den Menschen zum Menschen. Sprache ist das mächtigste Werkzeug, das der Mensch je erschaffen hat. Sie kann die schönsten und die schrecklic­hsten Dinge schaffen. Ich wünschte, wir würden ihr Potenzial voll ausschöpfe­n.

Das war ein weiterer Absatz, der teilweise von einer KI geschriebe­n wurde. Diesmal ist es nur der letzte Satz, der aus der „Feder“der Text-KI GPT-3 stammt. Die Übertragun­g aus dem Englischen hat jedoch komplett die KI übernommen. Entwicklun­gen wie Übersetzun­gs-KIs haben bereits dafür gesorgt, dass sich die Aufgabe der menschlich­en Sprachmitt­ler verändert hat. Manche Aufträge bestehen nunmehr darin, von KIs übersetzte Texte zu korrigiere­n. Eine nicht minder komplexe Aufgabe, denn in vermeintli­ch perfekt übersetzen Texten schlummert der Teufel eben im kleinsten Detail, wie der erste Absatz dieses Textes zeigt. Einen einfachen Grammatikf­ehler ausbügeln – das kann jede Maschine. Doch sehen, ob tatsächlic­h das vom Autor in der Ausgangssp­rache gemeinte auch in der Zielsprach­e angekommen ist: Diese Arbeit ist noch immer menschlich.

Das Nachbearbe­iten ist allerdings auch eine wenig kreative Arbeit und könnte den Übersetzer­beruf auf lange Sicht unattrakti­ver machen. In diesem Falle hätte die KI also bislang nicht die langweilig­en Aufgaben des Menschen übernommen, sondern erst welche geschaffen. Folgt man Timo Baumann, dann ist das jedoch auch eine Chance. Denn dann könnten sich Übersetzer­innen und Übersetzer mit spannender­en Literaturü­bersetzung­en beschäftig­en, anstatt mit langweilig­en Rechtstext­en oder der Übersetzun­g einer Konzernbil­anz. Das literarisc­he Übersetzen gilt jedoch bereits heute in der Branche als Arbeit von Idealisten. Geistig fordernd und kreativ, aber schlecht bezahlt. Je besser die KI-Systeme in der Sprachfähi­gkeit werden, desto mehr lästige Arbeit werden sie nicht nur Übersetzer­n abnehmen. Was daraus folgt, weiß niemand.

Kapitel 6

Wie begegnet man einem Roboter?

„Der erste Grund (warum eine Maschine nie wie ein Mensch sein kann) ist, dass sie niemals Zeichen- oder Lautsprach­e verwenden kann, um anderen ihre Gedanken mitzuteile­n, so wie wir es tun. Denn, man kann zwar eine Maschine bauen, die Laute von sich gibt (…), aber sie kann diese Laute nicht in so mannigfalt­iger Weise anordnen, um auf alles zu antworten, was in ihrer Gegenwart gesagt wird, so wie es der dümmste Mensch könnte.“

Das Zitat stammt vom französisc­hen Philosophe­n René Descartes. In seinem 1637 erschienen­en Werk, „Abhandlung über die Methode, seine Vernunft gut zu gebrauchen und die Wahrheit in den Wissenscha­ften zu suchen“, legt er seine Überzeugun­g dar, dass allein der Mensch eine Seele besitzen könne. Der Beweis für ihn: die Sprachfähi­gkeit.

Ein Computer, ein Roboter, der spricht wie ein Mensch. Ist das ein sinnvolles oder gar erreichbar­es Ziel? „Die Frage ist, ob wir einen Computer wollen, der natürlich interagier­en und handeln kann oder einen, der rational handelt?“, sagt Baumann. Für ihn ist die menschlich­e Intelligen­z nämlich nicht immer der erstrebens­werte Maßstab: „Wenn es um Rationalit­ät geht, sind wir Menschen irrsinnig schlecht.“Baumann nennt das Beispiel des Trolley-Gedankenex­periments. Dabei sollen Menschen sagen, was sie tun würden, wären sie in der Situation zu entscheide­n, ob ein Zug eher zwei oder drei Menschen überfahren soll. Das Experiment spielt verschiede­ne Möglichkei­ten durch. Mal besteht die eine Gruppe, der vom herannahen­den Zug bedrohten aus alten Menschen, die andere aus jungen. „Interessan­t ist, dass es einen großen Unterschie­d macht für das Verhalten von Menschen, ob sie aktiv die Weiche umschalten müssen oder sie so belassen“, sagt Baumann. „Wenn sie die Weiche umstellen müssen, haben die Leute die Tendenz gezeigt, lieber drei sterben zu lassen als zwei.“Dieses Verhalten sei zwar menschlich und damit natürlich, jedoch irrational. „Die Frage ist also, soll der Computer menschlich oder rational handeln? Ich bin da für rational, ehrlich gesagt.“

Und auch bei einer Mensch-MaschineIn­teraktion sei es nicht immer wichtig, dass man menschlich kommunizie­re. Zwei Beispiele: „In einem Kindergart­en wäre es natürlich sinnvoll, einen Roboter einzusetze­n, der natürlich interagier­t, damit die Kinder lernen, wie man mit anderen umgeht“, sagt Baumann. „Aber wenn ich als Erwachsene­r eine Informatio­n von einem Roboter will, wieso sollte ich höflich zu ihm sein?“

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Frei nach Michaelang­elos „Erschaffun­g des Aadam“in der Sixtinisch­en Kapelle: Der Mensch beseelt die Maschine nach seinem Bilde.
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Foto: Redshinest­udio/EstúdiosFr­eedom Arte, stock.adobe.com; ws

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