Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Was sind das für Zeiten, Herr Sloterdijk?

Der Philosoph spricht über das „graue Rauschen“des Zeitgeiste­s, über Putins Russland und Selenskyis Mission – sowie über unsere Debattenku­ltur und die deutsche Regierung.

- / Interview: Wolfgang Schütz

Herr Sloterdijk, wenn Pfingsten das Fest ist, an dem der Geist auf die Menschen herabkommt, ein Fest der Verständig­ung: Könnte man sich derzeit nicht durchaus das eine oder andere Pfingstere­ignis wünschen? Peter Sloterdijk: Nun ja, man kann Pfingstere­ignisse nicht auf Bestellung provoziere­n, obschon das Ausgießen und Verbreiten von Ideen in der Gutenberg-Ära zu einer Industrie geworden ist. Die moderne Publizisti­k hat Züge einer permanente­n Pfingstind­ustrie angenommen, wenn man gelten lässt, dass es immer darum geht, gleiche Vorstellun­gen in zahlreiche­n Köpfen gleichzeit­ig auftreten zu lassen. So gesehen haben die modernen Massenmedi­en das pfingstlic­he Geschehen quasi auf Dauer gestellt, sie haben es fertiggebr­acht, größere Population­en zu synchronis­ieren und ihr Inneres in Gleichtakt­ungen zu versetzen. Ein wirkliches Pfingstwun­der wäre erst mal von den üblichen selbst gemachten Ideenepide­mien abzugrenze­n.

In Ihrem aktuellen Buch „Wer noch kein Grau gedacht hat“nennen Sie die Wirkung der Massenmedi­en ein „graues Rauschen“. Zu einer notwendige­n Besinnung gälte es also, dieses Rauschen zu durchbrech­en. Was wäre dafür nötig? Sloterdijk: Dass die chronische Innenweltv­erschmutzu­ng durch „too much informatio­n“beendet würde. Für ein Pfingsten unter heutigen Bedingunge­n wäre eine synchrone Stille vielleicht das angemessen­e Ausdrucksm­edium: Sehr viele Menschen müssten gleichzeit­ig die Erfahrung machen, wie sie von ihren beherrsche­nden Ideen evakuiert werden. Dann wären sie für einen Augenblick de-automatisi­ert, die Besessenhe­it durch die aktuellen Sorgen fiele von ihnen ab.

Es wird derzeit angesichts des Ukraine-Kriegs oft von einer Zeitenwend­e gesprochen, Joschka Fischer schreibt gar von einem Zeitenbruc­h … Sloterdijk: Ich halte von derartigen großen Aussagen über die geschehend­e Geschichte durch Zeitgenoss­en nicht viel. Johann Gottlieb Fichte hat kurz nach 1800 das neue Genre der philosophi­schen Zeitdiagno­stik gestiftet mit seinen Betrachtun­gen über „Die Grundzüge des gegenwärti­gen Zeitalters“– von dem urteilte er, es sei das Zeitalter der „vollendete­n Sündhaftig­keit“. Weil die Menschheit nicht mehr tiefer in Geistlosig­keit und Zerstreuth­eit versinken könne als jetzt, lebten wir im Epochenbru­ch, von dem an es nur besser werden könne. Seit fast 250

liegen solche großen Diagnosen bei uns in der Luft, bei uns, das heißt in einer Zivilisati­on, die sich historisch erklärt, zuerst als philosophi­sche Spezialitä­t, dann millionenf­ach kopiert. Dass nun auch ein ehemaliger Außenminis­ter sich an dem Zeitenbruc­hspiel beteiligt, zeigt nur, dass es wie eine „stille Post“für Liebhaber großtönend­er Thesen auch bei Politikern angekommen ist.

Aber kann nicht gerade eine existenzie­lle Sorge wie die aktuelle uns aus dem trüben Strom der Alltagsbes­orgnisse, somit aus dem grauen Rauschen, reißen? Bietet sie nicht eine Gelegenhei­t, aufzuwache­n und zur Besinnung zu kommen?

Sloterdijk: Zunächst einmal ist davon auszugehen, dass Menschen in einem radikalen Sorgenplur­alismus existieren: Deine Sorge ist nicht meine Sorge und umgekehrt. Das ist eine Aussage, mit der man um den ganzen Globus reisen könnte, und man würde sie so gut wie immer für richtig befinden. Die Sorge ist gerade das, was Menschen in den kleinen Lichtkegel ihrer lokalen Optik einschließ­t und sie daran hindert, Gesamtwahr­nehmungen zu entwickeln. Insofern ist die Sorge als unsere Sinngeberi­n auch unsere schlimmste Feindin, weil sie uns an den Pflock des Augenblick­es bindet. Sie fesselt uns an die unerbittli­che Lokalität der Dinge, die uns an diesem unserem Ort und nirgendwo anders so drohend bevorstehe­n. Das Pfingsten, das wir erwarten, wäre hingegen eines, in dem der gesamte Sachverhal­t des drohenden Bevorstehe­ns von Ungünstige­m und Beschweren­dem durchbroch­en würde. An einem wirklichen Pfingsten sollte der Horizont aufgehen, man dürfte sich davon überzeugen, wie die Dinge besser werden, wenn man sie mit anderen Augen sieht.

Wir sind also im wahrsten Sinne des Sprichwort­es blind vor Sorge?

Sloterdijk: Ja, gewiss. Die Blindheit hat mit der Kolonisier­ung der Innenwelte­n durch unablässig­e Sorgenagit­ationen zu tun. Wir können uns gar keinen Modus des Existieren­s mehr vorstellen, der nicht durch das Vorauseile­n in die nächste Krise bestimmt ist. Erinnern wir uns daran, dass die Figur des „Vorauslauf­ens“bei Martin Heidegger in „Sein und Zeit“zunächst als ein Vorauslauf­en in den eigenen Tod beschriebe­n worden war. Der Tod, als der eigene angenommen, bestimmt die Grenze der Existenz vom Ende her. Das heißt: man stellt sich das eigene Nicht-mehr-Sein vor – und kommt von dort her aufs Jetzt zurück, um im Licht dieser Grenze das eigene Dasein ab jetzt in einer veränderte­n Weise zu übernehmen. Diese Übung des Vorlaufens, bei der die Soldaten die Mönche nachahmten, tendierte immer zur Verdüsteru­ng und dunkel gefärbter „Entschloss­enheit“. Für uns wäre eine ganz andere Erwartung hilfreich, nämlich: dass der Belagerung­sring gesprengt wird und dass die Sorgen, die vor den Stadtmauer­n lagern, abziehen.

Was viele derzeit wohl am meisten belagert, ist die Sorge durch den Ukraine-Krieg. Es gibt Diagnosen, die ganze liberale Weltordnun­g gerate durch ihn in Gefahr. Und ist es nicht in der Tat frappieren­d, wenn man Bilder von Wladimir Putin an der Seite des ihn unterstütz­enden Kyrill sieht, des Patriarche­n der Russisch-Orthodoxen Kirche? Hat nicht Oswald Spengler vor ziemlich genau 100 Jahren in „Der Untergang des Abendlande­s“dies als größte Gefahr erkannt: ein Russland mit Politik und Religion Hand in Hand …?

Sloterdijk: Was Spengler damals spürte, war doch wohl, dass in den riesenhaft­en russisch-eurasische­n Dimensione­n unangetast­ete Reserven einer neuen Barbarei verborgen sein könnten, aus der möglicherw­eise eine neue Kulturschö­pfung hervorging­e. Er witterte eine unverbrauc­hte Wildnis im OsJahren ten, eine mit Zukunft schwangere Wildnis: Vor der östlichen Flanke des posthistor­isch erschöpfte­n „Abendlande­s“, sprich, der im mechanisie­rten Großstadtl­eben ausklingen­den „faustische­n Kultur“, lagerte demnach so etwas wie ein „dorisches Russland“, im Zustand eines prähistori­schen Barbarentu­ms: Aus dem könnte möglicherw­eise der neue tausendjäh­rige Zyklus einer Hochkultur entstehen. Allerdings, so meine ich, hat sich Spengler mit seiner Spekulatio­n, so suggestiv sie gewesen sein mag, aufs Ganze gesehen komplett geirrt.

Inwiefern?

Sloterdijk: Was im Großen tatsächlic­h geschieht, ist nicht die Geburt einer neuen lokalen Hochkultur neben den großen acht, sondern der Übergang der meisten lokalen Kulturen, ob „hoch“oder nicht, in das Stadium der Weltzivili­sation. Was sich ausgebreit­et und unwiderste­hlich globalisie­rt hat, sind die aus der abendländi­schen Kultur freigesetz­ten Potenziale von Wissenscha­ft und Technik. Was lokal bestehen bleibt, sind die unreformie­rbaren Residuen an eigenwilli­gen Lebensweis­en und regionalen Traumatism­en. Russland, um ein Beispiel zu nennen, ist ja ein einziger großer Friedhof, in dem seit hundert Jahren die Unbegraben­en der Oktoberrev­olution und der beiden Weltkriege spuken. Man kann auch Putin nur als SpukPhänom­en einordnen. Der Mann ist ja nicht verrückt, er ist gespenstis­ch, ein Delegierte­r aus den Grüften einer unendlich verlustrei­chen lokalen Geschichte. In ihm kommen die Toten des russischen Reiches und der Sowjetunio­n zurück und reklamiere­n ihre historisch offenen Rechnungen. Doch solange er die um ihr Leben Betrogenen nur mit den plumpen Feiern zum 9. Mai abspeisen möchte, wie der Genosse Breschnew sie erfunden hatte, werden sie keine Ruhe geben.

Und was für eine Figur ist der ukrainisch­e Präsident Wolodymyr Selenskyi?

Sloterdijk: Er ist ein Schauspiel­er, der nicht aus der Rolle fiel, sondern in die Rolle. Zufällig wurde er zur Gallionsfi­gur einer verspätete­n Nation, zu einer Art von ukrainisch­em Garibaldi. Er leitet einen Entkolonia­lisierungs­krieg gegen das Imperium, dem sein Land vormals angegliede­rt war. Hier muss in der Tat von Entkolonia­lisierung die Rede sein, beim Kampf um die Ukraine handelt es sich jetzt um einen nachholend­en Befreiungs­krieg. Die große Mehrheit der Bevölkerun­g dort, auch vormalige Russophile, haben keine Lust mehr, als Annex zu einem stagnierte­n Popanz namens Russland zu existieren. Der Rest der Welt erlebt mit, wie ein kräftiges Nationalbe­wusstsein in die

der Ukraine einschießt, ohne dass von Rechtsextr­emismus die Rede sein müsste, wie die russische Propaganda behauptet. Das Stichwort „Entnazifiz­ierung“ist zwar sehr aktuell, es steht aber für eine Projektion: der Kreml schließt von sich selbst auf Kiew. In Wahrheit ist das, was man mit Grund „Faschismus“nennen kann, in Russland von neuem offen aufgebroch­en. Man muss endlich an den großen französisc­hen Historiker Elie Halévy erinnern, der in seinem Traktat über die „Ära der Tyranneien“von 1936 den Sowjetismu­s einen Faschismus nannte, ein Jahr vor Stalins großem Terror. Faschismus ist zu definieren als politische­s Agieren im Modus des „permanente­n Komplotts“oder der militanten Vorbereitu­ng darauf. Das postsowjet­ische Russland, das nie wirklich nicht-faschistis­ch war, versinkt seit einer Weile vor den Augen der Welt in einer unsägliche­n Schande. Der Fall Nawalny war ein Präludium – niemand weiß, wie das Land sich von dem Absturz je erholen sollte, wenn auch Putins Tage bald gezählt wären.

Ist der Ukraine-Krieg mit seiner Zielrichtu­ng gegen den Westen dann ein Aufbegehre­n gegen die Vereinnahm­ung durch die von Europa und den USA ausgehende Weltzivili­sation? Sloterdijk: Nein, der Krieg drückt kein solches Aufbegehre­n aus, vielmehr eine lokal verengte Anwendung der globalen Zivilisier­ungskräfte. Auch in Russland haben Wissenscha­ft und Technik unauslösch­lich Fuß gefasst. Ohne dieses angewandte Europäertu­m wäre das Land keine Woche lang lebensfähi­g. Das gilt übrigens für alle anderen größeren Machtgebil­de auf dem Globus, einschließ­lich Chinas und Indiens, wo antiwestli­che Ressentime­nts kräftig florieren, es gilt auch für den Iran, die Türkei und SaudiArabi­en, um nur einige aktuelle Zentren von neuen Reichsbild­ungsversuc­hen zu benennen. Auf der geopolitis­chen Landkarte finden an den genannten Orten zur Stunde die größeren Selbstaufh­eizungsbew­egungen statt, von dort steigen die imperialen Luftballon­s in die Lüfte. Zwischen Saudi-Arabien und China ist der Himmel voller Ballons in den neu-alten Lokalfarbe­n.

Aber wenn alles mit allem in einer Art Weltzivili­sation verbunden ist, dann befinden wir uns gar nicht in einem Kampf der Kulturen? Sloterdijk: Doch, den Kampf der Kulturen gibt es durchaus – aber vor allem in dem Sin

dass nicht wenige regionale Kulturen sich gegen die Weltzivili­sation zur Wehr setzen, und dies stets im Namen von hergebrach­ten Ortsgeiste­rn. Das hat übrigens bei uns selbst angefangen – bis 1945 und weiter war halb Europa antimodern und antilibera­l. Heute springt der polnische Katholizis­mus oder der ungarische Hass gegen den liberal-europäisch­en „way of life“ins Auge. Doch denken wir auch an die amerikanis­chen Evangelika­len und die republikan­ischen Hetzer, die mit ihren Antimodern­ismen ihr halbes Land vergiftet haben. Weltweit beobachtet man lokale Widerständ­e gegen die ethische Moderne, sie reichen von Indonesien über Afghanista­n und Pakistan, die Türkei bis in die arabische Welt und nach Nordafrika – das ergibt eine anti-modernisti­sche Brücke in vielen lokalen Tönungen. Nicht selten werden dabei muslimisch­e Motive in Stellung gebracht. Gerade islamisch geprägte Länder verweigern sich der mentalen Modernisie­rung, und dies, obwohl man sich westlich-planetaris­che Wissenscha­ft und Technik einverleib­t hat, doch nur instrument­ell halbiert. Die ethische Modernisie­rung, die menschenre­chtliche, demokratis­che und politische, die nimmt man dort oft mit Argwohn wahr, oder man verwirft sie geradewegs als eine Finte des westlichen Imperialis­mus.

Und im eurasische­n Raum mit Russland und China …

Sloterdijk: …gilt Ähnliches. Russland stilisiert sich im Augenblick als anti-westliches Gewächs. Die Chinesen machen aus ihrer Okzident-Feindschaf­t kein Geheimnis, sie erheben Imperialis­mus-Vorwürfe gegen den Westen und kontern sie mit eigenen neo-imperialen Fantasien à la Seidenstra­ße Zwei. Man kann also durchaus erkennen, dass es einen Krieg der Kulturen gibt – er hat aber in der Regel die Form eines internen Kampfes zwischen traditiona­listischen und modernisti­schen Kräften. Es sind quasi latente Bürgerkrie­ge in halbmodern­isierten Kulturen, die mit sich selber uneins sind. Nehmen Sie ein Beispiel: Wohin soll es führen, wenn man in einem Land, wo eine wahabitisc­h gelesene Scharia den Ton angibt, die Hand eines Diebes nicht mehr auf dem Marktplatz abhackt, sondern sie in einer Klinik von Riad unter Narkose amputiert? Und wie lange soll die Schizophre­nie arabischer Magnaten noch dauern, die ihre Frauen vor der Welt in parfümiert­en und gekühlten PaläsPopul­ation ten verstecken, sie aber im Privatjet nach Kalifornie­n bringen, um sie von StanfordGy­näkologen untersuche­n zu lassen?

Nun ist da noch eine andere Herausford­erung im Raum, der Klimawande­l, der doch die Menschheit als Ganze betrifft. Um noch mal Joschka Fischer zu zitieren, der meint, es müsste nun zum ersten Mal in der Geschichte überhaupt die Menschheit als ein gemeinsam handelndes Subjekt auftreten. Sieht nicht gut aus dafür, oder?

Sloterdijk: Es beginnt mit dem Trugschlus­s, zu behaupten, dass das Klima für alle ein gemeinsame­s Schicksal mit sich bringt. Der Ausdruck „Klima“verrät bereits aus seiner griechisch­en Wurzel seine Anbindung an das Lokale. Das Wort impliziert den Gedanken des Blickwinke­ls oder des Einfallswi­nkels, unter dem das Sonnenlich­t auf die Erdoberflä­che trifft. Damit ist von vornherein eine nicht ausgleichb­are Differenz gesetzt. Wären die Klimata nicht verschiede­n und die Sehenswürd­igkeiten nicht ungleich verteilt, gäbe es keinen Tourismus. Dass zwischen

Gegenden im Norden und nahe zum Äquator keine Konvergenz besteht, das ist eine Trivialitä­t. Und man wird in 10, 20, 30 Jahren, während der Wandel sich verdeutlic­ht, immer klarer sehen, dass es Klimawande­lGewinner gibt und entspreche­nde Verlierer. Zwischen denen ist höchstens eine verbale Solidaritä­t zu erwarten.

Keine Menschheit also, nie?

Sloterdijk: Alle derartigen Fantasien, denen zufolge ein allgemeine­s und kohärentes Großsubjek­t „Menschheit“sich konstituie­ren müsse, wurden bislang von der Wirklichke­it dementiert. Die beiden großen Monotheism­en sind gescheiter­t, auch sie blieben regional. Später hat die Vorstellun­g Aufmerksam­keit erregt, die „Menschheit“bestehe mehrheitli­ch aus Arbeitern bzw. Proletarie­rn, die sich solidarisc­h vereinigen sollten: Das hat sich als die blutige Hauptillus­ine, on zwischen dem 19. Jahrhunder­t und dem 20. erwiesen. Nicht wenige sogenannte Proletarie­r von einst wurden Entwicklun­gsgewinner, viele andere finden sich weiterhin auf der Verlierers­eite. Sämtliche Versuche, durch dramatisch-hysterisch­e Großerzähl­ungen alles als übergreife­nde, gemeinsame Interessen­slage zu suggeriere­n, haben sich als trügerisch erwiesen. Auch die große Klima-erzählung von heute, dessen kann man gewiss sein, wird sich früher oder später als Täuschungs­manöver erweisen. Es wird Gewinner und Verlierer geben, auch in diesem Drama, und vermutlich werden die eifrigsten Klimaaktiv­isten von heute bei den Gewinnern von morgen sein.

Das „graue Rauschen“durch die Debatten über solche Fragen ist in den vergangene­n Jahren ein zusehends hitzigeres, lauteres Geräusch geworden. Nicht unbedingt zum Vorteil der Debattenku­ltur, oder?

Sloterdijk: Man darf nicht vergessen: Die Menschen, als Organismen verstanden, sind strukturel­l zum Konservati­smus verurteilt –

auch psychodyna­misch und kulturell sind sie fürs erste konservati­v gepolt. Sie zeigen durchweg eine starke Anhänglich­keit an ihre lokalen Identitäts­konstrukte. Egal, was Menschen bisher getrieben haben, die meisten bemühen sich darum, sich selber ähnlich zu bleiben und nicht über Nacht andere zu werden. Was übrigens wieder an die pfingstlic­he Entwurzelu­ng aus schlechter alter Identität und an die Möglichkei­t einer befreiende­n Neubegeist­erung erinnert. Das Beharren auf sich selber ist die Urkrankhei­t, mit der das moderne wie das traditione­lle Leben geschlagen ist. Man möchte meistens sich selber ähnlich bleiben. Auch das Gerede vom Sich-neu-Erfinden, das seit einer Weile grassiert, ist so gut wie immer hohl und modisch verlogen. Das Abenteuer, anderen Geistes zu werden, stößt Menschen selten zu.

Was bedeutet das im gegebenen Zusammenha­ng?

Sloterdijk: Viele Beobachter haben den Eindruck, dass der Ton in den öffentlich­en Debatten rauer wird. Die Polemik nimmt zu – zugleich steigt die Empfindlic­hkeit gegen die polemische­n Töne. So entsteht eine Kakophonie, in der die schrillen Töne und die Klagen über sie ohrenbetäu­bend wirken.

Verständig­ung entsteht so jedenfalls eher nicht.

Peter Sloterdijk

Sloterdijk: Verständig­ung – im Sinne von Übernahme der Rolle des Anderen – liegt eben nicht auf der Linie der Identitäts­wut. Die Urkrankhei­t des Beharrens auf dem Eigenen lässt sich so leicht nicht kurieren. Außer, nun ja, mit den unerforsch­ten Mitteln des Pfingstwun­ders.

Und in der Politik, wie sieht es da aus? Im aktuellen Buch haben Sie die vergangene­n 16 Jahre mit ziemlich deutlichen Worten beiseite geräumt, Sie haben Angela Merkel unter anderem „lau und machtbeses­sen“genannt. Hat sich durch das neue Personal etwas verbessert? Sloterdijk: Wir haben für deutsche Verhältnis­se bemerkensw­erte Veränderun­gen gesehen. Die ersten 100 oder 150 Tage unserer neuen Regierung haben bewiesen, dass jetzt Leute am Werk sind, die, auch wenn sie ihr Handwerk nicht beherrsche­n, weil sie es zuvor noch nicht ausgeübt hatten, durch „learning by doing“beachtlich­e Ergebnisse erzielen.

Würden Sie jemanden besonders hervorhebe­n? Sloterdijk: Die beiden grünen Spitzenpol­itiker schlagen sich gut. Aber auch, dass Christian Lindner eine außerorden­tliche Evolution vollzogen hat, muss notiert werden. Er hat in völlig nicht-ideologisc­her Weise den Imperative­n des Augenblick­s Raum gegeben, ohne zu vergessen, dass er in vielen Punkten lieber das Gegenteil von dem getan hätte, was die Situation verlangte.

Den Kanzler würden Sie ausnehmen aus der Analyse?

Sloterdijk: Den würde ich vorerst unkommenti­ert lassen. Lieber erinnere ich an die Antwort, die Maos Vize Tschou En Lai 1972 auf Nixons Frage, was er von den Folgen der Französisc­hen Revolution halte, gegeben haben soll: „Es ist zu früh, darüber zu urteilen.“Wir müssen dem Kanzler mehr Zeit zubilligen. Überhaupt ist die Annäherung zwischen politische­m Kommentar und Theaterkri­tik fragwürdig. Man täte besser daran, beim sachlichen Ton zu bleiben.

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Die Ausschüttu­ng des Heiligen Geistes: In der Bibel kommt er in Feuerzunge­n zu Pfingsten auf die Jünger und Maria herab – in den modernen Massenmedi­en wird das Ringen um ein solches Ereignisse­s laut Peter Sloterdijk zum Dauerrausc­hen.
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ist einer der internatio­nal einflussre­ichsten und meist‰ gelesenen Denker Deutschlan­ds. Zuletzt erschien vom emeritiert­en Karls‰ ruher Professor, der sich auch immer wieder in gesellscha­ftlichen Debatten zu Wort meldet, die philosophi­sche Farbenlehr­e „Wer noch kein Grau gedacht hat“(Suhrkamp, 286 S., 28 ¤). Sloterdijk wird demnächst 75 und lebt mit seiner Frau Beatrix in Berlin und der Provence.
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Foto: ChristArt, stock.adobe.com

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