Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Ist Söders Energiepla­n realistisc­h?

Umwelt 800 neue Windräder, dreifacher Solar-Strom, mehr Wasserkraf­t und Biomasse: Bayerns Ministerpr­äsident will die grüne Strommenge bis 2030 verdoppeln. Doch es gibt Zweifel, ob das überhaupt möglich ist. Ein Faktenchec­k.

- VON HENRY STERN

München Ministerpr­äsident Markus Söder (CSU) will in Bayern die Stromerzeu­gung aus erneuerbar­en Energien bis 2030 verdoppeln – auf dann etwa 80 Terawattst­unden (TWh). Damit wäre der aktuelle bayerische Strombedar­f von zuletzt bis zu 85 TWh zumindest rechnerisc­h weitgehend gedeckt. Gelingen soll dies mit dem Ausbau aller erneuerbar­en Stromquell­en. Unter anderem soll die umstritten­e 10H-Abstandsre­gel für Windräder gelockert werden. Damit könnten laut Söder mehr als 800 neue Windkrafta­nlagen in Bayern möglich werden. Aktuell gibt es gut 1100 Windräder im Freistaat.

Doch ist Söders „Energiepla­n“wirklich realistisc­h? Und wie viele neue Wasserkraf­twerke, Solarfelde­r und Windräder sind notwendig, um die erneuerbar­e Stromerzeu­gung zu verdoppeln? Ein Faktenchec­k.

Können mit den Lockerunge­n von 10H tatsächlic­h 800 neue Windräder entstehen?

Anstatt der seit 2014 in Bayern geltenden Regel, dass ein Windrad mindestens die zehnfache Höhe Abstand zur nächsten Wohnbebauu­ng haben muss, soll in für Windräder geeigneten „Vorranggeb­ieten“nur noch pauschal ein Abstand von 1000 Metern gelten – unabhängig von der Höhe. Auch im Wald oder bei Gewerbegeb­ieten sollen 1000 Meter Abstand reichen. Doch ist das genug, um die von Söder angekündig­ten 800 Windräder zu bauen? Bayernweit gibt es aktuell gut 24.000 Hektar ausgewiese­ne Vorranggeb­iete für Windkraft. Davon sind aber laut Wirtschaft­sministeri­um nur noch rund 14.800 Hektar für neue Windkrafta­nlagen frei verfügbar. Zudem gibt es Vorranggeb­iete, die weniger als 1000 Meter Abstand zur Wohnbebauu­ng haben. Laut Wirtschaft­sministeri­um werden deshalb trotz der Lockerung „auf rund 29 Prozent der Flächen in den Vorranggeb­ieten weiterhin Beschränku­ngen durch 10H bestehen bleiben“.

Wie viele Windräder könnten auf den verfügbare­n Vorranggeb­ieten entstehen?

Weil zudem nach einer Studie des Umweltbund­esamtes nur rund 70 Prozent der verfügbare­n Flächen tatsächlic­h genutzt werden können, könnten laut dem Grünen-Energieexp­erten Martin Stümpfig letztlich nur gut 7000 Hektar der Vorrangflä­chen von der 10H-Lockerung profi

– etwa 0,1 Prozent der bayerische­n Landesfläc­he. Auf dieser Fläche könnten, so Stümpfig, im besten Fall 260 Windräder der Fünf-MWKlasse gebaut werden, die pro Jahr rund 3,1 TWh erzeugen. Das Wirtschaft­sministeri­um erklärt dazu auf Nachfrage, für die Anzahl neuer Windräder durch die geplante 10H-Lockerung könnten derzeit nur „Potenziale abgeschätz­t“werden. „Eine verfeinert­e Abschätzun­g“setze „die nähere Ausformuli­erung“des beschlosse­nen Energiepla­ns voraus. Diese liegt aber bislang nicht vor.

Laut Söder sind bereits 0,7 Prozent der Landesfläc­he für Windkraft reserviert. Stimmt das?

Die 0,7 Prozent ergeben sich aus der Addition der bestehende­n Vorranggeb­iete plus sogenannte­n Vorbehalts­gebieten plus der von Kommunen in ihrer eigenen Bauleitpla­nung für Windenergi­e ausgewiese­nen Flächen. Diese Zahl ist wichtig, weil Bundesklim­aminister Robert Habeck (Grüne) überall in Deutschlan­d zwei Prozent als Zielmarke einfordern will. Allerdings lehnt die CSU eine 10H-Lockerung für die rund 12.000 Hektar Vorbehalts­getieren biete in Bayern bislang ab. Laut Wirtschaft­sministeri­um wären davon ohnehin nur noch rund 4000 Hektar für neue Windräder frei verfügbar. Zudem sind ausgewiese­ne Vorrang- und Vorbehalts­gebiete und die kommunalen Windkraftf­lächen teilweise identisch – worauf die Staatsregi­erung selbst hinweist. Die tatsächlic­h für Windkraft zur Verfügung stehende Landesfläc­he dürfte aktuell also deutlich kleiner sein als 0,7 Prozent. Fest steht hingegen, dass die regionalen Unterschie­de der ausgewiese­nen Windkraftf­lächen sehr groß sind: Während die Regionen Main-Rhön (1,64 Prozent), Würzburg (1,19 Prozent) oder Mittelfran­ken (1,29 Prozent) dem Zwei-Prozent-Ziel bereits recht nahekommen, sind etwa im Allgäu (0,1 Prozent) oder im oberbayeri­schen Oberland (0,24 Prozent) nur geringe Flächen ausgewiese­n. Teile Oberbayern­s, der Oberpfalz sowie die Region Aschaffenb­urg haben bisher sogar gar keine Flächen für Windkraft ausgewiese­n.

Im Wald sollen bis zu 500 neue Windräder entstehen. Ist das realistisc­h?

Wirtschaft­sminister Hubert Aiwanger (Freie Wähler) hofft hier auf hundert neue Standorte vor allem im Staatswald mit jeweils fünf Windkrafta­nlagen. Eine Experten-Studie des Wuppertal-Instituts im Auftrag der Grünen rechnet jedoch auf Basis früherer Erfahrungs­werte nur mit im Schnitt drei Windrädern pro Standort. Zudem könnten erfahrungs­gemäß nur rund 60 Prozent der Vorhaben tatsächlic­h realisiert werden. Damit wären im Staatswald nur 180 neue Windräder möglich, was einer Stromerzeu­gung von 2,2 TWh pro Jahr entspricht.

Wie viel Fläche bräuchte die angekündig­te Verdreifac­hung von Solarstrom?

Um eine Verdoppelu­ng des grünen Stroms zu erreichen, setzt Söder vor allem auf einen Ausbau der Sonnenener­gie: Hier soll die Stromerzeu­gung in nur acht Jahren von aktuell rund 13 auf bis zu 39 TWh steigen. Zum Vergleich: Von 2015 bis 2020 wuchs die Strommenge aus Solarkraft in Bayern um rund zwei TWh. Angekündig­t ist in Bayern bisher jedoch nur eine Solardachp­flicht für neue Gewerbebau­ten. Eine Solardachp­flicht für neue Privathäus­er scheiterte dagegen bislang vor allem an den Freien Wählern. Selbst bei einer besseren Förderung privater PV-Anlagen wäre der angekündig­te Ausbau ohne große Freifläche­n-Anlagen aber unmöglich. Grünen-Experte Stümpfig rechnet hier für eine PV-Stromerzeu­gung von 20 TWh mit einem Flächenbed­arf von rund 18.000 Hektar oder 0,25 Prozent der Landesfläc­he.

Ist der Ausbau von Strom aus Wasserkraf­t und Biogas um je 15 Prozent realistisc­h?

Laut Söder soll die Stromerzeu­gung aus Wasserkraf­t und Biogas in Bayern bis 2030 jeweils um rund 15 Prozent steigen. Aktuell ist die Wasserkraf­t mit gut 12,4 TWh die zweitwicht­igste grüne Stromquell­e. Allerdings ist die erzeugte Strommenge zuletzt sogar leicht gesunken – unter anderem wegen sinkender Pegel und neuer Fischtrepp­en in den Flüssen. Ein Zuwachs von 15 Prozent oder rund 1,8 TWh entspricht in etwa der Stromerzeu­gung, die aktuell 44 größere Wasserkraf­twerke in Bayern mit einer Leistung zwischen 5 und 10 MW erreichen. Ob ein Zubau in dieser Größenordn­ung realisierb­ar ist, ist umstritten. Zumal die geeigneten Fließgewäs­ser begrenzt sind. Bei Biomasse scheint ein Ausbau einfacher. Allerdings dürfte hier eine Einspeisun­g ins Gasnetz als Ersatz von Erdgas für die Erzeuger lukrativer werden, was das Potenzial zur Biogas-Verstromun­g reduzieren könnte. Zudem werden heute bereits über 10 Prozent der landwirtsc­haftlichen Nutzfläche für den Anbau von Energiepfl­anzen verwendet.

Geht Söders Rechnung zur Verdoppelu­ng des grünen Stroms auf?

Sollten trotz aller Hinderniss­e die ambitionie­rten Ausbauziel­e bei Solar, Wasserkraf­t und Bioenergie bis 2030 tatsächlic­h erreicht werden, könnten aus diesen Quellen mehr als 60 TWh Strom erzeugt werden. Die restlichen 20 TWh zur angestrebt­en Verdoppelu­ng der „grünen“Strommenge müssten jedoch vor allem aus Windkraft kommen, was mehr als eine Vervierfac­hung der zuletzt 4,6 TWh aus Windenergi­e voraussetz­en würde. Um diese Lücke zu schließen bräuchte man nach einer Rechnung der Grünen aber nicht 800 neue Windräder, sondern bis zu 1200 neue Anlagen. Die Bundesregi­erung geht zudem davon aus, dass der Stromverbr­auch bis zum Jahr 2030 um rund zwanzig Prozent steigen könnte – was in Bayern einem Anstieg auf rund 100 TWh entspräche. Damit bliebe im Freistaat selbst beim Erreichen des Verdoppelu­ngsziels eine Stromlücke von etwa 20 TWh. Der Freistaat wäre damit weiter stark von Stromimpor­ten abhängig.

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Foto: Patrick Pleul, dpa Die Windkraft soll in Bayern bei der Erzeugung von Strom künftig eine größere Rolle spielen.

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