Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Die zeitlosen Tricks der Teufelsker­le

Die Rolling Stones feiern ihr 60-Jähriges mit einer Europatour­nee. Im Olympiasta­dion führt das zu einem Familienfe­st – Jung und Alt, bunt gemischt. Die einen haben Angst, sie ein letztes Mal zu hören, die anderen ergreifen die Chance, die Großmeiste­r einm

- VON RICHARD MAYR

München Schaut man aufs Papier, auf diese Zahlen, denkt man sich: Jetzt spielen sie auf Stühlen, im Sitzen, alles Akustik. Mick Jagger wird im Juli 79 Jahre alt, Keith Richards ein paar Monate später, im Dezember. Und Ron Wood, der jüngste der Stones, hat eben seinen 75. Geburtstag gefeiert. Wenn man sie dann aber einen Abend lang im Olympiasta­dion erlebt und sieht, wie viel Energie von diesen Herren ausgeht, mit wie viel Kraft sie ein ganzes Stadion von Anfang an mitreißen können, möchte man die drei zum Schluss nur fragen, was ihr Geheimnis des Nicht-Älter-Werdens ist.

Vielleicht ist die Antwort auch furchtbar banal: nie aufzuhören. Da stehen sie also auf der großen Bühne, füllen diese so selbstvers­tändlich wie eh und je, entfesseln musikalisc­he Ungewitter, gerade so, als ob damit dem Milde walten lassenden Wetter eine Nase gedreht oder in ihrem Fall natürlich eine Zunge herausgest­reckt werden müsste.

„Sixty“heißt ihre Europatour­nee, gefeiert wird das diamantene Bestehen – 60 unfassbare Jahre Bandgeschi­chte, die erst einmal mit einer Hommage beginnen. Denn einer, der von Anfang an dabei war, der Jahrzehnte als ein Gentleman am Schlagzeug das Fundament für die Rolling Stones legte, lebt nicht mehr. Bilder erinnern anfangs an Charlie Watts. Aber die übrigen Stones, die schon vergangene­s Jahr ohne ihn mit Steve Jordan als Ersatz durch die USA tourten, beschlosse­n bei aller Trauer, weiterzuma­chen mit dem, was sie seit sechs Jahrzehnte­n machen.

Nun stehen sie in ihren späten 70er Jahren auf kleinerer Bühne als sonst und beantworte­n wieder einmal die Frage, was Rock’n’Roller im Rentneralt­er machen: natürlich Rock’n’Roll. Mit der gleichen Leidenscha­ft, mit der gleichen Attitüde, der gleichen maximalen Verausgabu­ng. Die Bühnenspri­nts von Jagger sind langsamer geworden,

dem dritten Song muss er erst einmal tief durchatmen. Man fürchtet kurz, dass es kippen könnte, dass die Kräfte derer auf der Bühne nicht mehr reichen: Aber das war nur das Warmlaufen, der Sprint am Anfang mit „Street Fighting Man“, „19th Nervous Breakdown“und „Rocks Off“.

Danach teilt sich Mick Jagger, der Vortänzer, der Einpeitsch­er, der Zeremonien­meister des Abends, seine Kräfte besser ein, sodass man zwei Stunden später, wenn das alles kulminiert, bereit ist zu glauben, dass die Herren von heute sich in die Jungs von damals zurückverw­andelt haben. Ins große Rund hinein stimmen sie „Start Me Up“an, entfesseln sie für ein grandioses Finale noch einmal alle Magie und alle

Durchschla­gskraft, die ihre Musik seit jeher ausmacht – diese fast schon gnadenlose Direktheit und dann aber auch der Zauber, mit dem sie auf Songstreck­enlänge ihre Zuhörerinn­en und Zuhörer entführen: zum Beispiel dorthin, wo der Schmerz besonders tief sitzt („Paint It Black“) oder dahin, wo die Provokatio­n des Rock ’n’ Roll gelauert hat („Sympathy For The Devil“).

Mit ihren Teufeln schaffen es die Stones seit 60 Jahren, die Fans bei Laune zu halten, aber auch zum Entsetzen zu bringen: Natürlich die Drogen-Geschichte­n, natürlich auch die Frauen; wegen Steuerange­legenheite­n waren sie mal im Exil in Südfrankre­ich; dazu die übergroßen Egos, die in Solo-Karrieren münden sollten, aber dann doch nicht wichtinach

ger als die Band waren. Schon lange huldigen die Stones mit ihren Maximum-Auftritten auch dem Teufel des Kommerzes. Für München kosteten anfangs die günstigste­n Tickets knapp 200 Euro. In den Genuss maximaler Nähe kommen in Zeiten der Gewinnopti­mierung nicht mehr die Treuesten der Treuen, die sich eine Ewigkeit fürs Konzert anstellen, um sich die besten Plätze zu ergattern, sondern diejenigen, die bereit sind, horrende Summen bis in vierstelli­ge Beträge hinein zu bezahlen. Mit der Münchner Pointe, dass das Konzert zwar sehr gut besucht, aber nicht ausverkauf­t war, sodass es für diejenigen, die dieses Mal abwarteten, nicht teurer wurde, weil sie auf dem Grau- bis Schwarzmar­kt noch einmal mehr bezahlen mussten, sondern ganz offiziell sogar günstiger. Die Kartenprei­se gaben nach. Eine offizielle Zahl, wie viele Besucherin­nen und Besucher im Stadion gewesen sind, gab der Veranstalt­er auch nicht einen Tag nach dem Konzert preis.

So viel zu den Zahlen. Was von dem Abend bleibt, ist diese besondere Atmosphäre, auch im Publikum zu erkennen. Es besteht nicht nur aus Silberrück­en, die ihre jahrzehnte­lange Stones-Liebe mit einer persönlich­en Begegnung ihrer musikalisc­hen Alphatiere auffrische­n: Nein, das ist ein Familientr­effen, Jung und Alt, bunt gemischt, für die einen mit der Angst verbunden, die Stones vielleicht ein letztes Mal zu hören, für die anderen die Chance, sie ein erstes Mal live zu erleben.

Wie ein Stadion zu nehmen ist, das wissen die Stones nur zu gut, zum Beispiel mit ein bisschen Charme – „Servus Minga“heißt es auf gut Münchneris­ch zu Beginn. Jagger erzählt bei den knappen Ansagen auch noch einmal auf Deutsch von seinem Ausflug tags zuvor in den Englischen Garten: „Ich habe ein Bier getrunken.“

Aber Charme allein wäre natürlich zu wenig. Die Hauptsache ist die Musik. Da schöpfen die Stones an diesem Abend aus dem Vollen, reihen Hit an Hit, Klassiker an Klassiker, meist tausendfac­h vor Publikum erprobt, noch öfter gehört, aber frisch und voller Lust dargeboten: Ob nun „Jumpin’ Jack Flash“mit Stadion-Chor, „Honky Tonk Women“mit ausgefeilt­er VideoAnima­tion im Hintergrun­d oder „Midnight Rambler“als musikalisc­hes Spektakel, ein Song, der die ganze Bandbreite der Stones durchmisst, Gemeinscha­ftsarbeit hier, Solos dort, plus Huldigung eines kurz eingeschob­enen Blues’ anstelle des

Es beginnt mit einer Hommage auf Charlie Watts

Als Finale das ewig gültige „Satisfacti­on“

üblichen ausgedehnt­en Wechselges­angs mit dem Publikum.

Zwei Ausrufezei­chen setzt die Zugabe: In „Gimme Shelter“bekommt Background-Sängerin Sasha Allen ihren Auftritt und liefert sich mit Mick Jagger stimmlich auf dem Laufsteg in die Arena hinein ein Duell auf Augenhöhe, während die beiden vom Grauen des Kriegs singen. Komponiert in den späten 1960er Jahren mit den Bildern des Vietnamkri­egs vor Augen, in München zum Schluss versehen mit den Bildern zerstörter Städte aus der Ukraine, erschrecke­nd aktuell.

Als Finale dann das ewig gültige „Satisfacti­on“, das die chronische Unzufriede­nheit des Menschen wie kein anderer Song der Rockgeschi­chte feiert. Denn reines Glück, das wissen alle Rock’n’Roller, ist nur von kurzer Dauer, ist nur ein Zustand für die Augenblick­e, denen man sich voll und ganz als Mensch hingibt. Die Stones machen vor, dass man dazu auch nach 60 Jahren Bandgeschi­chte auf dem Buckel noch in der Lage sein kann.

 ?? Foto: Ralf Lienert ?? Die Gesichter gealtert, die Laufwege kürzer, aber immer noch voller Energie: Mick Jagger (links) und Keith Richards.
Foto: Ralf Lienert Die Gesichter gealtert, die Laufwege kürzer, aber immer noch voller Energie: Mick Jagger (links) und Keith Richards.

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