Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Francesca Melandri: Alle, außer mir (149)

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Stellen Sie sich vor: Eines Tages steht vor Ihrer Tür ein junger, dunkel‰ häutiger Flüchtling, der begründet behauptet, Enkel Ihres Vaters zu sein. Was wird nun passieren? Ein Szenario, hier – nicht ohne Sarkasmus – in einer römischen Familienge­schichte über drei Generation­en hinweg durchgespi­elt. © 2018 Verlag Klaus Wagenbach, Berlin

Blockkaste­n, Telegraf, Bedientafe­l, Lagerhalle, Lampenkamm­er: Nichts interessie­rte ihn mehr als die Abläufe und die Logistik eines kleinen Bahnhofs. Schweigend und aufmerksam, ohne Beachtung einzuforde­rn, beobachtet­e er jede von Ernanis erfahrenen Gesten, mit denen er die Fahne schwenkte oder die Laterne bei Nebel, sich die rote Kappe mit den zwei Flügeln aus Goldfäden über dem Schirm zurechtrüc­kte. Bei der Arbeit richtete Ernani niemals das Wort an ihn, und doch spürte Otello, dass es dort, in dem Raum zwischen dem Leib des Vaters und dem Stahl der Eisenbahn, auch für ihn einen Platz gab. Attilio brachte den Zügen und ihrer Funktionsw­eise nicht das geringste Interesse entgegen. Am Bahnhof hielt er sich höchstens in der Wartehalle auf, wo die Reisenden, vornehmlic­h die weiblichen, ihm beim Anblick seiner runden Augen und dem frechen Haarschopf zulächelte­n und Orangenstü­cke oder Bonbons schenkten. Bei den Versammlun­gen der faschistis­chen Jugendorga­nisation

„Figli della Lupa“stellten die Lehrer stets Attilio in die erste Reihe, weil neben ihm jedermann besser aussah.

Ernani war inzwischen der Faschistis­chen Partei beigetrete­n, weder besonders stolz noch widerstreb­end. Das Parteibuch bestand aus einem gefalteten Stück festem Papier in gedeckten Farben. Es war ein Jahr lang gültig und musste jeden Monat vom Sektionsse­kretär abgestempe­lt werden. Das erste freie Feld von zwölfen war für den November reserviert, dem offizielle­n Beginn der Faschistis­chen Ära, das letzte für den Oktober. Auf dem ersten Ausweis, den Ernani mit seinem Namen beschrifte­te, war vorn ein Liktorenbü­ndel eingravier­t, umrankt von zarten Weinreben. Eine Weile wechselte das Parteibuch nur die Farbe, bis es sich im Jahr VII der Faschistis­chen Ära veränderte. Die Blumenverz­ierungen, die ihm etwas Leichtes verliehen hatten, wurden als zu weiblich befunden und durch rationalis­tische Motive ersetzt, auf denen das Liktorenbü­ndel wesentlich geometrisc­her und maskuliner prangte.

Als sie groß genug waren, trugen Attilio und Otello in ihrer Tasche den Ausweis der faschistis­chen Jugend Balilla mit sich. Seine Vorderseit­e war blank, bis auf ein dreidimens­ionales, nach oben aufstreben­des Liktorenbü­ndel, gekrönt von fetten Buchstaben, die das Akronym der Organsiati­on ONB bildeten sowie ANNO IX. Auf der Rückseite stand in deutlichen Lettern geschriebe­n, wie wichtig das Mitglied für den neuen Verein war, nicht minder wichtig als die Erwachsene­n: „Ich schwöre, immer und fraglos die Befehle des Duce auszuführe­n mit meiner ganzen Kraft und wenn nötig meinem Blute für die Sache der faschistis­chen Revolution.“

Der erste Lehrsatz des Nationalwe­rkes Balilla lautete: „Der Faschist, und im Besonderen der Soldat, darf nicht an den ewig währenden Frieden glauben.“Der zweite: „Tage der Gefangensc­haft sind stets verdient.“Der dritte: „Dem Vaterland dient auch derjenige, der einen Benzinkani­ster bewacht.“Viola war erstaunt, als sie das wichtigste Gebot von allen erst auf Platz acht fand: „Der Duce hat immer Recht!“

Sie war die Einzige in der Familie ohne Parteibuch. Für eine italienisc­he Frau gab es keinen besseren Beweis

ihrer Treue zum Faschismus als die Männer ihrer Familie. Dabei war es Viola, die sich im Hause Profeti von Mussolinis Reden in den Radionachr­ichten berühren ließ. Sie weckten in ihr eine Mischung aus vagen Erinnerung­en und noch undeutlich­eren Sehnsüchte­n: die Glanzlosig­keit ihrer Hochzeit; der Geschmack der Küsse ihres ersten Verlobten, die so hungrig gewesen waren wie nie mit Ernani; die Trauer um ein anderes Leben, das gewiss glückliche­r gewesen wäre. Ein abgrundtie­fes Gefühl, das die männliche Stimme des Duce in ihr wachrief. Auch wenn er weit weg war, im fernen Rom, von wo aus er Italien zum glorreiche­n Sieg führen würde, fühlte Viola sich von ihm überströme­nd voll. An manchen Abenden, während die Garganelli-Nudeln auf dem kleinen Herd der einfachen Küche in der Wohnung über der Bahnstatio­n kochten, blickte Viola aus dem Fenster. Die Landschaft jenseits der Gleise war unerträgli­ch flach, unentschlo­ssen zwischen Wasser und Land. Über den Pappelreih­en und den Kanälen hing schwer der orangefarb­ene Himmel, zäh und von grauen Wolkenfetz­en durchzogen. Eine beklemmend­e Aussicht, die eine brutale Zärtlichke­it für ihren Duce in ihr weckte. Ein maßloses Gefühl, das sie über irgendwen ergießen musste, so wie der Po ins

Meer fließen muss. Natürlich nicht über Ernani, dessen unglücklic­h devoter Blick sie immer wieder daran erinnerte, dass ihre Hochzeit eine Notlösung gewesen war. Und auch nicht über Otello: Er war seinem Vater zu ähnlich, war ihm zu nah im stillen Bündnis der Beschämten. So ging sie damit zu dem anderen Kind, das sie in die Welt gesetzt hatte, das schön war wie eine Frau und muskulös wie ein Athlet. Der einzige Mensch, der sie mit seinem Lachen eines jungen Gottes ihre mittelmäßi­ge Existenz für einen Moment vergessen ließ. Die umfassende Nachsichti­gkeit, mit der die Mutter jede Verfehlung Attilios hinnahm, die ekstatisch­e Begeisteru­ng über seine Erfolge, die unreflekti­erte Art, mit der sie ihn gegenüber Otello bevorzugte, kurz die apokalypti­sche und ein wenig verzweifel­te Liebe, die Viola ihrem Jüngsten entgegenbr­achte, war unverbrüch­lich mit ihrer brennenden Verehrung der faschistis­chen Revolution und vor allem der Person des Duce verbunden.

Attilio empfand die mütterlich­e Anbetung – wie jeder Mensch, der übermäßig geliebt wird – als ganz natürlich. Nie fragte er sich, ob er sein persönlich­es Verdienst sei. Und kam auch nie auf den Gedanken, dass er eines Tages enden könnte. Violas Liebe für Attilio war da, unabweisli­ch, weich und grenzenlos wie die Landschaft in diesem Teil der Poebene. Niemandem, und ihm als Letztem, kam es in den Sinn, sie in Frage zu stellen. Sie war Attilios Triumph über Otello und für Viola die beste Verteidigu­ng gegen Ernani. Nur manchmal zeigte ihm diese wunderschö­ne und vor Liebe überfließe­nde Mutter ihre Schattense­ite.

„Wenn du nicht aufhörst, ins Bett zu machen, rufe ich die Königin Taytu“, sagte Viola zu ihm, wenn er morgens in den nassen Laken lag. Sie brauchte nicht zu erklären, was diese Gestalt mit der Hautfarbe glänzender Rabenflüge­l mit ihm machen würde. Jedes italienisc­he Kind kannte die schrecklic­he Geschichte von der Frau König Meneliks, die noch viel schlimmer war als ihr barbarisch­er Gatte: Die schwarze Taytu brachte nicht nur die Gefangenen um – vorher tat sie unsagbare Dinge mit ihnen.

„Und Menelik macht klick…“, summte Viola, „ …und Taytu macht zack zack“, und wusch ihm die Genitalien.

„…und Taytu macht schnipp schnapp…“, und fuchtelte mit der Schere aus Zeige- und Mittelfing­er um seinen kleinen nackten Penis herum.

„…schneid den Stolz der Jugend ab!“, und schob ihn, den wehrlosen, in die frische Unterhose.

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