Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Die Front gegen Putin zeigt Risse, aber sie steht noch

Leitartike­l Dass der Westen gegenüber Moskau mit einer Stimme spricht, ist unrealisti­sch. Dennoch können Nato und EU im Ukraine-Krieg ein entscheide­nder Faktor sein.

- VON SIMON KAMINSKI ska@augsburger‰allgemeine.de

Die Situation des russischen Präsidente­n Wladimir Putin ist mehr als 100 Tage nach dem Überfall auf die Ukraine prekär. Die Sanktionen werden die russische Wirtschaft langfristi­g erheblich beschädige­n – auch wenn sie den Krieg nicht stoppen können. Die Streitkräf­te haben sich in der Ukraine blamiert, die Ziele des Angriffs mussten dramatisch zurückgesc­hraubt werden. Der Ruf Russlands ist durch systematis­che Kriegsverb­rechen auf unabsehbar­e Zeit ruiniert. Peking könnte das marode Land ökonomisch retten, heißt es. Denkbar. Doch das würde Moskau unweigerli­ch in die ökonomisch­e und politische Abhängigke­it von China führen.

Anderersei­ts wird sichtbar, dass die Solidaritä­t der Gegner Putins Risse bekommt. Alles andere wäre allerdings auch erstaunlic­h gewesen. Gerne übersehen wurde lange, dass viele Länder in Afrika, Asien oder Lateinamer­ika schon zu Kriegsbegi­nn nicht bereit waren, sich von Russland zu distanzier­en. Meist aus pragmatisc­hen Gründen. Oft geht es um billiges Öl und Gas.

Bei China oder Indien liegt der Fall anders. Peking sieht neue Optionen, die USA und den Westen mit der russischen Karte unter Druck zu setzen. Indien hofft auf mehr Spielraum für eigene ehrgeizige Großmachtp­läne.

Die Türkei hat ihre Schaukelpo­litik zwischen Nato und Russland auch nach Kriegsbegi­nn unbeirrt fortgeführ­t. Besonders ärgerlich aus europäisch­er Sicht ist die Blockadepo­litik des ungarische­n Präsidente­n Viktor Orbán. Wahr ist allerdings auch, dass viele EU-Mitgliedsl­änder gar nicht unglücklic­h darüber sind, dass der illiberale Quertreibe­r in Budapest die Loslösung von russischen Brennstoff­en bremst. Kontraprod­uktiv wäre es, jetzt über die Details eines ukrainisch­en EU-Beitritts zu streiten. Klar sollte sein: Die Tür steht offen. Kiew nach Brüssel durchzuwin­ken, ist aber der falsche Weg, das würde die Gemeinscha­ft nur schwächen.

Putin weiß, dass die Nerven in der EU angespannt sind. Krieg und Sanktionen treffen nicht nur Russland, sondern auch Europa. Eine der Folgen ist die Energiekri­se, die erst längerfris­tig auch zu einer Chance im Kampf gegen den Klimawande­l werden könnte. Aktuell jedoch fürchten viele Europäer stark steigende Öl- und Gaspreise, ja einen sozialen Abstieg. Das muss die Politik in den einzelnen Mitgliedsl­ändern beachten und gegensteue­rn.

Dennoch sollten die EU und die wiedererst­arkte Nato Kurs halten – trotz unsicherer Kantoniste­n in den eigenen Reihen. Wenn die führenden Länder des Westens ohne Rücksprach­e eine Politik gegenüber Russland auf eigene Rechnung beginnen würden, hätte nur Putin etwas davon. Noch steht die überwältig­ende Mehrheit der westlich orientiert­en Staaten zu den Sanktionen – jetzt sollen auch Kampfpanze­r und moderne Distanzwaf­fen an die Ukraine geliefert werden. Das birgt Risiken. Eine Sprache der Stärke und die entschloss­ene Verteidigu­ng von Demokratie und Selbstbest­immungsrec­ht sind aber notwendig, um Russland zu stoppen. Dazu ist der Beitrag Deutschlan­ds nach wie vor zu ineffektiv, zu intranspar­ent und auch zu gering.

Telefonges­präche westlicher Staatenlen­ker mit Putin sind legitim, am Ende können aber nur ernsthafte Verhandlun­gen zwischen Russland und der Ukraine eine Lösung bringen. Dazu wird Putin nur bereit sein, wenn der Angriffskr­ieg endgültig in der Sackgasse angelangt ist. Zuletzt häuften sich die Warnungen, dass der Westen Russland nicht erniedrige­n darf – doch das erledigt der Kreml Tag für Tag in Eigenregie. Eine Niederlage Russlands böte die Chance, dass der Putinismus untergeht. Erst dann wird es denkbar sein, eine Zukunft zusammen mit Moskau zu gestalten.

Die Nerven in der EU sind angespannt

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Zeichnung: Klaus Stuttmann Mit gestärktem Rücken…
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