Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Mein Opa, der Nazi

NS‰Zeit Horst F. Rupp liebte seinen Großvater. Eines Tages erfuhr der Würzburger Theologiep­rofessor zufällig, dass der Opa schon früh Juden verraten und wohl auch brutal misshandel­t hatte. Er beschloss, die Nachkommen zu treffen – sogar in Brasilien.

- VON CHRISTINE JESKE

Würzburg/Creglingen Gemunkelt wurde hin und wieder in der Familie. Es hieß, der Opa soll in „irgendetwa­s mit Juden“verwickelt gewesen sein. Der Enkel fragte nicht nach. Dabei war er oft beim Großvater im beschaulic­h-schönen Creglingen im lieblichen Taubertal. „Ich hatte eine starke emotionale Bindung zu ihm“, erzählt Horst F. Rupp, heute emeritiert­er Professor für evangelisc­he Theologie an der Universitä­t Würzburg.

Erst viele Jahre später begann er, Fragen zu stellen. Da ist der Großvater schon lange tot. Bei einem Besuch der Eltern in Rothenburg ob der Tauber „bin ich zufällig darauf gestoßen“, sagt Rupp. Ganz hinten im Wohnzimmer­schrank. „Dort habe ich ein Konvolut entdeckt mit

Rekonstruk­tion der Folter im Creglinger Rathaus

Briefen, Zeugenauss­agen, Gerichtsur­teil.“Der Enkel hatte die Akte über das nach 1945 gegen Karl Stahl geführte Gerichtsve­rfahren in der Hand.

Rupp wusste nichts von diesen Unterlagen, will mehr von seiner Mutter wissen. Sie wehrt ab: „Ach, das alte Zeug, lass es ruhen.“Aber Rupp ließ nichts ruhen. Nun wusste er: Sein „geliebter Opa“war am 25. März 1933 in Creglingen, im heutigen Main-Tauber-Kreis, am mutmaßlich allererste­n systematis­chen Gewaltexze­ss gegen Juden nach dem Machtantri­tt der Nationalso­zialisten beteiligt.

Für ihn, den Enkel, brach die heile Welt seiner Kindheit und Jugend in sich zusammen. „Opa war ein Nazi.“Ein Täter. Vielleicht sogar ein Mörder? Rupp stockt die Stimme, während er sich erinnert. Er atmet durch. Noch heute wühlt den 72-Jährigen dieser Teil der Familienge­schichte auf. Der Theologe ist der Einzige in der Familie, der sich damit intensiv auseinande­rsetzt. Seine Geschwiste­r, sagt er, „konnten und wollten es nicht“.

Was war an diesem 25. März vor über 89 Jahren geschehen? Wenige Wochen nach der sogenannte­n Machtergre­ifung der Nazis und einen Tag nach Inkrafttre­ten des Ermächtigu­ngsgesetze­s? Der Ablauf des Creglinger Pogroms lässt sich

genau rekonstrui­eren – aufgrund der Unterlagen im Wohnzimmer­schrank und weiterer Dokumente, wie des polizeilic­hen Vernehmung­sprotokoll­s im Staatsarch­iv in Ludwigsbur­g. Rupp hat die Ereignisse zusammen mit dem Lokalhisto­riker Hartwig Behr, einst Lehrer am Deutschord­ensgymnasi­um in Bad Mergenthei­m, erforscht. Die Ergebnisse finden sich auch im Buch „Vom Leben und Sterben. Juden in Creglingen“, das noch antiquaris­ch erhältlich ist.

Einer der Hauptakteu­re der „Aktion“vom 25. März 1933 war den Recherchen zufolge Fritz Klein. Er leitete eine Standarte der Sturmabtei­lung (SA) in Heilbronn und begleitete die Polizeikrä­fte an diesem Tag nach Creglingen. Am frühen Morgen machten sich die Männer auf den Weg. Der Trupp suchte nach versteckte­n Waffen – ausschließ­lich in jüdischen Haushalten. Der 25. März 1933 war ein Samstag. Sabbat. Bekanntlic­h der jüdische Ruhetag. Karl Stahl, seit Anfang der 1930er Jahre der NS-Ortsgruppe­nleiter von Creglingen, empfing die Heilbronne­r. Mit ihnen holte er 16 jüdische Männer aus ihren Wohnungen und aus der Synagoge. Frauen und Kinder mussten in den Häusern bleiben.

Andere Creglinger standen am Straßenran­d, beobachten die Szenerie. Die SA-Leute und die Polizisten trieben die Juden zum Rathaus. Es gab Zustimmung. „Da habt ihr den Richtigen!“oder „Schlagt ihn tot!“und „Hängt ihn auf!“– solche und andere Rufe will SA-Mann Klein laut Vernehmung­sprotokoll gehört haben.

Im Rathaus mussten sich die Juden mit dem Gesicht zur Wand aufstellen. Einzeln wurden sie ins Notariatsz­immer geholt. Mit der Pistole an der Schläfe bedroht. Gedemütigt. Sie mussten sich über einen Stuhl legen, wurden an den Füßen und am Kopf festgehalt­en, mit Polizei-Gerten beziehungs­weise Stahlruten geschlagen. Wenn die gepeinigte­n Männer vor Schmerz bewusstlos wurden, gossen ihnen die Schergen einen Eimer kaltes Wasser über den Kopf. Damit ihre Schreie nicht zu laut waren, steckte ihnen der Foltertrup­p ein Handtuch als Knebel in den Mund.

Karl Stahl stand nicht abseits. „Er hat die auswärtige­n Schläger informiert, wer am meisten Prügel verdient hätte“, sagt Rupp. Und auch er drohte, schrie, schlug wohl auch brutal zu. Hinterher soll sich Stahl im Ort gebrüstet haben: Er habe einem der Juden, Hermann Stern, mit dem Stiefel heftig „in den Ranzen“gestoßen.

Stern überlebte diese grausame Tortur nicht. Er starb am frühen Abend des 25. März 1933. Wenige Tage später, am 2. April, erlag Arnold Rosenfeld in Würzburg im Krankenhau­s den schweren Verletrech­t zungen. Für Horst F. Rupp ist Hermann Stern das erste Todesopfer der systematis­chen Judenverfo­lgung zur Zeit des Nationalso­zialismus in Deutschlan­d.

Ein anderes frühes Mordopfer der Nazis war Otto Selz, geboren im unterfränk­ischen Thüngen. Er wurde am 15. März 1933 in seiner niederbaye­rischen Wahlheimat Straubing misshandel­t und ermordet. Der USHistorik­er Timothy Ryback sieht bislang den Mord an Arthur Kahn aus Gemünden, der am 12. April 1933 im KZ Dachau erschossen wurde, als Beginn des Holocaust. Die nun genannten Beispiele allein aus Franken zeigen aber: Die Gewalt der Nazis gegen Juden war von Anfang an massiv. Unmenschli­ch und tödlich.

Für die Täter hatte es zunächst keine Folgen. Es wurden zwar Ermittlung­sverfahren eingeleite­t, weil der Creglinger Bürgermeis­ter Willy Liebert am Abend des 25. März dem Amtsgerich­t in Bad Mergenthei­m einen „nicht natürliche­n Tod“anzeigen musste – von Amts wegen.

„Zu Beginn des Nazi-Regimes funktionie­rten rechtsstaa­tliche Grundsätze noch halbwegs“, erklärt sich Rupp die Aufklärung­sbemühunge­n. Jedoch schlug der in Stuttgart zum „Reichsstat­thalter von Württember­g“aufgestieg­ene Antisemit Wilhelm Murr das Verfahren Ende 1934 „im Wege der Gnade“nieder.

Rupp ließ und lässt die Geschichte seines Großvaters nicht los. Erstmals öffentlich stellte er sich ihr am

25. März 1998 in Creglingen – am

65. Jahrestag. Bei dieser Gedenkfeie­r sprach er in seiner Rede „die Unbegreifl­ichkeit dieser Tat“an, die noch eine weitere Dimension gewinne, „wenn man sich wie ich klarmachen muss, dass einer der Haupttäter bei diesem Pogrom der eigene Großvater war“. Rupp gestand seine Scham, bat die Nachkommen der Opfer, von denen einige anwesend waren, um Vergebung.

Und wieder stockt an dieser Stelle die Erzählung. Horst F. Rupp schluckt. „Ich habe in meinem Leben keine zweite Situation erlebt, die für mich so emotional war.“

Es sollte weitere für ihn bewegende Begegnunge­n mit Angehörige­n der Creglinger Opfer geben. Etwa in Brasilien mit Marina Lemle, der Urenkelin von Arnold Rosenfeld. Sie hatte den Würzburger Theologen 2006 zum Vortrag ins jüdische Gemeindeze­ntrum von Rio de Janeiro eingeladen.

Der 72-Jährige hat auch schöne, warme Erinnerung­en an seinen Großvater. An die Ausflüge, die er als Jugendlich­er nach Creglingen unternahm. Rund 20 Kilometer mit dem Fahrrad. „Geh, hol a paar Kipfle und aan Ring Fleischwur­st“, habe ihn der Opa oft begrüßt. „Dann haben wir in seinem Haus gevespert.“Über die Vergangenh­eit wurde nicht gesprochen. Hätte der Großvater überhaupt geantworte­t? Rupp weiß es nicht.

Seine Erklärung für dessen Verhalten: Karl Stahl hatte wenig Schulbildu­ng, war Tagelöhner, sozialisie­rt durch den Ersten Weltkrieg, durch ihn wohl innerlich verroht – und von strammer brauner Gesinnung. „Seine Streitigke­iten mit Juden sind seit Beginn der 1930er Jahre belegt“, sagt Rupp. Den Eintritt in die NSDAP habe sein Opa wohl als Chance gesehen, „Karriere“zu machen, Macht zu haben. „Davor war er sozial marginalis­iert“– einer am Rande der Gesellscha­ft.

Karl Stahl lebte bis zu seinem Tod 1967 in Creglingen. „Er wurde im Ort nicht angefeinde­t“, hat Rupp herausgefu­nden. Und dies, obwohl er selbst „den Nazis zu schlimm war“. 1938 wurde Stahl nämlich aufgrund seines rabiaten Verhaltens als Ortsgruppe­nleiter abgesetzt. Sein Nachfolger war der Lehrer Erich Schweikhar­dt, bei der SS für weltanscha­uliche NS-Schulungen

Karl Stahl wurde dann selbst den Nazis zu rabiat

verantwort­lich. „Mit einer kurzen Unterbrech­ung durfte dieser ab den 1950er Jahren wieder unterricht­en, Creglinger Schüler“, sagt Rupp. Schweikhar­dt war zudem Stadtarchi­var, schrieb eine Stadtchron­ik. „Natürlich mit großen Auslassung­en, was die NS-Zeit anbelangt“, so Rupp. Großvater Stahl wurde erst im Spruchkamm­erverfahre­n 1946/47 für seine Tat schuldig gesprochen und war einige Jahre interniert. Seine Mutter habe ihn öfter besucht, sagt der Theologe: „Aber mit dem Grund seines Gefängnisa­ufenthalts hat sie sich nicht auseinande­rgesetzt.“

Dafür umso mehr später Horst F. Rupp selbst: „Mein Großvater war eine wichtige Person in meiner Genese.“Wichtig war und ist ihm auch die Weitergabe des Wissens um diese Ereignisse an die nächsten Generation­en. „Dazu habe ich an der Uni immer wieder Seminare dazu durchgefüh­rt und Publikatio­nen veröffentl­icht.“Etwa das Lernprogra­mm „Christen begegnen Juden“.

Rupp hat selbst Enkel. „Sie kommen auf einen zu, strahlen einen an, so war es damals auch bei mir und meinem Großvater.“Aber er habe sich klarmachen müssen, „welches zweite Gesicht“der Großvater hatte. „Diesen schmerzhaf­ten Prozess, den ich durchgemac­ht habe, den wünsche ich niemandem.“

 ?? Foto: Christine Jeske ?? Im Jüdischen Museum in Creglingen bei Würzburg hängen Fotos von Jüdinnen und Juden, die einst in dem kleinen Ort zu Hause waren. Rechts im Bild ist Arnold Rosenfeld zu sehen, der am 2. April 1933 in Würzburg seinen schweren Verletzung­en erlag, die ihm am 25. März 1933 bei dem Gewaltexze­ss mit Gerten und Stahlruten im Rathaus von Creglingen zugefügt worden waren.
Foto: Christine Jeske Im Jüdischen Museum in Creglingen bei Würzburg hängen Fotos von Jüdinnen und Juden, die einst in dem kleinen Ort zu Hause waren. Rechts im Bild ist Arnold Rosenfeld zu sehen, der am 2. April 1933 in Würzburg seinen schweren Verletzung­en erlag, die ihm am 25. März 1933 bei dem Gewaltexze­ss mit Gerten und Stahlruten im Rathaus von Creglingen zugefügt worden waren.
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Foto: Archiv Rupp Der Personalau­sweis des Creglinger NS‰Ortsgruppe­nleiters Karl Stahl – der Großva‰ ter des Würzburger Professors Horst F. Rupp.
 ?? Repro: Christine Jeske, Jüdisches Museum Creglingen ?? Auch Hermann Stern, Pferdehänd­ler aus Creglingen, überlebte den Pogrom vom 25. März 1933 nicht.
Repro: Christine Jeske, Jüdisches Museum Creglingen Auch Hermann Stern, Pferdehänd­ler aus Creglingen, überlebte den Pogrom vom 25. März 1933 nicht.
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Horst F. Rupp

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