Augsburger Allgemeine (Land Nord)
Die EU schreibt „sozialpolitische Geschichte“
Soziales Die Mitgliedstaaten und das Parlament haben sich auf Standards für Mindestlöhne geeinigt. Der Kompromiss regelt unter anderem die Festlegung, Aktualisierung und Durchsetzung von Gehältern.
Straßburg Es blieb bis zuletzt zäh, die Verhandlungen zogen sich abermals bis spät in die Nacht. Umso erleichterter wirkten die Europaabgeordneten am Dienstagmorgen, als sie den Kompromiss in Straßburg präsentierten. Vertreter der EUMitgliedstaaten und des Europaparlaments hatten sich nach monatelangen Gesprächen auf eine Richtlinie zu fairen Mindestlöhnen geeinigt. Damit schreibe man „sozialpolitische Geschichte“, lobte der EUParlamentarier Dennis Radtke.
Der CDU-Mann war einer der beiden Verhandlungsführer des EUParlaments und betonte, dass „erstmals ein Rahmenwerk der EU einen direkten Beitrag dazu leisten wird, dass Menschen für ihre Arbeit gerecht entlohnt werden“. Neben Standards, wie gesetzliche Mindestlöhne festgelegt, aktualisiert und durchgesetzt werden sollen, geht es in dem Vorhaben darum, dass mehr Beschäftigte in der EU durch Tarifverträge geschützt werden. So müssten EU-Länder Aktionspläne bestimmen, um die Tarifbindung zu steigern, wenn deren Quote unter 80 Prozent liege. „Politische Sonntagsreden zur Würde von Arbeit füllen wir jetzt endlich auch EU-weit mit Leben“, sagte Radtke, sozialpolitischer Sprecher der konservativen EVP-Fraktion. Die Umsetzung der in der Richtlinie festgelegten Standards werde das Leben von Millionen von Beschäftigen mit niedrigen und teils existenzbedrohlichen Löhnen erheblich verbessern.
Radtkes Co-Berichterstatterin, die Niederländerin Agnes Jongerius, verwies auf Paketzusteller, Ladenverkäufer oder landwirtschaftliche Arbeitskräfte, für die die Richtlinie einen Unterschied machen könne. „Angemessene Mindestlöhne müssen einen angemessenen Lebensstandard gewährleisten, Lohnungleichheiten abbauen und zum sozialen Aufstieg beitragen“, forderte sie. Der Statistikbehörde Eurostat zufolge ist jeder zehnte Beschäftigte in Europa von Armut bedroht. Bei Arbeitnehmern mit Zeit- oder Teilzeitbeschäftigung steigt die Zahl auf jeden sechsten. Laut Hans-BöcklerStiftung sind 60 Prozent der Mindestlohnempfänger Frauen.
Die Herausforderung der Politiker bestand darin, innerhalb der engen Grenzen der EU-Verträge einen Kompromiss auszuhandeln. Denn Brüssel darf keine konkreten Lohnhöhen vorgeben, sondern nur Leitlinien erlassen. Deshalb sieht die Bestimmung auch keinen einheitlichen Mindestlohn für alle 27 Mitgliedstaaten vor und verpflichtet ebenso wenig zu verbindlichen gesetzlichen Gehaltsuntergrenzen. Insbesondere nördliche Länder fürchteten eine Einmischung Brüssels in nationale Angelegenheiten und zeigten sich skeptisch bezüglich der neuen Richtlinie, da jene Länder zwar keinen gesetzlichen Mindestlohn, aber eine verhältnismäßig hohe Tarifbindung haben.
Das Recht der Sozialpartner, Löhne auszuhandeln, zu überwachen und festzulegen, sei weiterhin unangetastet, betonten die Verantwortlichen am Dienstag. Kollektivverhandlungen blieben Vorrecht der Gewerkschaften. „Wir respektieren nationale Traditionen“, so Jongerius.
Nach Angaben der EU-Länder sollen gesetzliche Mindestlöhne künftig mindestens alle zwei Jahre aktualisiert werden. Ausgenommen sind Staaten, wo Gehälter beispielsweise automatisch mit der Inflation steigen. Hier gelte eine Frist von vier Jahren. Die SPD-Europaabgeordnete Gaby Bischoff beklagte, dass viele Menschen, die „unsere Gesellschaft am Laufen halten“, drastisch unterbezahlt und trotz „harter 40-Stunden-Woche“derzeit nicht in der Lage seien, die explodierenden Lebensmittel- und Energiepreise zu bezahlen. „Es ist höchste Zeit, diesen Abwärtstrend umzukehren“, zeigte sich Bischoff zufrieden über die neue Richtlinie. Derzeit erfüllten 18 EU-Länder die jetzt ausgearbeiteten Kriterien des EU-Parlaments nicht.
Nachdem in Deutschland eine Erhöhung des Mindestlohns auf zwölf Euro ab 1. Oktober beschlossen wurde, gehört die Bundesrepublik zwar zur Spitzengruppe in der Staatengemeinschaft. Doch obwohl laut Statistischem Bundesamt lediglich in Luxemburg mehr bezahlt wird, liegt in Deutschland die Tarifbindungsquote, das heißt, wie viele Arbeitnehmer von Tarifverträgen profitieren, deutlich unter den von der EU nun angestrebten 80 Prozent.
Rat und Parlament müssen die Einigung noch formell bestätigen. Dann haben die Mitgliedstaaten zwei Jahre lang Zeit, die Richtlinie in nationales Recht zu übertragen.