Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Die EU schreibt „sozialpoli­tische Geschichte“

Soziales Die Mitgliedst­aaten und das Parlament haben sich auf Standards für Mindestlöh­ne geeinigt. Der Kompromiss regelt unter anderem die Festlegung, Aktualisie­rung und Durchsetzu­ng von Gehältern.

- VON KATRIN PRIBYL

Straßburg Es blieb bis zuletzt zäh, die Verhandlun­gen zogen sich abermals bis spät in die Nacht. Umso erleichter­ter wirkten die Europaabge­ordneten am Dienstagmo­rgen, als sie den Kompromiss in Straßburg präsentier­ten. Vertreter der EUMitglied­staaten und des Europaparl­aments hatten sich nach monatelang­en Gesprächen auf eine Richtlinie zu fairen Mindestlöh­nen geeinigt. Damit schreibe man „sozialpoli­tische Geschichte“, lobte der EUParlamen­tarier Dennis Radtke.

Der CDU-Mann war einer der beiden Verhandlun­gsführer des EUParlamen­ts und betonte, dass „erstmals ein Rahmenwerk der EU einen direkten Beitrag dazu leisten wird, dass Menschen für ihre Arbeit gerecht entlohnt werden“. Neben Standards, wie gesetzlich­e Mindestlöh­ne festgelegt, aktualisie­rt und durchgeset­zt werden sollen, geht es in dem Vorhaben darum, dass mehr Beschäftig­te in der EU durch Tarifvertr­äge geschützt werden. So müssten EU-Länder Aktionsplä­ne bestimmen, um die Tarifbindu­ng zu steigern, wenn deren Quote unter 80 Prozent liege. „Politische Sonntagsre­den zur Würde von Arbeit füllen wir jetzt endlich auch EU-weit mit Leben“, sagte Radtke, sozialpoli­tischer Sprecher der konservati­ven EVP-Fraktion. Die Umsetzung der in der Richtlinie festgelegt­en Standards werde das Leben von Millionen von Beschäftig­en mit niedrigen und teils existenzbe­drohlichen Löhnen erheblich verbessern.

Radtkes Co-Berichters­tatterin, die Niederländ­erin Agnes Jongerius, verwies auf Paketzuste­ller, Ladenverkä­ufer oder landwirtsc­haftliche Arbeitskrä­fte, für die die Richtlinie einen Unterschie­d machen könne. „Angemessen­e Mindestlöh­ne müssen einen angemessen­en Lebensstan­dard gewährleis­ten, Lohnunglei­chheiten abbauen und zum sozialen Aufstieg beitragen“, forderte sie. Der Statistikb­ehörde Eurostat zufolge ist jeder zehnte Beschäftig­te in Europa von Armut bedroht. Bei Arbeitnehm­ern mit Zeit- oder Teilzeitbe­schäftigun­g steigt die Zahl auf jeden sechsten. Laut Hans-BöcklerSti­ftung sind 60 Prozent der Mindestloh­nempfänger Frauen.

Die Herausford­erung der Politiker bestand darin, innerhalb der engen Grenzen der EU-Verträge einen Kompromiss auszuhande­ln. Denn Brüssel darf keine konkreten Lohnhöhen vorgeben, sondern nur Leitlinien erlassen. Deshalb sieht die Bestimmung auch keinen einheitlic­hen Mindestloh­n für alle 27 Mitgliedst­aaten vor und verpflicht­et ebenso wenig zu verbindlic­hen gesetzlich­en Gehaltsunt­ergrenzen. Insbesonde­re nördliche Länder fürchteten eine Einmischun­g Brüssels in nationale Angelegenh­eiten und zeigten sich skeptisch bezüglich der neuen Richtlinie, da jene Länder zwar keinen gesetzlich­en Mindestloh­n, aber eine verhältnis­mäßig hohe Tarifbindu­ng haben.

Das Recht der Sozialpart­ner, Löhne auszuhande­ln, zu überwachen und festzulege­n, sei weiterhin unangetast­et, betonten die Verantwort­lichen am Dienstag. Kollektivv­erhandlung­en blieben Vorrecht der Gewerkscha­ften. „Wir respektier­en nationale Traditione­n“, so Jongerius.

Nach Angaben der EU-Länder sollen gesetzlich­e Mindestlöh­ne künftig mindestens alle zwei Jahre aktualisie­rt werden. Ausgenomme­n sind Staaten, wo Gehälter beispielsw­eise automatisc­h mit der Inflation steigen. Hier gelte eine Frist von vier Jahren. Die SPD-Europaabge­ordnete Gaby Bischoff beklagte, dass viele Menschen, die „unsere Gesellscha­ft am Laufen halten“, drastisch unterbezah­lt und trotz „harter 40-Stunden-Woche“derzeit nicht in der Lage seien, die explodiere­nden Lebensmitt­el- und Energiepre­ise zu bezahlen. „Es ist höchste Zeit, diesen Abwärtstre­nd umzukehren“, zeigte sich Bischoff zufrieden über die neue Richtlinie. Derzeit erfüllten 18 EU-Länder die jetzt ausgearbei­teten Kriterien des EU-Parlaments nicht.

Nachdem in Deutschlan­d eine Erhöhung des Mindestloh­ns auf zwölf Euro ab 1. Oktober beschlosse­n wurde, gehört die Bundesrepu­blik zwar zur Spitzengru­ppe in der Staatengem­einschaft. Doch obwohl laut Statistisc­hem Bundesamt lediglich in Luxemburg mehr bezahlt wird, liegt in Deutschlan­d die Tarifbindu­ngsquote, das heißt, wie viele Arbeitnehm­er von Tarifvertr­ägen profitiere­n, deutlich unter den von der EU nun angestrebt­en 80 Prozent.

Rat und Parlament müssen die Einigung noch formell bestätigen. Dann haben die Mitgliedst­aaten zwei Jahre lang Zeit, die Richtlinie in nationales Recht zu übertragen.

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Foto: Christoph Söder, dpa Künftig gibt es EU‰weite Standards, um Mindestlöh­ne in der Union zu bestimmen. Auch Deutschlan­d muss in einem Bereich nachbesser­n – trotz jüngst beschlosse­ner Mindestloh­nerhöhung.

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