Augsburger Allgemeine (Land Nord)
Auf Krawall aus
Debatte Polit-Talks haben nichts aus der Vergangenheit gelernt. Das zeigte zuletzt ein Auftritt von Ulrike Guérot bei Markus Lanz. Eine mediale Massenkarambolage.
Wir müssen reden: über die Corona-Pandemie, über den Ukraine-Krieg, über den Zustand unserer Gesellschaft. Die öffentliche Debatte ist in diesen Krisenzeiten besonders wichtig – und damit ist es auch und besonders die öffentlich-rechtliche Polit-Talkshow.
Die wird vielfach kritisiert. Aber wenn sich ein Millionenpublikum spätabends vor dem Fernseher oder via Stream mit relevanten Themen auseinandersetzt, ist das ein nicht zu unterschätzender Wert. Ja, auch Markus Lanz oder Anne Will sind systemrelevant! Und dennoch wird das nicht die große Lobhudelei auf ARD und ZDF und ihre PolitTalk-Promis. Denn die setzen seit Jahren unverändert auf einen kleinen Kreis der immer selben Gäste und immer wieder auf Krawall.
Wie zuletzt der ZDF-Talk von Markus Lanz, in dem der Bonner Politikwissenschaftlerin Ulrike Guérot – „eine Ikone der Querdenkerszene“(FAZ) – eine Bühne geboten wurde. Gleich mehr dazu.
Zuvor der allgemeine Befund: Statt mehr als Statements abzufragen, statt Raum für mehr als einen Gedankengang zu bieten, statt in ein (Streit-)Gespräch zu kommen, lassen Polit-Talks Meinungen aufeinanderprallen wie Kinder Spielzeugautos: crash, boom, bang!
Eine mediale Massenkarambolage, oft (in Echtzeit) kommentiert in sozialen und Online-Medien. Die Gäste: „gecastet“und besetzt nach Rollen. Die Themen: zugespitzt. Die Thesen: steil. Die Moderation: angesichts dieses „Settings“noch das geringste Problem.
Talkshows sind Shows, das schon. Aber das verkennt ihre Funktion als wichtige Plattformen des öffentlichen Diskurses und geht allzu leichtfertig über die Verantwortung ihrer Macher hinweg. Die geben vor, einem breiten Meinungsspektrum zu Öffentlichkeit zu verhelfen, schaden bisweilen allerdings dem gesamtgesellschaftlichen Diskurs in Zeiten vielfältiger Emotionalisierungen und Polarisierungen. Im besten Fall könnten
die Talks für Erkenntnisgewinn sorgen und zur Meinungsbildung beitragen. Im schlechtesten Fall sind sie so etwas wie Twitter im Fernsehen: Wutmaschinen.
Nun zu Guérot/Lanz. Wohlwollend formuliert kann man sagen: Er hat’s versucht und ist gescheitert. Und das ist bitter, weil gerade
Lanz hart fragen und gewinnbringend diskutieren kann. Er hat also versucht, ihre Meinung zum Ukraine-Krieg einzubinden (gegen Waffenlieferungen/für Verhandlungen). Es ist eine legitime Meinung, die viele teilen, die jedoch einen üblen Beigeschmack bekommt, wenn Guérot den russischen Angriffsund Vernichtungskrieg unter anderem einen „Bürgerkrieg“und den Invasionsbeginn einen „Grenzübertritt“nennt. Putin sei
nicht allein der Böse. Lanz wusste, wen er einlädt. Seine Redaktion baute vor und lud weiterhin ein: FDP-Politikerin Marie-Agnes Strack-Zimmermann sowie die angesehenen Journalisten Natalie Amiri und Frederik Pleitgen. Damit hatte sie ein Setting „Alle gegen eine“gezimmert, das Guérot noch Tage später helfen sollte, sich als Opfer einer vermeintlichen „Cancel Culture“zu stilisieren oder stilisieren zu lassen.
Und Guérot? Bedankte sich auf Twitter herzlich für ein Interview, das sie dem Youtube-Kanal „InfraRot – Sicht ins Dunkel“gab samt Link auf das Video „Ulrike Guérot ... was bei Lanz nicht gesagt wurde“. Der Kanal ist laut FAZ ein „Tummelplatz für Putin-Fans“; auf ihm ist unter anderem Ivan Rodionov
– früher Chefredakteur des deutschsprachigen Angebots des russischen Propagandasenders RT DE – aktiv. Guérot erzählte in „InfraRot“, sie habe in der Lanz-Sendung das Gefühl gehabt, vorgeführt zu werden. Bestimmte kritische Stimmen würden aus dem Diskursraum ausgeschlossen – bei Corona sei das bereits so gewesen und nun beim Ukraine-Krieg. Auch ihr Misstrauen gegenüber dem, was in der Zeitung stehe, war Thema. Berührungsängste mit „alternativen“Medien, die Halb- oder Unwahrheiten verbreiten, sind ihr, wie es aussieht, fremd. Und so werden mit Gästen wie Guérot die „Grenzen des Sagbaren“weiter verschoben. Auch, weil es schön „crash, boom, bang!“macht in und nach der Talkshow und in anderen Medien.