Augsburger Allgemeine (Land Nord)
Francesca Melandri: Alle, außer mir (151)
Stellen Sie sich vor: Eines Tages steht vor Ihrer Tür ein junger, dunkel häutiger Flüchtling, der begründet behauptet, Enkel Ihres Vaters zu sein. Was wird nun passieren? Ein Szenario, hier – nicht ohne Sarkasmus – in einer römischen Familiengeschichte über drei Generationen hinweg durchgespielt. © 2018 Verlag Klaus Wagenbach, Berlin
Er hatte nicht nur den Körper eines Übermenschen, er war auch der jüngste italienische Oberst am Ende des Ersten Weltkriegs gewesen; sein relativ jugendliches Alter trug nicht unbeträchtlich zu der Faszination bei, die er auslöste. Auch die Reporter waren nicht immun dagegen. „Homer muss Persönlichkeiten wie ihn vor Augen gehabt haben, als er seine Helden ersann“, wurde über ihn geschrieben. Die Sonntagsausgabe des Corriere zeigte Graziani auf der Titelseite, wie er in der von ihm in Mode gebrachten Tropenuniform an der rakla der Rennkamele lehnte oder sich auf dem nackten Sand liegend von den Strapazen erholte, welche die Befriedung der Kyrenaika erforderte. Selbst der Duce höchstpersönlich, immer darauf bedacht, nicht im Schatten anderer Männer zu stehen, schien den Kult um ihn nicht eindämmen zu wollen. Außerdem hatte Mussolini Badoglios Zweifel an seinem Marsch auf Rom nicht vergessen. Ein Volksheld, viel jünger und
stattlicher, war nicht die schlechteste Art, den alten Marschall auf seinen Platz zu verweisen.
„Vizegouverneur Graziani nimmt in Bengasi die Parade der italienischen Truppen ab“, tönte der Kommentar zu den Bildern der Wochenschau. Der General stand auf einem Balkon, eine hohe weiße Feder auf seiner Kopfbedeckung ließ seine Größe fast überirdisch erscheinen. Für Attilio sah er aus wie von einem anderen Planeten im Vergleich zu den Würdenträgern seiner Umgebung: ein Kardinal, dem das Gewand über dem Bauch spannte, so rund wie sein Hut, der Untersekretär des Kolonialministeriums Lessona mit dem Zweispitz des Botschafters auf dem Kopf, die anderen Offiziere, die ihm kaum bis zu den Schultern reichten. Vor dem Balkon paradierten die verschiedenen Abteilungen: Askaris mit Fez, Kameltreiber mit ihren Tieren, Panzerdivisionen mit Spähwagen, Kavallerie, Fußsoldaten im weißen Kolonialhelm, Avantgardisten, Balilla mit
Halstuch, Piccole Italiane mit weißem Häubchen und schließlich die Schwarzhemden, die die Parade mit wildem Lauf und Sprüngen abschlossen, da der Faschismus jung und stark war und kräftige Lungen besaß. Zu beiden Seiten des Weges jubelte die Menschenmenge. Die Kameramänner fingen mit ihren Objektiven die strahlendsten Gesichter ein, weißbärtige Alte, Kinder auf den Armen mit Fähnchen in der Hand, Beduinen mit Turbanen. Ihre Frauen gaben unter dem Schleier, der ihr Gesicht wie ein Vorhang bedeckte, schrille Entzückensschreie von sich.
„Die italienischen Truppen“, kommentierte der Sprecher, „werden voll froher und feierlicher Dankbarkeit von den Bewohnern der befriedeten Kyrenaika willkommen geheißen.“
Die Kyrenaika. Attilio erstarrte auf seinem unbequemen Holzsitz. Ein Augenpaar erschien nun auf der Leinwand, und er hatte es wiedererkannt. Dieser Blick, dieses Lächeln hatte er nie vergessen. Es gab keinen Zweifel, für einen Moment sah von der weißen Leinwand des einzigen Kinos von Lugo in Romagna die Junge Beduinin herab.
Sie war es. Er war sich ganz sicher. Das Mädchen, das ihn viele Jahre zuvor angelächelt hatte, als sie in ihrem Zelt in dem Messepavillon
Getreidekörner zerrieb. Für sie war keine Zeit vergangen, ihr Gesicht war noch genauso, wie Attilio es sich eingeprägt hatte. Dieselben drei Zöpfe, der merkwürdige Nasenring, von dem man den Blick kaum abwenden konnte. Doch da war sie schon wieder weg. Andere Gesichter, andere Lächeln, jubelnde Arme lösten einander auf der Leinwand ab.
Bis spät in die Nacht hinein konnte Attilio an nichts anderes denken als an die dunklen Augen und die sonnenprallen Lippen. Eine nie gekannte Sehnsucht erfüllte ihn von Kopf bis Fuß. Als er endlich einschlief, hüllte der Traum ihn in sein feuchtes Verlangen: In weißer Gardeuniform befriedete er mit strenger Sanftheit die Junge Beduinin.
Im Dezember 1932 fuhr Mussolini in einem Fiat Alb 48 zur Einweihung einer neuen Stadt, in genau dem Triebwagen, dessen Prototyp Ernani an jenem Tag bewundert hatte, als der kleine Attilio von dem unvergesslichen fremdländischen Lächeln berührt wurde. Die neue elektrische Eisenbahn trug vorne zwischen den Scheinwerfern ein schmales stählernes Liktorenbündel vor sich her, wie eine Brosche am Revers. Die Waggons waren in hübschem Milchkaffeebraun gehalten, und die runden Linien gaben ihnen einen grazilen Anstrich. Jedenfalls war jedem sofort klar, dass es sich um eine Frau handeln musste. Und zu Ehren der wunderseligen Littoria, der Stadt, die nach Willen des Duce innerhalb weniger Monate aus malariageschwängertem Morast entstanden war, nannte man sie Littorina. Selbst Ernani, der sich über das Regime immer nur sehr zurückhaltend äußerte, spürte ein wenig Bewunderung für diese faschistische Errungenschaft des modernen Eisenbahnwesens.
Im nächsten Jahr, dem Jahr XI der Faschistischen Ära, erschien auf dem Ausweis der Nationalen Faschistischen Partei hinter dem stilisierten Liktorenbündel das Gesicht des Duce. Zum ersten Mal als reales Porträt, den Blick fast melancholisch nach unten gerichtet wie ein fürsorglicher Vater, der über die Endlichkeit des Menschen nachdenkt. Irgendjemand muss das Bild allerdings für ungeeignet befunden haben. Im Folgejahr erschien Mussolinis breiter Kopf viel stilisierter, mit Militärhelm, dessen Gurt sich gut sichtbar eng um das kräftige Kinn spannte, ein martialisches Profil, in dem keinerlei Mitleid für die inneren und äußeren Feinde des Vaterlandes lag.
Violas Körper war noch glatt und fest trotz der Schwangerschaften und ihres Alters, und doch wagte ihr Mann sich schon lange nicht mehr auf ihre Bettseite. Zu lange hatte Ernani nur als Schuldeneintreiber Zugang zu dem gehabt, was sich weich und sanft unter dem Nachthemd seiner Frau verbarg. Doch anders als bei jedem Steuerschinder hatte sie nie eine Reaktion gezeigt, nicht einmal Ablehnung. So hatte die demütigende Tatsache, einen Körper zu besitzen, der noch regloser war als ein Waggon auf dem Abstellgleis, Ernanis traurige Begierde erstickt. Nun wünschten sich die Eheleute, wenn das Licht im Schlafgemach ausging, mit ausgesuchter Höflichkeit eine gute Nacht; dann drehte sich jeder zu seiner Seite des Ehebetts, weiter voneinander entfernt als Planeten. Ernani ging nun zweimal im Monat in ein Bordell etwas außerhalb der Stadt, an der Straße nach Bagnacavallo. Es war gut zu erreichen, vom Bahnhof aus musste man nicht einmal die Stadt durchqueren mit dem Risiko, gesehen zu werden. Eines Abends im Sommer, nach dem letzten Glas Wein zum Essen, auf den Tellern noch die Reste der Leber venezianische Art, die Attilio so mochte, wischte sich Ernani den Mund mit der Serviette ab, stand auf und setzte sich, wie jeden zweiten Samstag, den Hut auf. Dieses Mal jedoch blickte er im Hinausgehen seine beiden Söhne an und sagte: „Heute Abend kommt ihr mit.“