Augsburger Allgemeine (Land Nord)
Londons Brandwunde
Großbritannien Das verheerende Feuer im Grenfell Tower jährt sich zum fünften Mal. Aber die Erinnerungen an die Katastrophe sind bei den Anwohnern noch frisch. Und ihr Blick in die Zukunft ist düster.
London Fünf Jahre ist es bereits her, dass der Grenfell Tower im Westen Londons sich in ein flammendes Inferno verwandelte. Ein schreckliches Inferno, bei dem 72 Menschen den Tod fanden. Brandursache war – was unfassbar banal klingt – ein defekter Kühlschrank. Menschen, die in der Nähe des Towers leben, erinnern sich an die Ereignisse von damals jedoch, als seien sie gerade erst geschehen. Doch wie leben sie damit?
Eine von ihnen ist Moyra Samuels. Die 65-Jährige wohnt nur 300 Meter von dem Wohnturm entfernt. Noch in der Nacht der Katastrophe war sie aus dem Bett gesprungen und zu dem Hochhaus gerannt. Ein Gedanke traf sie damals ins Mark. Am nächsten Morgen hatte sie dort einen Freund treffen wollen. „Was ich dann mit ansehen musste, war schrecklich“, sagt sie und schweigt für einen Moment, als würde sie von den Bildern von damals wieder eingeholt. In dem Turm saßen Familien in ihren Wohnungen – umzingelt von lodernden Flammen. Menschen sprangen aus dem vierundzwanzigstöckigen Gebäude in die Tiefe. Manche schlugen ihre Fenster ein – vermutlich um Luft hereinzulassen, und Gardinen wehten im Wind. Andere flehten um Hilfe. Menschen schrien die Nummer ihrer Etage. „Es war der Anblick des brennenden Wohnturms, jene Hilflosigkeit in dieser Nacht, die viele Menschen in der Gemeinde bis heute traumatisieren“, sagt Samuels.
72 Menschen starben am 14. Juni 2017 in den Flammen oder an den Folgen des Brandes – darunter 18 Kinder. Vor allem diejenigen, die in den obersten Stockwerken wohnten, hatten kaum Chancen. Der Brand gilt als die verheerenste Katastrophe dieser Art im Königreich seit dem Zweiten Weltkrieg. Mittlerweile wurden die verkohlten Mauern des Wohnturmes mit weißen Folien eingehüllt. Hoch oben ist ein Plakat angebracht, darauf ist ein grünes Herz abgebildet, daneben steht: „Grenfell Tower. Forever in our Hearts“– „Grenfell Tower. Für immer in unseren Herzen“.
Eine Frage ging den Anwohnern schon damals durch den Kopf: Wie konnte das passieren? „Wir haben nicht verstanden, wie so etwas möglich ist“, erinnert sich Joy Morby, die das Feuer am Morgen von ihrer Wohnung aus beobachten konnte. Sie sah Flammen, Aschewolken. Es fiel ihr schwer, die Nachrichten, die sie im Radio hörte, mit dem zu vereinbaren, was vor ihren Augen geschah, erinnert sich die heute
Viele fragten sich: „Wer ist da noch drin?“
62-Jährige. Schließlich zog der Geruch des Rauchs, der aus dem Turm quoll, selbst in ihre vier Wände. „Wer ist da noch drin?“, schoss ihr wie vielen durch den Kopf. „Kommen alle rechtzeitig heraus?“Schnell wurde klar, dass nicht alle Menschen gerettet werden können.
Und auch, wie es zu der Katastrophe kommen konnte, ahnte man früh: Die leicht entzündbare Wetterschutzverkleidung auf der Fassade war schuld an dem verheerenden Brand in dem Sozialbau. Außerdem wurden die Menschen dazu aufgerufen, in ihren Wohnungen auf Hilfe zu warten – anstatt selbstständig so schnell wie möglich aus dem Gebäude zu flüchten, das mitten in einem der reichsten Viertel der britischen Hauptstadt im Bezirk Kensington und Chelsea steht.
In keinem anderen Stadtteil in London leben Arm und Reich so eng nebeneinander. „Nach dem Unglück hielt die Gemeinschaft jedoch zusammen“, erinnert sich Maja Neske. Die gebürtige Hamburgerin lebt in direkter Nachbarschaft des Grenfell Towers. Sie organisierte und verteilte Spenden. „Alle halfen, egal mit welchem Hintergrund”, erinnert sich die Architektin und beschreibt diese Zeit als eine der bewe
ihres Lebens. Sie beteiligte sich an den zunächst immer am 14. des Monats stattfindenden „Stillen Märschen“. Tausende Menschen liefen damals mit Plakaten durch die Straßen und forderten „Justice for Grenfell“, also „Gerechtigkeit für Grenfell“. Das grüne Herz, das heute auch noch auf dem Tower zu sehen ist, wurde zu einem Symbol für den gemeinsamen Kampf für besseren und vor allem sicheren sozialen Wohnungsbau in Großbritannien.
So wach wie die Erinnerung an die ersten Tage nach dem Brand ist, so groß ist mittlerweile der Frust vieler Menschen darüber, dass sich trotz der Proteste nicht genug getan hat. Die Grenfell-Aktivisten beklagten zum Beispiel, dass Bewohner des Wohnturmes im Vorfeld der Katastrophe Sorgen über die Sicherheit
des Gebäudes geäußert hatten – damit jedoch bei den zuständigen Unternehmen und Behörden kein Gehör fanden.
Eine kurz nach der Katastrophe durch die damalige Premierministerin Theresa May einberufene Untersuchungskommission kam unter anderem zu dem Ergebnis, dass der Brand von dem defekten Kühlschrank in Wohnung Nummer 16 ausging. Von dort konnte sich das Feuer aufgrund der schlecht gesicherten Außenverkleidung und unzureichender Brandschutzmaßnahmen schnell auf weite Teile des Gebäudes ausbreiten. Die Kommission stellte außerdem heraus, dass die Kommunikation zwischen den Feuerwehreinheiten vor Ort und der Einsatzzentrale verbessert werden müsse. Überdies sollten Unternehgendsten
men mehr Transparenz darüber herstellen, welche Baustoffe sie verwenden. In Gesetze gegossen wurden diese „Vorschläge“jedoch bislang nicht.
„Das dominierende Gefühl in der Gemeinde ist Wut”, erzählt die Deutsche Maja Neske. Viele sind sich einig: Wäre eine solche Katastrophe in einem Haus passiert, in dem reiche Menschen leben, dann hätte man viel früher nach dem Unglück Schritte unternommen, damit so etwas nie wieder passieren kann.
Die Tatenlosigkeit der Politik sehen sie als strukturelles Problem. Es werde nichts getan, weil es sich um die Belange von ärmeren Teilen der Bevölkerung handelt, von denen viele einen Migrationshintergrund haben. Zusätzlich traumatisierend war für Überlebende, aus ihrer
Nachbarschaft wegziehen zu müssen, weil es keinen Wohnraum für sie gab. Sie fühlten sich als Bürger zweiter Klasse. Diesen Monat kam, vielleicht auch anlässlich des Jahrestages, erstmals Bewegung in die Sache. Der Minister für Wohnungsbau und Gemeinden, Michael Gove, räumte ein, dass man Fehler gemacht habe: Nach der Tragödie hätten sich Politiker dazu verpflichtet, sicherzustellen, dass die Menschen Gehör finden – „und das haben wir nicht effektiv getan“. Deshalb soll sich in naher Zukunft eine Behörde einschalten, wenn die Verbraucherrechte von Mietern nicht gewahrt werden. Die Regierung kündigte zusätzlich an, Verkleidungen, wie sie beim Grenfell Tower verwendet wurden, Ende des Jahres zu verbieten – allerdings nur für Neubauten.
Der Kampf in Kensington ist damit nicht zu Ende und die Umgebung des Grenfell Towers weiter von dem Ereignis geprägt. Vor einer methodistischen Kirche stehen Blumen. Eine Mauer, die als Absperrung zu dem Gelände dient, ist zu einem Ort des Erinnerns geworden. Darauf sind Sprüche von Angehörigen zu lesen, gerichtet an die Verstorbenen: „Gone but never forgotten“– also: „Gegangen, aber niemals vergessen“. Oder auch: „We will meet again“– „Wir werden uns wiedersehen“. In den Straßen um das Hochhaus finden sich bunte Graffitis und kunstvolle Mosaike. Studien ergaben, dass viele Menschen durch die Katastrophe ein Trauma erlitten hatten, die Selbsttötungsrate in der Gegend stieg.
„Menschen verarbeiten das Erlebte oft, indem sie etwas erschaffen“, sagt Allie Brown, die für ein soziales Kunstprojekt namens „Project 240“arbeitet. Was dabei entsteht, zeigt ein Community-Garten, nur einen Steinwurf vom Wohnturm entfernt.
Er steht für die Geschichte von Tayshan Haydan Smith. Der 25-Jährige verwandelte nach dem Unglück eine brachliegende, mit Müll übersäte gemeinschaftliche Fläche in ein romantisches Grün mit wilden Blumen. Es war der Anfang seiner Karriere als Gärtner. Kürzlich gestaltete er einen Garten bei der „Chelsea Flower Show“mit, eine der berühmtesten BlumenMessen der Welt.
In den Räumlichkeiten von „Project 240“stellt die Künstlerin Tuesday Greenige ihre Art der Verarbeitung vor: einen über sechs Quadratmeter großen, farbenfrohen Quilt. In gemeinschaftlicher Arbeit soll der Flickenteppich am Ende so groß wie der Grenfell Tower werden, formuliert sie ihr ambitioniertes Ziel. Die Tochter der 55-Jährigen hatte das Unglück überlebt. Sie war in der Nacht zu Besuch bei Freunden. „Sie spricht nicht so oft darüber“, sagt Greenige.
Zu einem umstrittenen Thema gehört die Frage, wie man des Unglücks gedenken soll. Manche sind dafür, die Folie um das Gebäude zu entfernen, um daran zu erinnern, was passiert ist. David O’Connell blickte nach dem Unglück wochenlang von seinem Esstisch direkt auf den verkohlten Wohnturm. „Meine Partnerin konnte das nicht ertragen“, berichtete er kürzlich. Dann wurde der Turm in eine weiße Folie eingehüllt. In manchen Nächten erzeuge diese ein heulendes Geräusch im Wind. Trotzdem sei es so besser, sagt O’Connell. „Es ist schwer, mit dem Turm zu leben, aber er ist ein
Die Ruine wird von der Regierung verwaltet
wesentlicher Bestandteil der Gemeinde.“
Inzwischen ist das Areal, auf dem der Tower steht, in den Besitz der Krone übergegangen. Die Ruine wird von der britischen Regierung verwaltet. Es gibt Pläne, den Turm komplett abzureißen. Jacqueline Haynes kannte mehrere der Verstorbenen und ist entsetzt über die Vorstellung, dass der Grenfell Tower für immer zerstört werden könnte. „Ich möchte, dass so viele Stockwerke wie möglich stehen bleiben“, sagte sie. Moyra Samuels findet, dass die Hinterbliebenen entscheiden sollten, was passiert. Einen gemeinsamen Ort des Gedenkens brauche man aber in jedem Fall, auch damit „zukünftige Generationen daran erinnern“.
Am Jahrestag des Unglücks – am Dienstag, 14. Juni – ist ein „Stiller Marsch” am Abend in der Nähe des Grenfell Towers geplant. Mit dabei sein wird auch Moyra Samuels. „Dann hole ich mein Banner raus und ziehe meinen Kampagnen-Hut auf“, sagt sie. Für sie ist Engagement ihre Therapie. „Ich will mich nicht hängenlassen.“Stattdessen lebe sie nach dem Motto: „Trauere um die Toten, aber kämpfe für die Lebenden.“