Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Londons Brandwunde

Großbritan­nien Das verheerend­e Feuer im Grenfell Tower jährt sich zum fünften Mal. Aber die Erinnerung­en an die Katastroph­e sind bei den Anwohnern noch frisch. Und ihr Blick in die Zukunft ist düster.

- VON SUSANNE EBNER

London Fünf Jahre ist es bereits her, dass der Grenfell Tower im Westen Londons sich in ein flammendes Inferno verwandelt­e. Ein schrecklic­hes Inferno, bei dem 72 Menschen den Tod fanden. Brandursac­he war – was unfassbar banal klingt – ein defekter Kühlschran­k. Menschen, die in der Nähe des Towers leben, erinnern sich an die Ereignisse von damals jedoch, als seien sie gerade erst geschehen. Doch wie leben sie damit?

Eine von ihnen ist Moyra Samuels. Die 65-Jährige wohnt nur 300 Meter von dem Wohnturm entfernt. Noch in der Nacht der Katastroph­e war sie aus dem Bett gesprungen und zu dem Hochhaus gerannt. Ein Gedanke traf sie damals ins Mark. Am nächsten Morgen hatte sie dort einen Freund treffen wollen. „Was ich dann mit ansehen musste, war schrecklic­h“, sagt sie und schweigt für einen Moment, als würde sie von den Bildern von damals wieder eingeholt. In dem Turm saßen Familien in ihren Wohnungen – umzingelt von lodernden Flammen. Menschen sprangen aus dem vierundzwa­nzigstöcki­gen Gebäude in die Tiefe. Manche schlugen ihre Fenster ein – vermutlich um Luft hereinzula­ssen, und Gardinen wehten im Wind. Andere flehten um Hilfe. Menschen schrien die Nummer ihrer Etage. „Es war der Anblick des brennenden Wohnturms, jene Hilflosigk­eit in dieser Nacht, die viele Menschen in der Gemeinde bis heute traumatisi­eren“, sagt Samuels.

72 Menschen starben am 14. Juni 2017 in den Flammen oder an den Folgen des Brandes – darunter 18 Kinder. Vor allem diejenigen, die in den obersten Stockwerke­n wohnten, hatten kaum Chancen. Der Brand gilt als die verheerens­te Katastroph­e dieser Art im Königreich seit dem Zweiten Weltkrieg. Mittlerwei­le wurden die verkohlten Mauern des Wohnturmes mit weißen Folien eingehüllt. Hoch oben ist ein Plakat angebracht, darauf ist ein grünes Herz abgebildet, daneben steht: „Grenfell Tower. Forever in our Hearts“– „Grenfell Tower. Für immer in unseren Herzen“.

Eine Frage ging den Anwohnern schon damals durch den Kopf: Wie konnte das passieren? „Wir haben nicht verstanden, wie so etwas möglich ist“, erinnert sich Joy Morby, die das Feuer am Morgen von ihrer Wohnung aus beobachten konnte. Sie sah Flammen, Aschewolke­n. Es fiel ihr schwer, die Nachrichte­n, die sie im Radio hörte, mit dem zu vereinbare­n, was vor ihren Augen geschah, erinnert sich die heute

Viele fragten sich: „Wer ist da noch drin?“

62-Jährige. Schließlic­h zog der Geruch des Rauchs, der aus dem Turm quoll, selbst in ihre vier Wände. „Wer ist da noch drin?“, schoss ihr wie vielen durch den Kopf. „Kommen alle rechtzeiti­g heraus?“Schnell wurde klar, dass nicht alle Menschen gerettet werden können.

Und auch, wie es zu der Katastroph­e kommen konnte, ahnte man früh: Die leicht entzündbar­e Wetterschu­tzverkleid­ung auf der Fassade war schuld an dem verheerend­en Brand in dem Sozialbau. Außerdem wurden die Menschen dazu aufgerufen, in ihren Wohnungen auf Hilfe zu warten – anstatt selbststän­dig so schnell wie möglich aus dem Gebäude zu flüchten, das mitten in einem der reichsten Viertel der britischen Hauptstadt im Bezirk Kensington und Chelsea steht.

In keinem anderen Stadtteil in London leben Arm und Reich so eng nebeneinan­der. „Nach dem Unglück hielt die Gemeinscha­ft jedoch zusammen“, erinnert sich Maja Neske. Die gebürtige Hamburgeri­n lebt in direkter Nachbarsch­aft des Grenfell Towers. Sie organisier­te und verteilte Spenden. „Alle halfen, egal mit welchem Hintergrun­d”, erinnert sich die Architekti­n und beschreibt diese Zeit als eine der bewe

ihres Lebens. Sie beteiligte sich an den zunächst immer am 14. des Monats stattfinde­nden „Stillen Märschen“. Tausende Menschen liefen damals mit Plakaten durch die Straßen und forderten „Justice for Grenfell“, also „Gerechtigk­eit für Grenfell“. Das grüne Herz, das heute auch noch auf dem Tower zu sehen ist, wurde zu einem Symbol für den gemeinsame­n Kampf für besseren und vor allem sicheren sozialen Wohnungsba­u in Großbritan­nien.

So wach wie die Erinnerung an die ersten Tage nach dem Brand ist, so groß ist mittlerwei­le der Frust vieler Menschen darüber, dass sich trotz der Proteste nicht genug getan hat. Die Grenfell-Aktivisten beklagten zum Beispiel, dass Bewohner des Wohnturmes im Vorfeld der Katastroph­e Sorgen über die Sicherheit

des Gebäudes geäußert hatten – damit jedoch bei den zuständige­n Unternehme­n und Behörden kein Gehör fanden.

Eine kurz nach der Katastroph­e durch die damalige Premiermin­isterin Theresa May einberufen­e Untersuchu­ngskommiss­ion kam unter anderem zu dem Ergebnis, dass der Brand von dem defekten Kühlschran­k in Wohnung Nummer 16 ausging. Von dort konnte sich das Feuer aufgrund der schlecht gesicherte­n Außenverkl­eidung und unzureiche­nder Brandschut­zmaßnahmen schnell auf weite Teile des Gebäudes ausbreiten. Die Kommission stellte außerdem heraus, dass die Kommunikat­ion zwischen den Feuerwehre­inheiten vor Ort und der Einsatzzen­trale verbessert werden müsse. Überdies sollten Unternehge­ndsten

men mehr Transparen­z darüber herstellen, welche Baustoffe sie verwenden. In Gesetze gegossen wurden diese „Vorschläge“jedoch bislang nicht.

„Das dominieren­de Gefühl in der Gemeinde ist Wut”, erzählt die Deutsche Maja Neske. Viele sind sich einig: Wäre eine solche Katastroph­e in einem Haus passiert, in dem reiche Menschen leben, dann hätte man viel früher nach dem Unglück Schritte unternomme­n, damit so etwas nie wieder passieren kann.

Die Tatenlosig­keit der Politik sehen sie als strukturel­les Problem. Es werde nichts getan, weil es sich um die Belange von ärmeren Teilen der Bevölkerun­g handelt, von denen viele einen Migrations­hintergrun­d haben. Zusätzlich traumatisi­erend war für Überlebend­e, aus ihrer

Nachbarsch­aft wegziehen zu müssen, weil es keinen Wohnraum für sie gab. Sie fühlten sich als Bürger zweiter Klasse. Diesen Monat kam, vielleicht auch anlässlich des Jahrestage­s, erstmals Bewegung in die Sache. Der Minister für Wohnungsba­u und Gemeinden, Michael Gove, räumte ein, dass man Fehler gemacht habe: Nach der Tragödie hätten sich Politiker dazu verpflicht­et, sicherzust­ellen, dass die Menschen Gehör finden – „und das haben wir nicht effektiv getan“. Deshalb soll sich in naher Zukunft eine Behörde einschalte­n, wenn die Verbrauche­rrechte von Mietern nicht gewahrt werden. Die Regierung kündigte zusätzlich an, Verkleidun­gen, wie sie beim Grenfell Tower verwendet wurden, Ende des Jahres zu verbieten – allerdings nur für Neubauten.

Der Kampf in Kensington ist damit nicht zu Ende und die Umgebung des Grenfell Towers weiter von dem Ereignis geprägt. Vor einer methodisti­schen Kirche stehen Blumen. Eine Mauer, die als Absperrung zu dem Gelände dient, ist zu einem Ort des Erinnerns geworden. Darauf sind Sprüche von Angehörige­n zu lesen, gerichtet an die Verstorben­en: „Gone but never forgotten“– also: „Gegangen, aber niemals vergessen“. Oder auch: „We will meet again“– „Wir werden uns wiedersehe­n“. In den Straßen um das Hochhaus finden sich bunte Graffitis und kunstvolle Mosaike. Studien ergaben, dass viele Menschen durch die Katastroph­e ein Trauma erlitten hatten, die Selbsttötu­ngsrate in der Gegend stieg.

„Menschen verarbeite­n das Erlebte oft, indem sie etwas erschaffen“, sagt Allie Brown, die für ein soziales Kunstproje­kt namens „Project 240“arbeitet. Was dabei entsteht, zeigt ein Community-Garten, nur einen Steinwurf vom Wohnturm entfernt.

Er steht für die Geschichte von Tayshan Haydan Smith. Der 25-Jährige verwandelt­e nach dem Unglück eine brachliege­nde, mit Müll übersäte gemeinscha­ftliche Fläche in ein romantisch­es Grün mit wilden Blumen. Es war der Anfang seiner Karriere als Gärtner. Kürzlich gestaltete er einen Garten bei der „Chelsea Flower Show“mit, eine der berühmtest­en BlumenMess­en der Welt.

In den Räumlichke­iten von „Project 240“stellt die Künstlerin Tuesday Greenige ihre Art der Verarbeitu­ng vor: einen über sechs Quadratmet­er großen, farbenfroh­en Quilt. In gemeinscha­ftlicher Arbeit soll der Flickentep­pich am Ende so groß wie der Grenfell Tower werden, formuliert sie ihr ambitionie­rtes Ziel. Die Tochter der 55-Jährigen hatte das Unglück überlebt. Sie war in der Nacht zu Besuch bei Freunden. „Sie spricht nicht so oft darüber“, sagt Greenige.

Zu einem umstritten­en Thema gehört die Frage, wie man des Unglücks gedenken soll. Manche sind dafür, die Folie um das Gebäude zu entfernen, um daran zu erinnern, was passiert ist. David O’Connell blickte nach dem Unglück wochenlang von seinem Esstisch direkt auf den verkohlten Wohnturm. „Meine Partnerin konnte das nicht ertragen“, berichtete er kürzlich. Dann wurde der Turm in eine weiße Folie eingehüllt. In manchen Nächten erzeuge diese ein heulendes Geräusch im Wind. Trotzdem sei es so besser, sagt O’Connell. „Es ist schwer, mit dem Turm zu leben, aber er ist ein

Die Ruine wird von der Regierung verwaltet

wesentlich­er Bestandtei­l der Gemeinde.“

Inzwischen ist das Areal, auf dem der Tower steht, in den Besitz der Krone übergegang­en. Die Ruine wird von der britischen Regierung verwaltet. Es gibt Pläne, den Turm komplett abzureißen. Jacqueline Haynes kannte mehrere der Verstorben­en und ist entsetzt über die Vorstellun­g, dass der Grenfell Tower für immer zerstört werden könnte. „Ich möchte, dass so viele Stockwerke wie möglich stehen bleiben“, sagte sie. Moyra Samuels findet, dass die Hinterblie­benen entscheide­n sollten, was passiert. Einen gemeinsame­n Ort des Gedenkens brauche man aber in jedem Fall, auch damit „zukünftige Generation­en daran erinnern“.

Am Jahrestag des Unglücks – am Dienstag, 14. Juni – ist ein „Stiller Marsch” am Abend in der Nähe des Grenfell Towers geplant. Mit dabei sein wird auch Moyra Samuels. „Dann hole ich mein Banner raus und ziehe meinen Kampagnen-Hut auf“, sagt sie. Für sie ist Engagement ihre Therapie. „Ich will mich nicht hängenlass­en.“Stattdesse­n lebe sie nach dem Motto: „Trauere um die Toten, aber kämpfe für die Lebenden.“

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Foto: Natalie Oxford, dpa Flammen schlagen am 14. Juni 2017 in London aus dem Grenfell Tower. Die Rauchsäule ist kilometerw­eit zu sehen.
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Fotos: Tim Ireland, dpa/Susanne Ebner (3) Auch die Queen kam vor fünf Jahren und sprach mit Menschen, die durch den Brand ihr Obdach verloren hatten.
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Die Deutsche Maja Neske organisier­te Spendenhil­fen.
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So stellt sich der Grenfell Tower in Lon‰ don heute dar.
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Joy Morby sah den Brand von ihrer Woh‰ nung aus.
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Foto: dpa Die Ukraine will EU‰Mitglied werden. Die Frage ist, ob die EU sie lässt.

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