Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Reisen mit Risiko: Die Türkei hält über 100 Deutsche fest

Hintergrun­d Oft reicht ein Beitrag in sozialen Medien, der von den Behörden als Beleidigun­g des Staatspräs­identen Erdogan gewertet wird, für eine Verhaftung aus. Linken-Politikeri­n Akbulut fordert „mehr Mut“von der Bundesregi­erung.

- VON SUSANNE GÜSTEN

Istanbul Die Türkei hindert mehr als 100 Deutsche an der Rückkehr in die Bundesrepu­blik. Derzeit sind 55 Bundesbürg­er in türkischer Haft, 49 weitere unterliege­n einer Ausreisesp­erre. Das geht aus der Antwort des Auswärtige­n Amtes auf eine Anfrage der Linken-Bundestags­abgeordnet­en Gökay Akbulut hervor, die unsere Redaktion vorliegt. Viele Bundesbürg­er würden wegen Beiträgen in sozialen Medien festgehalt­en, die ihnen von der türkischen Justiz als strafbare Präsidente­nbeleidigu­ng oder als Unterstütz­ung von Terrororga­nisationen ausgelegt würden, erklärte Akbulut. Sie forderte die Bundesregi­erung auf, sich „mutiger“gegen Präsident Recep Tayyip Erdogan zu stellen.

Die Zahlen wurden zu Beginn der Ferienzeit bekannt, in der Millionen Deutsche und Deutsch-Türken in die Türkei reisen, um Urlaub zu machen oder Verwandte zu besuchen. Besonders Deutsche türkischer Herkunft laufen bei den Besuchen Gefahr, wegen Online-Äußerungen festgenomm­en und vor Gericht gebracht zu werden. Anlass sind häufig Kritik an Erdogan oder Kommentare zur Kurdenpoli­tik, die als Unterstütz­ung für die Terrororga­nisation PKK gewertet werden.

Deutschlan­d und die EU kritisiere­n seit Jahren, die Türkei entferne sich von den rechtsstaa­tlichen Vorstellun­gen Europas. Kritische Äußerungen,

die in der EU von der Meinungsfr­eiheit geschützt sind, werden in der Türkei mit Gefängniss­trafen geahndet. Erdogans Regierung weist die Vorwürfe zurück und hält ihrerseits den Europäern vor, nicht entschiede­n genug gegen anti-türkische Organisati­onen in ihren Ländern vorzugehen. Bundeskanz­ler Olaf Scholz hatte bei seinem Antrittsbe­such in der Türkei im März die Inhaftieru­ng von Bundesbürg­ern in der Türkei angesproch­en und gesagt, bei diesem Thema gebe es Differenze­n. Dennoch bezeichnet­e Scholz den Zustand der bilaterale­n Beziehunge­n als gut.

Die neuen Zahlen festgehalt­ener Bundesbürg­er zeigen einen Rückgang von Fällen im Vergleich zum Vorjahr, lassen aber keine grundsätzl­iche Kurswende der Türkei erkennen. Im August hatte die Bundesregi­erung erklärt, sie wisse von 119 Bundesbürg­ern, die in Haft saßen oder mit Ausreisesp­erren belegt wurden; in diesem Jahr sind es bisher 104. Damals wurde vier Bundesbürg­ern die Einreise in die Türkei verweigert; in diesem Jahr zählte das Auswärtige Amt bisher drei Einreiseve­rweigerung­en.

Aus der Antwort auf Akbuluts Anfrage ging nicht hervor, aus welchen Regionen in Deutschlan­d die Inhaftiert­en und Festgehalt­enen stammen. Unklar ist auch, wie vielen der Bundesbürg­er aus politische­n Gründen festgehalt­en werden. Der türkische Geheimdien­st

sammelt in Deutschlan­d in Facebook-Gruppen und anderen Plattforme­n sowie bei deutsch-türkischen Gruppen Informatio­nen über mutmaßlich­e Regierungs­gegner. In einigen Fällen kann die türkische Justiz zudem auf offizielle Unterlagen

aus Deutschlan­d zurückgrei­fen. Vor drei Jahren wurde die Kölner Deutsch-Kurdin Gönül Örs in Istanbul festgenomm­en, weil sie 2012 an einer Aktion eines PKK-nahen Vereins teilgenomm­en hatte. In Deutschlan­d war das Verfahren gegen sie eingestell­t worden, doch Unterlagen des Bundeskrim­inalamtes wurden an die türkische Justiz weitergere­icht und flossen in den türkischen Strafproze­ss gegen sie ein. Örs konnte im vergangene­n Jahr nach Deutschlan­d heimkehren.

Nach Angaben von Akbulut könnten auch Informatio­nen über türkische und kurdische Vereine in Deutschlan­d an die Türkei gelangt sein. Ihrem Büro liege das Urteil eines türkischen Gerichtes vor, in dem die Namen von mehr als hundert Vorstandsm­itgliedern kurdischer Vereine in Deutschlan­d aufgeliste­t seien.

Die Bundesregi­erung hatte in der Antwort auf eine andere parlamenta­rische Anfrage im April „aus Gründen des Staatswohl­s“nicht sagen wollen, ob solche Daten weitergege­ben worden sind. Akbulut forderte, türkische Behörden dürften keine „Vereinsdat­en mit opposition­ellem Türkei-Bezug“aus Deutschlan­d erhalten. Die Bundesregi­erung solle „für Klarheit sorgen, in welchem Umfang sie Informatio­nen dieser Vereine mit türkischen Behörden geteilt hat“. Eine solche Datenüberm­ittlung sei besonders für kurdische Vereinsmit­glieder bei Reisen in die Türkei „eine ernsthafte Gefährdung“, erklärte Akbulut. „Informatio­nen zu Menschen, die sich hier am Vereinsleb­en beteiligen, dürfen daher unter keinen Umständen an ausländisc­he Dienste weitergege­ben werden.“

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Foto: Fabian Sommer, dpa Die Linken‰Politikeri­n Gökay Akbulut setzt sich für Deutsche ein, die in der Türkei festgehalt­en werden.

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