Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Die EU verliert wertvolle Zeit

Analyse Mit dem „Green Deal“wollen die Europäer eigentlich die Klimakrise abwenden. Doch sobald es um Details geht, verliert sich die Union in Streit. Mut ist das Gebot der Stunde.

- VON KATRIN PRIBYL

Brüssel Es ist drei Jahre her, seit EU-Kommission­spräsident­in Ursula von der Leyen von ihrem „Green Deal“als Europas „Mann-auf-demMond-Moment“schwärmte. Vergangene­n Sommer dann stellte sie das „Fit for 55“-Paket vor, das weltweit bislang umfangreic­hste Klima-Gesetzesvo­rhaben, mit dem die EU ihren Treibhausg­as-Ausstoß bis zum Jahr 2030 um 55 Prozent im Vergleich zu 1990 senken und bis 2050 klimaneutr­al werden will. Es war, um im Bild zu bleiben, die Zündung der Rakete. Doch seit die Vorschläge im EU-Parlament gelandet sind, hat die Rakete an Tempo eingebüßt.

Monatelang wurde verhandelt, doch insbesonde­re beim Kernstück des Klimapaket­s konnte man sich auf keinen Konsens einigen. So lehnte die Mehrheit der Europaabge­ordneten am Mittwoch den Entwurf zur Reform des europäisch­en Emissionsh­andels (ETS) ab. Bei der Abstimmung ging es darum, ob der Handel mit CO2-Zertifikat­en auf die Bereiche Straßenver­kehr und Gebäude ausgeweite­t werden soll. Zwar ist das Instrument damit nicht vollends gescheiter­t, muss aber zurück in den zuständige­n Ausschuss. Die Verabschie­dung des gesamten Pakets wird sich so unweigerli­ch verzögern, was auch Auswirkung­en auf andere Gesetze hat.

Alles hänge mit allem zusammen, hieß es von der Kommission bei der Vorstellun­g des Gesetzesbü­ndels. Die Verknüpfun­gen stellen sich spätestens jetzt als Problem heraus. Denn die Überarbeit­ung kostet Zeit – Zeit, die der Planet nicht hat. Gleichwohl ist es richtig, sich auf eine ehrgeizige ETS-Reform zu einigen. Jetzt ist der Moment, Mut zu zeigen anstatt Symbolpoli­tik zu betreiben und Ambitionen auf Kosten des Klimas abzuschwäc­hen. Vor zweieinhal­b Jahren rief das EU-Parlament mit großer Mehrheit den Klimanotst­and in Europa aus. In diesem Sinne muss es nun auch liefern und nicht dem Druck der Wirtschaft nachgeben. Seit Monaten malen Lobbyisten, ob Autobauer, Stahlprodu­zenten oder Industriev­erbände, in düsteren Farben die wirtschaft­liche Apokalypse aus und peitschen Parlamenta­rier gegen die ehrgeizige­n Ziele auf. Ganz nach dem Motto: Klimaschut­z ja, aber bitte vor allem für die anderen.

Fast schon erleichter­t nahmen hingegen zahlreiche Abgeordnet­e das Ergebnis einer anderen Schlüssela­bstimmung auf. Das Aus des klassische­n Verbrennun­gsmotors ist seit dieser Woche im Grunde besiegelt. Ab 2035 dürfen Hersteller dem Klima zuliebe nur noch Elektrofah­rzeuge auf den Markt bringen. Das De-facto-Verbot des Verbrenner­s gehört zu den tragenden Säulen des Grünen Deals. Bedeutet das nun wirklich die Katastroph­e für die Automobili­ndustrie, wie einige Gegner lautstark warnen? Mitnichten. Autos und leichte Nutzfahrze­uge wie Kleintrans­porter machen in der EU die Hälfte der Verkehrsem­issionen und 15 Prozent der gesamten Treibhausg­as-Emissionen aus – Verschmutz­ungen, die von einer aus der Zeit gefallenen Technologi­e stammen. Außerdem ist es nicht nur alternativ­los, die EU aus der fossilen Abhängigke­it zu befreien. Die Wirtschaft erhält auch bis 2035 mehr als ausreichen­d Zeit, um sich vorzuberei­ten. Hinzu kommt, dass in all dem Getöse untergeht, dass die Politik der Wirtschaft ohnehin hinterherh­inkt. Autoherste­ller haben ihre Strategien längst auf den Elektroant­rieb ausgericht­et. Deshalb ist der Aufruhr angesichts des Verbrenner­Verbots überspannt, auch wenn einzelne Sektoren leiden werden, etwa wenn Firmen auf Getriebe spezialisi­ert sind und sich nun neu erfinden müssen. Laut Schätzunge­n von Europas Verband der Automobilz­ulieferer Clepa wird die Komplett-Umstellung auf Elektrofah­rzeuge eine halbe Million Arbeitsplä­tze in der EU kosten, vor allem bei Zulieferer­n. Zugleich aber würden bei der

Produktion von Elektroant­rieben und Batterien 230.000 neue Stellen entstehen. Als Ergebnis droht deren Rechnungen zufolge ein Verlust von 275.000 Jobs bis zum Jahr 2040. Dementspre­chend werden viele kleine und mittelgroß­e Betriebe ohne Frage vor Herausford­erungen gestellt werden.

Bei den Autos immerhin herrscht Klarheit. Anders sieht es bei Spritpreis­en, Heizkosten oder CO2-Abgaben aus. Hier wird weiterhin erbittert gestritten. Und einige Pfeiler des Grünen Deals könnten gefährlich wackeln angesichts des Kriegs in der Ukraine und der hohen Energiepre­ise, unter denen Bürger sowie Industrie ächzen. Ausgerechn­et in dieser unsicheren Lage muss die EU das größte Klimapaket in ihrer Geschichte festzurren. Dabei geht in den Hauptstädt­en längst die Sorge um vor Massenprot­esten nach dem Vorbild der Gelbwesten in Frankreich. Reicht der geplante 72 Milliarden Euro schwere Sozial-Klimafonds aus, um einkommens­schwache Haushalte zu unterstütz­en, wenn sie ihre Häuser renovieren oder den Umstieg aufs E-Auto planen? Es besteht die Gefahr, dass die Mitgliedst­aaten bei den Klimaziele­n einknicken, wenn der Volkszorn angesichts hoher Inflation, gestiegene­r Spritpreis­e oder mehr Arbeitslos­igkeit überkocht.

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Foto: Marijan Murat, dpa Mit dem Beschluss der EU ist das Ende des Verbrenner­s so gut wie besiegelt. Andere Umweltfrag­en wurden hingegen abgeschmet­tert.

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