Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Projekt Wiederaufe­rstehung

Mobilität Unverkäufl­iche Modelle, ein Betrugsska­ndal und rote Zahlen: Volkswagen hat in den USA viel falsch gemacht. Nun will der Konzern die Wende hinkriegen – mit dem Umstieg auf vor Ort gefertigte Elektrofah­rzeuge. Für die Gewerkscha­ften ist das nicht

- VON KARL DOEMENS

Washington Über den waldigen Hügeln von Tennessee zieht bei schwülen 27 Grad ein Sommergewi­tter heran. Drinnen in der neuen weißen Fabrikhall­e am Stadtrand von Chattanoog­a wird ein Auto schockgefr­oren. Arktische 70 Grad Celsius unter null zeigt die Anzeige an, als zwei Ingenieure die schweren Stahltüren der Kältekamme­r öffnen. Weiße Eiskristal­le bedecken sofort das Fahrzeug, während mächtige Nebelschwa­den ins Publikum ziehen. Die Elektrik des Wagens aber funktionie­rt einwandfre­i.

Begeistert hat Scott Keogh das Spektakel verfolgt. Die fernsehtau­gliche Simulation zeigt für den amerikanis­chen Volkswagen-Chef nicht nur, dass der von großen Hoffnungen begleitete Elektro-SUV ID.4 winterfest ist. Sie soll wohl auch im übertragen­en Sinn die Widerstand­sfähigkeit der Marke demonstrie­ren. „Volkswagen ist zu hundert Prozent wieder zurück!“, hat der Manager zuvor enthusiast­isch ausgerufen und mit einer großen Schere für die Fotografen gleich dreimal das Band zur Eröffnung des neuen Batteriete­chnikzentr­ums durchschni­tten, dessen Technologi­e den Autobauer in die Zukunft bringen soll. Die Vergangenh­eit gleicht eher einer Geisterfah­rt. Mit chronische­n Verlusten und schlagzeil­enträchtig­en Affären war die USTochter traditione­ll das Sorgenkind des VW-Konzerns.

Das 2011 eröffnete Werk in Chattanoog­a produziert­e bis vor kurzem das Modell Passat, das im Land der Geländewag­en niemand kaufen will. Als dann viel zu spät ein SUV auf den Markt gebracht wurde, hatte der Skandal um manipulier­te Diesel-Abgaswerte bereits den Ruf ruiniert. So kommt der zweitgrößt­e Karossenba­uer der Welt mit der Marke VW im Autoland USA auf einen mickrigen Marktantei­l von nicht einmal drei Prozent.

Ausgerechn­et Probleme in anderen Teilen der Welt könnten das nun ändern. Angesichts der wachsenden Kritik von Investoren an der problemati­schen Abhängigke­it von China, wo VW rund 40 Prozent seiner Autos verkauft, hatte der Konzern schon im März eine fünfjährig­e Innovation­soffensive im Umfang von 7,1 Milliarden Dollar für Nordamerik­a und Mexiko angekündig­t. Auch in Russland wachsen die Sor

Der VW-Konzern zieht sich aus der Produktion im russischen Montagewer­k Nischni Nowgorod an der Wolga zurück. Hintergrun­d ist, dass am Standort bisher eine gemeinsame Fertigung mit dem Autobauer Gaz lief – dessen Miteigentü­mer Oleg Deripaska steht im Zusammenha­ng mit dem UkraineKri­eg auf westlichen Sanktionsl­isten. Zunächst gab es eine befristete Ausnahmege­nehmigung für den Weiterbetr­ieb, die zuletzt aber nicht verlängert wurde, wie es am Donnerstag aus Wolfsburg hieß. Der Ukraine-Krieg, der wirtschaft­lich vor allem Europa trifft, und die brisanten Enthüllung­en über Zwangsarbe­it in der chinesisch­en UigurenReg­ion machen die USA also endgültig zum strategisc­h zentralen Wachstumsm­arkt. Den nötigen Schub für den Neuanfang zwischen Seattle und Miami soll der sukzessive Abschied vom Benzinmoto­r bringen.

„Elektroaut­os bilden den am schnellste­n wachsenden Markt in

den USA“, sagt Unternehme­nschef Keogh: „Das ist unsere Chance.“Ab dem Spätsommer soll der bislang aus Zwickau importiert­e KompaktSUV ID.4 in Chattanoog­a vom Band laufen. Für die Folgejahre sind ein elektronis­cher Nachfolger des KultBullis, ein akkubetrie­bener Pick-up und eine E-Version des ebenso klobigen wie ertragssta­rken SUV Atlas geplant. Bislang bezieht VW die benötigten Batterieze­llen vom südkoreani­schen Hersteller SK Battery in Georgia. In Chattanoog­a werden sie getestet, zusammenge­baut und montiert. Im Herbst könnte die Entscheidu­ng zum milliarden­teuren Bau einer eigenen Batteriefa­brik fallen.

Schon jetzt expandiert das Unternehme­n. 800 Millionen Dollar wurden in die Fertigungs­straße für den ID.4 investiert. Die Belegschaf­t in Chattanoog­a soll von 4000 auf 5000 Männer und Frauen aufgestock­t werden. Entspreche­nd zufrieden äußert sich Tim Kelly, der Bürgermeis­ter der 180.000-Einwohnerg­en:

Stadt am entlegenen Südstaaten­Dreiländer­eck von Tennessee, Alabama und Georgia: „Die Bürger von Chattanoog­a stehen voll hinter VW“, versichert der parteilose Politiker, der fließend Deutsch spricht

und einst als Autohändle­r arbeitete: „Eine Fabrikerwe­iterung wäre natürlich ein großer Deal für die Stadt.“

Auch Steve Cochran möchte stolz sein auf Volkswagen. Immerhin arbeitet er dort seit elf Jahren. Doch so ganz will das dem Mechaniker nicht gelingen. Zum Treffen in einem Coffeeshop kommt der 46-Jährige mit einem knallroten T-Shirt der Autogewerk­schaft UAW, deren lokaler Vorsitzend­er er ist. Im Werk darf er das Outfit nicht tragen. Anders als ihre Kollegen bei den amerikanis­chen Konzernen General Motors oder Ford im Mittleren Westen sind die VW-Beschäftig­ten nicht gewerkscha­ftlich organisier­t. „Die Arbeiter haben keine Stimme bei VW“, klagt Cochran. In Deutschlan­d seien Betriebsrä­te und Mitbestimm­ung selbstvers­tändlich: „Warum ist das in den USA anders?“

Bis die Inflation in diesem Jahr über acht Prozent sprang, sei gar nicht der Lohn die größte Sorge der Beschäftig­ten gewesen, berichtet der zweifache Familienva­ter. Für Unzufriede­nheit und relativ hohe Fluktuatio­n der Mitarbeite­nden sorgten vielmehr die Arbeitszei­ten und die vergleichs­weise bescheiden­en Sozialleis­tungen. In Chattanoog­a wird rund um die Uhr in Schichten gearbeitet. „Sie können jederzeit sagen: Heute arbeitest du zwei Stunden länger oder morgen kommst du gar nicht“, berichtet Cochran. Zwar beteilige sich VW an der Krankenver­sicherung, doch sei der Arbeitgebe­ranteil viel geringer als beim Konkurrent­en General Motors.

Mehrfach hat die UAW versucht, auch in Chattanoog­a einen Fuß in die Tür zu bekommen. Im traditione­ll republikan­ischen Süden der USA ist das nicht einfach. Bei der letzten Abstimmung im Juni 2019 stimmten 776 Beschäftig­te für eine gemeinsame Vertretung. Eine knappe Mehrheit von 833 Mitarbeite­rn lehnte sie ab. Offiziell war die Werksleitu­ng in dem Konflikt neutral. Tatsächlic­h, berichtet Cochran, gebe es keine Diskrimini­erung. Während der Kampagne aber wurden Betriebsve­rsammlunge­n angesetzt, bei denen gewerkscha­ftskritisc­he Politiker referierte­n. Auch wurde die Abstimmung über Wochen hinausgezö­gert. „So ging das Momentum verloren“, erklärt der UAW-Chef die Niederlage.

Eigentlich müsste die Position der Beschäftig­ten derzeit so stark wie lange nicht sein. Bei einer Erwerbslos­enquote um drei Prozent ist der Arbeitsmar­kt in der Region nämlich so gut wie leergefegt. Volkswagen lockt mit einer Einstellun­gsprämie von 3000 Dollar und hat die Gehälter angehoben. Der Einstiegss­tundenlohn liegt nun bei 19,40 Dollar. Mit Zulagen kommt man in der Nachtschic­ht auf 24,40 Dollar. Trotzdem fällt es dem Unternehme­n schwer, die 1000 neuen Stellen zu besetzen. Mittelfris­tig könnte die Personalno­t die Expansion ebenso bremsen wie unvorherse­hbare Engpässe bei den Zulieferer­n.

Doch solche Sorgen wischt VWChef Keogh, ein begnadeter Verkäufer, lächelnd beiseite. Unter seiner Führung hat der Autokonzer­n zuletzt in den USA erstmals seit zehn Jahren schwarze Zahlen geschriebe­n. Inzwischen ärgern sich die Kunden vor allem über die extrem langen Lieferzeit­en der begehrten Elektro-Modelle: Bis mindestens zum Ende dieses Jahres ist der ID.4 in Amerika ausverkauf­t.

 ?? Foto: Sina Schuldt, dpa ?? Der vollelektr­ische Kompakt‰SUV ID.4 von VW wird derzeit noch in Deutschlan­d gefertigt. Nun soll seine Produktion in den USA den dortigen Markt für den Konzern stärken. Der deutsche Autobauer hat in Amerika schwierige Jahre hinter sich.
Foto: Sina Schuldt, dpa Der vollelektr­ische Kompakt‰SUV ID.4 von VW wird derzeit noch in Deutschlan­d gefertigt. Nun soll seine Produktion in den USA den dortigen Markt für den Konzern stärken. Der deutsche Autobauer hat in Amerika schwierige Jahre hinter sich.
 ?? Foto: Karl Doemens ?? „Die Arbeiter haben keine Stimme bei VW“, klagt Steve Cochran, der lokale Chef der Autogewerk­schaft UAW.
Foto: Karl Doemens „Die Arbeiter haben keine Stimme bei VW“, klagt Steve Cochran, der lokale Chef der Autogewerk­schaft UAW.

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