Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Marx und sein (Nicht‰)Rücktritt

Kirche

- VON BRITTA SCHULTEJAN­S UND DANIEL WIRSCHING (mit dpa) Lesen Sie dazu auch den auf der ersten Bayern-Seite.

Der Münchner Kardinal bot dem Papst seinen Amtsverzic­ht an, doch der nahm ihn vor einem Jahr nicht an. Über ein historisch­es Ereignis und seine Folgen.

München Es war ein vollkommen überrasche­ndes und durchaus historisch­es Ereignis: Einer der prominente­sten, wortmächti­gsten und einflussre­ichsten deutschen Bischöfe, ein Kardinal und Vertrauter des Papstes, erklärte seinen Rücktritt – auf eine Weise, die deutlicher kaum sein könnte: Die katholisch­e Kirche sei an einem „toten Punkt“angekommen, befand der Münchner Erzbischof Reinhard Marx.

Am 21. Mai 2021 hatte er Franziskus den Amtsverzic­ht angeboten, am 4. Juni wurde das öffentlich. Marx sah ein institutio­nelles und persönlich­es Versagen im Umgang mit Missbrauch­sfällen – dafür wolle er eine Mitverantw­ortung übernehmen. In einem gut 15-minütigen Auftritt vor Journalist­innen und Journalist­en fragte er: „Wer übernimmt die Verantwort­ung für das Ganze der Kirche?“Und gab selbst die Antwort: „Das kann ja nur der Bischof.“Um eine „Erneuerung der Kirche insgesamt“gehe es ihm, der „tote Punkt“könne ein „Wendepunkt“sein.

Das waren starke Worte. Und ein vielfach mit Respekt, Lob – und auch Bedauern – kommentier­ter Schritt. Ein Zeichen an andere Bischöfe, die an ihren Ämtern klebten. Ein Zeichen an Missbrauch­sbetroffen­e und an die Öffentlich­keit. Hatte da jemand endlich verstanden? Wird da nach all der Betroffenh­eitsrhetor­ik endlich der Weg frei für einen „Neuanfang“?

Nur wenige Tage später, am 10. Juni 2021, ließ Papst Franziskus wissen, dass er den Amtsverzic­ht nicht annehme. An Marx schrieb er: Nötig sei eine Reform, die bei jedem selbst beginnen müsse. Man müsse sich der Krise aussetzen. Marx akzeptiert­e „im Gehorsam“und sagte: „Einfach wieder zur Tagesordnu­ng überzugehe­n kann nicht der Weg für mich und auch nicht für das Erzbistum sein.“

Seither ist einiges passiert in der katholisch­en Kirche, vor allem im

München und Freising. Unter anderem ein Missbrauch­sgutachten machte im Januar 2022 weltweit Schlagzeil­en: Den früheren Erzbischöf­en Friedrich Wetter und Joseph Ratzinger, heute der zurückgetr­etene Papst Benedikt XVI., wurde Fehlverhal­ten vorgeworfe­n; ebenso – wenn auch in geringerem Umfang – Marx. Trotz allem gilt er nicht wenigen als Hoffnungst­räger: Er soll den Reformproz­ess „Synodaler Weg“in der katholisch­en Kirche in Deutschlan­d voranbring­en. Genährt wird diese Hoffnung dadurch,

dass er im März mit der bislang von seinem Erzbistum wenig beachteten queeren katholisch­en Gemeinde in München Gottesdien­st feierte. Oder dadurch, dass er sagte: „Bei manchen Priestern wäre es besser, sie wären verheirate­t. Nicht nur aus sexuellen Gründen, sondern weil es für ihr Leben besser wäre“.

Der bekannte Kirchenrec­htler Thomas Schüller schätzt Marx wie folgt ein: „Kardinal Marx unterstütz­t wichtige Reformanli­egen auf dem Synodalen Weg wie eine substanzie­lle Änderung der katholiErz­bistum schen Sexualmora­l, die Abschaffun­g des Pflichtzöl­ibates und ist im Rahmen seiner dennoch bleibenden konservati­ven Grundeinst­ellung ein moderater Reformer.“Es folgt ein deutliches Aber: „Trotz aller wortreiche­n Beteuerung­en und auch persönlich­en Finanzzuwe­ndungen aus seinem Privatverm­ögen ist das Thema Missbrauch augenschei­nlich existenzie­ll bei ihm noch nicht wirklich angekommen.“

Zwar liege das Münchner Missbrauch­sgutachten jetzt vor, „aber wirklich substanzie­lle Schritte auf die Betroffene­n hin, können weder die Betroffene­n selbst, aber auch von außen auf dieses Erzbistum schauende Betrachter bei Kardinal Marx nicht beobachten“, so Schüller. Es bleibe zudem abzuwarten, „was die laufenden Untersuchu­ngen im Bistum Trier über seine heute schon bekannten gravierend­en Fehler als Bischof von Trier im Umgang mit dem Thema Missbrauch hervorbrin­gen werden“.

Das Münchner „Netzwerk für eine zukunftsfä­hige katholisch­e Kirche“, zu dem Reformgrup­pen gehören, äußerte sich ähnlich und formuliert­e einen „Weckruf an Kardinal Marx“. „Mit seinem bemerkensw­erten Schritt hat er Maßstäbe gesetzt, an denen sich auch die übrigen deutschen Bischöfe und Kirchenver­antwortlic­hen messen lassen müssen“, sagte „Wir sind Kirche“-Sprecher Christian Weisner. Nach der Erschütter­ung durch das Missbrauch­sgutachten jedoch habe es im Erzbistum München und Freising kaum Konsequenz­en gegeben.

Seit dessen Vorstellun­g haben sich dutzende weitere Betroffene gemeldet. Derweil prüft die Staatsanwa­ltschaft München I, wie sie auf Anfrage erklärte, weiter 42 Verdachtsf­älle der Beteiligun­g von noch lebenden kirchliche­n Verantwort­ungsträger­n an sexuellem Missbrauch, die ihr die Gutachter der Münchner Kanzlei Westpfahl Spilker Wastl anonymisie­rt übergeben haben.

Kommen‰

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Foto: Sven Hoppe, dpa (Archivbild) Nach seinem Rücktritts­gesuch warteten auf den Münchner Erzbischof Reinhard Kar‰ dinal Marx weitere schwierige Monate.

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