Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Löst sich der Schmerz in Pixel auf?

Vorschau Mit „Ugly Lies the Bone“spürt das Staatsthea­ter Augsburg dem großen Leid nach, das der Krieg in Afghanista­n ausgelöst hat. Im Fokus: eine US-Soldatin, die nach Heilung sucht – in einer ganz anderen, einer digitalen Fantasie-Welt.

- VON VERONIKA LINTNER

Ein Debakel war es. Eine Blamage für diesen Teil der Welt, der sich als der Westen versteht. Darin waren sich zumindest die Stimmen und Schlagzeil­en in Deutschlan­d sehr schnell einig. Holpernd, stolpernd, offenbar überrumpel­t zog das USMilitär 2021 aus Afghanista­n ab. Schnell verließen auch deutsche Truppen das Land. So endeten gut zwanzig Jahre Krieg gegen den Terror, zwei Jahrzehnte Widerstand gegen die Taliban. In die Erinnerung haben sich Szenen vom Flughafen Kabul gebrannt, von Afghanen, die sich noch an einen Transportf­lieger der U. S. Army klammern, der gerade auf der Startbahn anrollt. Und es bleiben die Bilder der afghanisch­en Frauen, die wieder ihr Gesicht verbergen, ihre Chance auf Meinung, Wahl und Bildung verlieren.

Wie kann ein Mensch diese Not ertragen? Vor allem, wenn einer selbst sein Leben für und in Afghanista­n riskiert hat? Diesem Schmerz will jetzt das Staatsthea­ter Augsburg nachspüren. Das Schauspiel „Ugly Lies the Bone“von Lindsey Ferrentino erlebt an diesem Samstag auf der Brechtbühn­e im Gaswerk seine Premiere. Der originelle Twist in dieser Geschichte: Die Heldin des Stücks sucht ein Heilmittel gegen ihr Kriegstrau­ma – und landet dabei in einer völlig virtuellen, digitalen Welt. Und das Publikum darf ihr

hinein in die künstliche Fantasie – mit VR-Brille auf der Nase.

Ihr spukt der Krieg noch im Kopf: US-Soldatin Jess (Christina Jung) könnte sich ja hell über die Leuchtbuch­staben freuen, die sie zurück in der Heimat begrüßen – „Welcome home“, willkommen zu Hause. Aber ihr Blick auf die Welt hat sich getrübt und vernebelt, da türmt sich eine unüberwind­bare innere Mauer zwischen ihr und ihren Liebsten. Jess’ Jugendlieb­e Stevie (Julius Kuhn) will ihr helfen, auch ihre Schwester Kacie (Katja Sieder).

Doch die Hoffnung liegt – im Netz: Jess beginnt eine experiment­elle Schmerzthe­rapie in virtueller Realität. Dabei wird die Künstliche Intelligen­z zu ihrem Therapeute­n.

Was hinter dieser Methode steckt, kann Benjamin Seuffert vom Staatsthea­ter Augsburg erklären. Das Spezialgeb­iet des jungen Experten? „Digital Content & Interactiv­e Media“– alles, was am Theater über Bildschirm­e flimmert und digital funktionie­rt. In „Ugly Lies the Bone“mischt Seuffert die Dimensione­n: Zuerst erleben die Zuschaufol­gen, er ein klassische­s echtes Schauspiel – und dann öffnen sich neue Sphären, wenn sie eine Virtual-Reality-Brille überstreif­en. Nur fünfzehn Minuten soll das virtuelle Zwischensp­iel, dieser Blick in eine andere Welt im ganze Stück dauern. Aber es sind entscheide­nde Augenblick­e: „Wenn das Publikum im Stück durch die VR-Bildschirm­e schaut, dann steht es direkt neben Jess“, erklärt Seuffert, „und dann nimmt es direkt an ihrer Therapie teil.“Um ihr Leid zu überwinden, stellt sich die Soldatin noch einmal den Ängsten und den

Bedrohunge­n des Kriegs. Allerdings in der virtuellen Fantasie.

Ist das eine Utopie? Ein fantastisc­her Einfall der Autorin? Seuffert weiß mehr: „Solche digitalen Therapie-Ansätze werden tatsächlic­h schon seit gut 15 Jahren in den USA erprobt.“Auch in Deutschlan­d wagt sich die Forschung vor: An der Universitä­t Regensburg stellen sich Probanden digital ihrer größten Angst, um sie abzuschütt­eln. Arachnopho­biker sehen digitale Spinnen vor sich krabbeln, Klaustroph­obiker betreten beklemmend enge Räume – Konfrontat­ionstherap­ie, wie sie Jess erlebt. Dabei bietet das Netz noch andere Möglichkei­ten: sich zur Entspannun­g unter die Palme in der Karibik beamen. Oder sich digital auf die Couch legen, zu einem Sigmund Freud aus Pixeln.

Doch hier im Stück geht es um Krieg und Trauma – ausgerechn­et jetzt? Was heute fast wie Kalkül wirkt, war in dieser brennenden Aktualität nicht geplant. „Dreimal haben wir in dieser Arbeit noch einmal starke Änderungen vorgenomme­n“, erklärt Seuffert. Als das Militär aus Afghanista­n abzog, in dramatisch­en Szenen, da arbeitete man in Augsburg schon längst an diesem Werk. Und schließlic­h schlug im Februar 2022 der Krieg mitten in Europa ein. Brutale Bilder, plakativ und knallig, mit Explosion? Das will das Theater nun in diesem Stück vermeiden – auch im virtuellen Raum.

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Foto: Jan‰Pieter Fuhr „Welcome home“? Jess kehrt aus dem Krieg zurück.

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