Augsburger Allgemeine (Land Nord)
Die traurige Realität englischer Gefängnisse
Justiz Die Haftstrafe von Boris Becker hat den Fokus auf die Verhältnisse im Königreich gelenkt. Und die sind problematisch.
London In Englands Gefängnissen scheint die Zeit stehen geblieben. Liest man Berichte über die Zustände dort, fühlt man sich an die Romane von Charles Dickens (1812– 1870) erinnert. Tatsächlich stammen noch viele Haftanstalten aus dem 19. Jahrhundert. Resozialisierung spielt kaum eine Rolle. Stattdessen sind oft Verwahrlosung, Schmutz und Ratten anzutreffen.
Von dieser traurigen Realität kann sich inzwischen der deutsche Ex-Tennisstar Boris Becker persönlich ein Bild machen. Der 54 Jahre alte dreimalige Wimbledon-Sieger, der Ende April wegen Verschleierung von Vermögen in seinem Insolvenzverfahren zu zweieinhalb Jahren Haft verurteilt wurde und diese Strafe nun auch akzeptierte, verbrachte die ersten Wochen seiner Haft in der 1851 eröffneten Haftanstalt im Londoner Stadtteil Wandsworth – einem der berüchtigtsten Gefängnisse.
Beckers Anwalt wies kürzlich Gerüchte zurück, Becker habe sich in Wandsworth über das Essen beschwert oder einen Notknopf gedrückt. Verdenken könnte man es ihm kaum, denn die Zustände in englischen Gefängnissen werden seit langem von Menschenrechtsorganisationen und auch der staatlichen Aufsichtsbehörde angeprangert. „Je mehr man davon weiß, desto größer wird die Empörung“, sagte der Direktor der Organisation Prison Reform Trust (PRT), Peter Dawson, in einem Interview im vergangenen Jahr. Zu viele Menschen auf zu wenig Raum, zu wenige Mitarbeiter, Gewalt und Drogen sind nur einige der Probleme. Gefängnismeutereien sind ein gewohntes Bild. Die Zahl der Todesfälle hinter Gittern ist so hoch wie noch nie seit Beginn der Aufzeichnungen. Eine große Zahl der Gefangenen ist psychisch krank.
Die Zahl der Gefängnisse in England und Wales liegt laut der Plattform
World Prison Brief bei 118 mit einer gesamten Kapazität von etwa 77.700 Gefangenen. Eingesperrt sind dort fast 80.000 Menschen. Das entspricht einer Rate von 132 auf 100.000 Einwohner und ist mit Abstand Spitze im westlichen Europa. In Deutschland hingegen gibt es 179 Haftanstalten mit einer Kapazität von insgesamt 72.400, in Haft sind etwa 59.000 Menschen. Die Gefangenenpopulation auf 100.000 Einwohner liegt bei 71.
Und es dürfte schlimmer werden: Bis 2026 erwarten Behörden, dass allein in England und Wales fast 100.000 Menschen im Gefängnis sitzen werden. Ursache ist laut PRT, dass die Urteile immer harscher ausfallen – bei fast allen Vergehen. In England und Wales gibt es demnach mehr Menschen, die zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteilt sind, als in Deutschland, Frankreich, Italien, Polen, den Niederlanden, Österreich, Belgien und Schweden zusammen.
Die öffentliche Wahrnehmung ist eine andere. Bei einer Umfrage im Jahr 2021 gaben drei Viertel der Menschen in England und Wales an, die Strafen seien milder geworden. Dabei wird selbst bei leichteren gewaltlosen Vergehen oft eine Gefängnisstrafe verhängt. Ein kürzlich in Kraft getretenes Gesetz der konservativen Regierung von Premierminister Boris Johnson soll die Länge der Haftstrafen für schwere Verbrechen
weiter nach oben schrauben. Johnson scherzte, das Land sei unter der Hardliner-Innenministerin Priti Patel inzwischen zu einem „SaudiArabien der Strafgesetzgebung“geworden. Personalmangel führt überdies dazu, dass viele Gefangene bis zu 23 Stunden am Tag in der Zelle verbringen, weil sie nicht ausreichend beaufsichtigt werden können. Manche bevorzugen das gegenüber der Gewalt, der sie von anderen Gefangenen ausgesetzt sind. „Er konnte nicht aus seiner Zelle, weil er Angst um sein Leben hatte“, sagte die Frau eines Gefangenen in Birmingham.
Boris Becker ist inzwischen in das Huntercombe-Gefängnis in Nuffield rund 70 Kilometer westlich von London gebracht worden. Dort sollen die Bedingungen vergleichsweise gut sein. Trotzdem dürfte der Zustand englischer Gefängnisse auch an ihm nicht spurlos vorbeigehen.