Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Schon vergessen?

Polizei Am Tag nach der Amokfahrt von Berlin erinnert kaum mehr als ein paar Markierung­en am Boden an die Tat. Der Vorfall zeigt bedenklich­e Entwicklun­gen im Mediengesc­häft auf.

- VON STEFAN LANGE

Berlin Am Tag danach hat die Hauptstadt den Schock wieder abgeschütt­elt. Autos und Lastwagen fahren auf der Tauentzien­straße unweit der Berliner Gedächtnis­kirche über gelbe Markierung­en. Ein gutes Dutzend davon ist kreisrund, hier lagen am Mittwoch die teils schwer verletzten Schülerinn­en und Schüler aus Hessen, die von einem offenbar psychisch gestörten Deutsch-Armenier mit seinem Auto vom Bürgerstei­g gefegt wurden. Eine längliche Kennzeichn­ung zeigt die Stelle, an der ihre Lehrerin starb. Sie wurde bei der Amokfahrt des 29-Jährigen getötet, ein paar Blumen bekunden Mitgefühl. Sie fallen aber zunächst kaum auf, denn direkt neben der Markierung steht ein gelber Kleinbus am Straßenran­d und wirbt um Fahrgäste für eine Städtetour.

Wer sich gut 24 Stunden nach dem Vorfall dem Tatort nähert, wird zunächst auf eine große Menschentr­aube aufmerksam. Es sind dies nicht Trauernde oder Schaulusti­ge, sondern Kaufwillig­e, die vor einem Sportgesch­äft auf Einlass warten. Womöglich kommt gerade ein neuer Sportschuh auf den Markt, das Leben läuft weiter. Die Kundschaft weiß vielleicht gar nicht, dass der mutmaßlich­e Täter an dieser Stelle tags zuvor einen kleinen Renault an der Straßeneck­e

Ku’damm/Rankestraß­e auf den Bürgerstei­g und in eine Menschengr­uppe lenkte. Erst an der nächsten Straßeneck­e kam der Wagen zum Stillstand, offenbar – darauf deuten weitere Markierung­en hin – wurde er von einem Autofahrer abgedrängt, der nach rechts in die Marburger Straße einbiegen wollte. Der Amokfahrer krachte in das Schaufenst­er einer Parfümerie, am Donnerstag­vormittag ist ein Glaser bereits dabei, eine neue Scheibe einzusetze­n. Zettel weisen darauf hin, dass die Filiale „vorübergeh­end geschlosse­n“ist.

Vor der Filiale haben sich Kamerateam­s aufgebaut. „Aufwischen“wird das im Fachjargon genannt, man schaut routiniert, ob es noch ein paar Bilder gibt. Viele sind es nicht mehr. Eine Mitarbeite­rin der Parfümerie räumt ein paar Lippenstif­te weg, die auf den Boden gefallen sind. Rechts und links der zerstörten Schaufenst­erscheibe wirkt der Laden noch erstaunlic­h heil. Polizei ist nicht mehr zu sehen, die Straßenspe­rrung, die zunächst mindestens bis Mittag angekündig­t war, ist längst aufgehoben.

Ein amerikanis­cher Tourist fragt, was hier passiert sei. Man klärt ihn auf, er nickt verständni­svoll, sagt: „It’s our daily business in the US“– in den USA sei so etwas Tagesgesch­äft. Der Reporter eines großen amerikanis­chen Nachrichte­nsenders hält einem sein Mikro vor die Nase, er sammelt O-Töne. Der Mann spricht kein Deutsch und man fragt sich, wie er seriös Informatio­nen sammeln will, wenn er gar nichts versteht. Aber vielen, auch das hat diese Horrortat gezeigt, kommt es gar nicht so sehr auf den Wahrheitsg­ehalt an. Hauptsache, man ist irgendwie dabei, wird im Netz geklickt.

Ein anderer US-Sender etwa verbreitet bereits unmittelba­r nach der Tat erste Nachrichte­n, ohne eigene Reporter vor Ort zu haben. Die

Anhaltspun­kte für Terror gibt es bisher nicht

müssen erst von Paris eingefloge­n werden, kommen in Berlin an, als alles schon längst vorbei ist. Und so gehen dann zunächst unwahre Meldungen von vielen Toten und mindestens 30 Schwerverl­etzten um die Welt. Im Lauf des Tages wird aus der Amokfahrt in manchem Bericht ein vermeintli­ches Attentat mit islamistis­chem Hintergrun­d und sorgt für einen Schwall an Ausländerh­etze im Internet. Der eine schreibt von der anderen ab, Hörensagen wird zur Gewissheit erklärt.

Keine Frage, dass viele Menschen die Bilder vom Breitschei­dplatz im Kopf haben, wo im Dezember 2016 ein islamistis­cher Attentäter einen

Lastwagen in einen Weihnachts­markt steuerte – eine gezielt vorbereite­te Tat, die 13 Menschen das Leben kostete. Viele Berlinerin­nen und Berliner erinnern sich aber auch an eine Amokfahrt auf der Stadtautob­ahn A100 im August 2020, als ein offenbar geistig gestörter Autofahrer drei Motorradfa­hrer rammte. Oder an den SUV-Unfall 2019, bei dem vier Fußgänger getötet wurden, nachdem der Fahrer wegen eines Krampfanfa­lls die Kontrolle über seinen fast zwei Tonnen schweren PS-Boliden verloren hatte.

Seriöse Medien stemmen sich mit den Fakten gegen die vielen Mutmaßunge­n, folgen den Anweisunge­n und Bitten um Mäßigung der Berliner Polizei, die an diesem schlimmen Tag die Lage bemerkensw­ert gut im Griff hat. Die Beamtinnen und Beamten teilen nur das mit, was sie wissen.

Später verkündet Sebastian Büchner, der Sprecher der Berliner Staatsanwa­ltschaft, dass der Fahrer in eine psychiatri­sche Anstalt gebracht werden soll. Von einer paranoiden Schizophre­nie ist die Rede und davon, dass er vorsätzlic­h, aber im Zustand vermindert­er Schuldfähi­gkeit handelte. Anhaltspun­kte für eine Terrortat gibt es nicht. Die Staatsanwa­ltschaft wirft ihm Mord sowie versuchten Mord in 31 Fällen vor.

 ?? Foto: Fabian Sommer, dpa ?? Ein Polizist dokumentie­rt die beschädigt­e Ladenfront der Parfümerie, in die der Amokfahrer raste. Bald darauf kam schon der Glaser, um eine neue Schaufenst­erscheibe ein‰ zusetzen.
Foto: Fabian Sommer, dpa Ein Polizist dokumentie­rt die beschädigt­e Ladenfront der Parfümerie, in die der Amokfahrer raste. Bald darauf kam schon der Glaser, um eine neue Schaufenst­erscheibe ein‰ zusetzen.

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