Augsburger Allgemeine (Land Nord)
160 Millionen Kinderarbeiter
Unicef befürchtet, dass durch Corona neun Millionen weitere Jungen und Mädchen zum Arbeiten gezwungen werden.
Köln Sie schuften in Kobaltminen, auf Baumwollplantagen und in Textilfabriken: 160 Millionen Jungen und Mädchen müssen nach Schätzung der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) und des Kinderhilfswerks Unicef regelmäßig arbeiten. Der Kampf gegen die Kinderarbeit ist ins Stocken geraten, die Zahl der arbeitenden Kinder gestiegen.
Eigentlich hatte die Internationale Gemeinde sich in der „Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung“verpflichtet, bis 2025 Kinderarbeit zu beseitigen. Aber dieses Ziel rücke in weite Ferne, wenn man nicht massiv gegensteuert, erklärt Christian Schneider, der Geschäftsführer von Unicef Deutschland, anlässlich des Welttags gegen Kinderarbeit an diesem Sonntag. „Regierungen müssen Kindern Schutz und Chancen geben. Unternehmen müssen Kinder- und Menschenrechte einhalten. Wir alle können durch unser Konsumverhalten dazu beitragen, die Ausbeutung von Kindern zu verhindern.“
Während die Zahl der arbeitenden Mädchen und Jungen von 2000 bis 2016 deutlich um 94 Millionen gesunken war, stieg sie von 2016 bis 2020 erstmals wieder um 8,4 Millionen an. Die Schätzungen zur Kinderarbeit werden alle vier Jahre erstellt.
„Armut ist mit die Hauptursache für Kinderarbeit“, sagt Ninja Charbonneau von Unicef Deutschland. „Keine Familie sucht es sich aus, dass die Kinder arbeiten, wenn sie Alternativen hat.“Fehlende Arbeits- und Verdienstmöglichkeiten bei Erwachsenen führen dazu, dass Kinder mit anpacken müssen. Andere Faktoren seien fehlende Bildungsmöglichkeiten und fehlende Schutzsysteme.
Auch sehr junge Kinder seien betroffen, erklärt Charbonneau. „Ein Trend, der uns sehr beunruhigt, ist, dass die Zahl der besonders jungen Kinder unter zwölf Jahren stark zugenommen hat“, sagt sie. Besonders groß ist das Problem in den Teilen Afrikas südlich der Sahara. Während in anderen Regionen, wie Asien oder Lateinamerika, die Anzahl der arbeitenden Kinder gesunken ist, ist sie dort gestiegen. „Inzwischen arbeiten in Subsahara-Afrika mehr Kinderarbeiter als im Rest der Welt“, erklärt Charbonneau. Das sei eine Folge der vielen Krisen und Konflikte sowie des raschen Bevölkerungswachstums. Auch im Nahen Osten nehme die Zahl der Betroffenen zu.
70 Prozent aller Kinderarbeiter arbeiten in der Landwirtschaft, 20 Prozent im Dienstleistungssektor und zehn Prozent in der Industrie. „Häufig sind das informelle Tätigkeiten“, erklärt Charbonneau. Der Großteil von ihnen sei nicht angestellt, sondern arbeitet unbezahlt im Familienverbund mit. Sie übernehmen Aufgaben bei der Feldarbeit oder helfen in kleineren Familienbetrieben mit. „Nur weil die Kinder im Familienverbund sind, heißt das nicht, dass die Kinder geschützter sind“, sagt die Unicef-Sprecherin.
Wie sich Corona auf die Situation auswirkt, sei noch unklar. „Wir befürchten, dass die Covid-Pandemie zu einem weiteren Anstieg führt“, sagt Charbonneau. In einer Projektion gehen Unicef und ILO davon aus, dass es bis Ende 2022 um bis zu neun Millionen Kinder mehr geben werde, die arbeiten müssen. Grund dafür sei die durch Corona wachsende Armut. Bezüglich des Krieges in der Ukraine sagt sie: „Wir haben jetzt im Moment noch keine Fälle von Kinderarbeit beobachten können.“Aber ausbleibende Getreideexporte könnten Hungerkrisen verschlimmern und in anderen Regionen zu mehr Kinderarbeit führen.
Es ist schwierig sicherzugehen, dass bei einer Ware gar keine Kinderarbeit drinsteckt. „Wir sehen ja leider keinem Produkt an, ob irgendwo im Laufe der Wertschöpfungskette Kinderarbeit eingesetzt wurde“, sagt Charbonneau. Abhilfe soll das Lieferkettengesetz bringen. Dieses verpflichtet ab 2023 große Unternehmen dazu, dafür Sorge zu tragen, dass in ihren Lieferketten die Menschenrechte eingehalten werden. Das sei ein Schritt in die richtige Richtung, aber: „Ein Lieferkettengesetz alleine wird nicht reichen, um Kinderarbeit
zu beenden“, sagt Charbonneau.
In der Wirtschaft ist das Problembewusstsein durchaus da. Wolfgang Niedermark, Mitglied der Hauptgeschäftsführung des Bundesverbands der Deutschen Industrie, sagt: „Kein Unternehmen kann es akzeptieren, dass in seiner Lieferkette Zwangsoder Kinderarbeit passieren.“In seinen Augen bereite die sehr bürokratische Umsetzung des Gesetzes gerade dem Mittelstand Sorge. „Kleine und mittlere Unternehmen haben wegen begrenzter Ressourcen und geringer Marktmacht weniger Einflussmöglichkeiten auf die Lieferketten. Der Staat darf Unternehmen mit der Auslegung der Pflichten nicht im Regen stehen lassen, sondern muss unterstützen.“
Der ehemalige Entwicklungsminister Gerd Müller (CSU) war an der Formulierung des Lieferkettengesetzes beteiligt. Er nennt die aktuelle Entwicklung erschreckend und sieht die Unternehmen in der Pflicht. „Es gibt keine Ausreden“, sagt er. „Im Zeitalter von Blockchain können solche Lieferketten vom Anfang bis Ende kontrolliert und zertifiziert werden und damit Kinderarbeit ausgeschlossen werden.“