Augsburger Allgemeine (Land Nord)
Francesca Melandri: Alle, außer mir (153)
VStellen Sie sich vor: Eines Tages steht vor Ihrer Tür ein junger, dunkel häutiger Flüchtling, der begründet behauptet, Enkel Ihres Vaters zu sein. Was wird nun passieren? Ein Szenario, hier – nicht ohne Sarkasmus – in einer römischen Familiengeschichte über drei Generationen hinweg durchgespielt. © 2018 Verlag Klaus Wagenbach, Berlin
iola hob weiterhin mit der Schaumkelle das erkaltete Fett von der Brühe und bewahrte es in einer Kanne auf, um später das Gemüse darin zu dünsten. Doch war Ernanis Gehalt so üppig, dass seine Söhne nach der Pflichtschule nicht arbeiten gehen mussten, sondern sich als erste Generation der Familie Profeti an der Universität einschrieben.
Otello wählte Ingenieurswesen. Auf dem Gymnasium war ihm Mathematik leichtgefallen, und er hatte auch schon die Zeitschrift für Eisenbahnwesen abonniert. Attilio entschied sich für Geschichte und Philosophie; er war ein treuer Leser des Quadrivio. Die treffenden Zusammenfassungen in den Artikeln des Herausgebers Telesio Interlandi ordneten seine Weltsicht, gaben ihm das angenehme Gefühl zu verstehen, was sich jenseits der Fakten verbarg. „Hinter der gierigen Raffhand der internationalen Finanzwelt versteckt sich der semitische Kapitalismus“, lautete dort eine Erklärung.
„Dreihundert Männer, die sich untereinander kennen, halten das wirtschaftliche Geschick der Welt in ihren Händen. Manche dieser dreihundert Männer haben festgestellt, dass sie weniger verdienen, weil Europa zerstückelt ist, und sie versuchen, die Grenzen abzuschaffen, um bessere Geschäfte zu machen. Doch während die semitische Ökonomie auf dem Vergnügen an skrupellosen Spekulationen basiert, hat Italien von den Latinern die ökonomische Weisheit gelernt, mit Vorbildcharakter für die ganze Welt, die zur Grundlage die Liebe zum eigenen Land hat.“Die Sanktionen gegen den Krieg in Abessinien wurden als „wurmstichige Frucht der semitischen Solidarität mit dem Neger“bezeichnet. Sie waren der Beweis für die jüdisch-massonische Geheimverschwörung gegen die höchste Manifestation des reinen italienischen Blutes, den Faschismus, das Mittel, mit dem die feigen Bankiers der Demo-Plutokratien versuchten – vergeblich! –, sich der reinen imperialen Berufung Italiens entgegenzustemmen.
Wie lautete die Antwort auf diese Angriffe, welche neuen Schlüsse mussten daraus gezogen werden? Attilio las es auf den Seiten des Quadrivio: das Konzept der Rasse. „Das Blut, die Materie, die harte Materie, in die unser Leben sich eingräbt, Geist und Sakrament.“Der sich abzeichnende italienisch-äthiopische Konflikt zum Beispiel würde die endgültige Legitimierung des italischen Genies über die Herden von Völkern sein, die noch nie etwas geschaffen hatten: „In ihnen – denn das Physische ist nichts anderes als die Andeutung des Metaphysischen – sehen wir schwarze Leiber, fanatisches, oft vulgäres Äußeres, Finsternis von Ausdruck und Fleisch; in den anderen hingegen die sonnendurchflutete Schönheit des Apoll, die Fähigkeit zur Idealisierung, zur eigenen Neuerfindung in den vollkommenen Formen der griechischen Kunst und dem unermesslichen Brennen, leuchtend vor Selbstbewusstsein, der italienischen Kunst.“
Diese Leitartikel gaben ihm die blendende Gewissheit, Zugang zur letzten Wahrheit der Dinge zu haben. Ein Reichtum an Sinnhaftigkeit, unzugänglich für jene, die sich von feigen Komplotten verhöhnen lassen, aber berauschend für alle, denen sie enthüllt wird. Seine Brust des Zwanzigjährigen weitete sich angesichts der großen Gemälde, die der Lauf der Geschichte für Italien entwarf und damit auch für ihn. Die Zustimmung zum Faschismus sprengte die engen Grenzen des Gefühlslebens seiner Mutter Viola, und die Lektüre des Quadrivio schenkte Attilio ein vages, aber unerschütterliches Gefühl der Erhabenheit. Er war erfüllt von Visionen, Streben und Sinnhaftigkeit.
Er pendelte zwischen Lugo und Bologna, wo er während der Woche, wenn er Seminare besuchte, in einer kleinen Pension hinter den Sieben Kirchen wohnte. Diese wäre für seine Mittel als Student zu teuer gewesen, hätte die Eigentümerin, eine Witwe mit einem platten Pfannkuchengesicht und doppelt so alt wie er, nicht zu gerne ihre bebenden Arme für ihn geöffnet. Attilio gegenüber war sie doppelt freigebig. Sie lehrte ihn die Kunst des Küssens und halbierte ihm die Miete. In der Öffentlichkeit siezte er sie und nannte sie Signora Ricci. Im stillen Kämmerlein sagte er nur „du“, obwohl sie lieber „Saveria“gehört hätte. Wie sie ihn auch gern die ganze Nacht in ihrem Bett behalten hätte, während Attilio sich nach der Befriedigung aus dem kurzen Dämmerschlaf des Zwanzigjährigen aufrappelte und schnell in seine Kammer
zurückkehrte. Einmal nahm sie nach dem Orgasmus, als sie erhitzt nebeneinander lagen, seinen Penis in einer liebevollen Geste in die Hand. Er schob sie ruckartig weg. Die Botschaft war klar: Die einzige Intimität, die er ihr zugestand, war die sexuelle im engeren Sinne.
Saveria lehrte Attilio, wie man Spielkarten unauffällig mit dem Fingernagel markiert. „Da pfeif ich drauf“war ein streng faschistisches Spiel – es basierte mehr auf Hierarchien als auf Farben – und somit eines der wenigen vom Duce tolerierten Spiele. Doch die Gäste der Zimmervermietung vergnügten sich abends trotzdem lieber mit dem alten Scala 40, Briscola oder Rommé.
Wenn er über die Feiertage nach Hause kam, besuchte Attilio weiterhin den Puff an der Landstraße nach Bagnacavallo. Er mochte die Mädchen vom Land, obwohl sie – was ihm früher gar nicht aufgefallen war – ihre Kunden niemals küssten. Um den Wartenden die Zeit zu vertreiben, lagen auf dem alten Holztresen Fotografien von unbekleideten Frauen in dem Stile, wie er zu Zeiten Monsieur Daguerres gut angekommen war. Seit einiger Zeit jedoch wurden immer häufiger Postkarten eines anderen Typs herumgereicht. Die Maitresse legte sie in die schweißfeuchten Hände ihrer Kunden und flüsterte: „Verbotene Sachen!“
Doch so wild konnte es nicht sein, wenn man bedachte, dass sie sie vom Sektionssekretär persönlich bekam. Abgebildet waren halbnackte Frauen, die ihre Reize lasziv darboten. Doch lagen sie diesmal nicht auf Sofas oder Kanapees, sondern auf Tierfellen – Löwen, Leoparden, Zebras – oder Teppichen auf dem Boden. Ihre Haut von der Farbe verbrannten Holzes ließ sie fester und stofflicher erscheinen als die schneeweißen Dämchen, die durch die Boudoirs spazierten. Die Bereitschaft zum Beischlaf der Frauen auf den Fotos war keiner moralischen Verkommenheit geschuldet, wie bei den weißhäutigen Huren, deren Hautfarbe ihre wenn auch entwürdigte Zugehörigkeit zu einer überlegenen Rasse deklarierte. Nein, diese Bilder stellten detailgetreu eine in ihren Ursprüngen erotische tierische Natur dar. Die Körper der Frauen auf den Karten boten sich dem Blick des italienischen Mannes auf eine Art dar, die seine wesenseigene Überlegenheit anerkannte sowie seine Aufgabe, sie zu zähmen. Der afrikanische Kontinent war eine Frau, jede afrikanische Frau war ein Kontinent, der kolonialisiert werden musste. Ihre nackten Brüste waren klein und schwarz, ihre sich öffnenden Schenkel bargen tiefdunkle Geheimnisse.