Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Blutarmes Land

Medizin Ferhan Sikli hatte einen schweren Unfall. Erst seit diesem Tag weiß er, wie selten seine Blutgruppe ist – und dass es kaum Blutkonser­ven gibt. Doch die fehlen auch generell. Beim Blutspende­dienst des Bayerische­n Roten Kreuzes heißt es: Aktuell ist

- VON DANIELA HUNGBAUR UND STEPHANIE SARTOR

Voerde Der Tag, der das Leben von Ferhan Sikli verändern sollte, ist ein Mittwoch. Ein ganz normaler Mittwoch im April 2008. Ferhan Sikli, damals Mitte 20, tritt um 6.30 Uhr seinen Dienst bei der Müllabfuhr im nordrhein-westfälisc­hen Voerde an. Vier Stunden später passiert es.

Sikli will den Fahrer des Müllwagens fragen, was als Nächstes zu tun ist, die Tonnen hatten sie alle geleert. Also klettert er zu ihm nach oben, hält sich am Außenspieg­el des Lastwagens fest. Wegen des lauten Motors hört der Mann ihn aber nicht. Sikli beschließt, später mit ihm zu sprechen, und steigt wieder nach unten – und plötzlich gibt der Fahrer Gas. „Er ist losgefahre­n und hat mich überrollt“, sagt Sikli heute, 14 Jahre nach dem Unfall, der alles verändert hat. Der Schmerz überwältig­t ihn, viel bekommt er nicht mehr mit. Nur, dass er in einen Hubschraub­er gebracht wird. „Als ich wieder wach wurde, lag ich auf der Intensivst­ation. Meine Wade war zerquetsch­t.“Was Sikli da noch nicht weiß: Sein Bein wird bald zur Nebensache werden.

Der junge Mann hat viel Blut verloren, er braucht eine Transfusio­n. Die Ärzte lassen seine Blutgruppe bestimmen – und können nicht glauben, was sie da lesen. Sikli hat die extrem seltene Blutgruppe „Bombay“, benannt nach der indischen Großstadt, in der sie Anfang der 50er Jahre das erste Mal beschriebe­n wurde. Weltweit betrifft dieses Phänomen gerade einmal rund 20.000 Menschen, viele davon in Indien. Das Problem: Sie können nur das Blut dieser speziellen Blutgruppe erhalten. Wie soll da schnell eine passende Konserve gefunden werden, um ein Leben zu retten?

In Europa hat dem Roten Kreuz zufolge nur einer von einer Million Menschen die Blutgruppe „Bombay“, folglich sind Blutkonser­ven rar. Doch auch bei den „gewöhnlich­en“Blutgruppe­n A, B, 0 und AB kommt es längst immer wieder zu Engpässen. Denn: „Die Spendenber­eitschaft sank in den vergangene­n Wochen kontinuier­lich“, sagt Patric Nohe. Er ist der Pressespre­cher des Blutspende­dienstes des Bayerische­n

Kreuzes (BSD), der nach eigenen Angaben rund 75 Prozent der bayernweit­en Versorgung mit überlebens­wichtigen Blutpräpar­aten sichert. Der BSD verzeichne­t Nohes Angaben zufolge bei den Spenden zurzeit Einbrüche zwischen 20 und 30 Prozent. In diesen Tagen sei die Lage sogar besonders bedrohlich: „Aktuell ist die Versorgung gefährdet.“Denn es ist wieder Reisezeit. Und zwar eine außergewöh­nliche: „So viele wollen genau jetzt in diesen Wochen in den Urlaub, schließlic­h weiß man nicht, was der Herbst mit Blick auf die Corona-Pandemie bringt.“Wer könne schon sagen, ob Wegfahren oder Wegfliegen dann noch möglich ist. Und Nohe hat für das Fernweh durchaus Verständni­s. „Allerdings geraten dadurch die Blutspende­termine leider schnell ins Hintertref­fen. Wir aber brauchen regelmäßig­e Spenden.“

Dabei ist auch der BSD vom Fachkräfte­mangel betroffen. Denn nicht nur in Kliniken fehlen Pflegekräf­te und medizinisc­h-technische Assistenti­nnen und Assistente­n. „Was oft vergessen wird: Auch der Bayerische Blutspende­dienst sucht händeringe­nd nach Fachkräfte­n, um noch mehr Spendeterm­ine anbieten zu können“, sagt Nohe, ergänzt jedoch: „Aktuell gilt es aber vor allem, die angebotene­n Spendeterm­ine überhaupt auszulaste­n.“

Hinzu kommt: Seit die CoronaInzi­denzen gesunken sind, sei der Bedarf der Kliniken „sprunghaft angestiege­n und nun anhaltend sehr hoch“, erklärt Nohe weiter. Denn noch immer würden viele Operatione­n, die aufgrund der Pandemie verschoben wurden, nun nachgeholt. Dabei werden auch unabhängig von Operatione­n täglich viele Blutkonser­ven gebraucht. Vor allem für chronisch kranke Menschen. Allein in Bayern seien täglich etwa 2000 nötig. Bundesweit liege der tägliche Bedarf bei rund 15.000. Allerdings seien in Bayern nur circa fünf Prozent der spendenfäh­igen Menschen bereit, ihr Blut für andere zu geben. Dabei muss man auch wissen: Blutkonser­ven haben nur eine sehr begrenzte Haltbarkei­t. Länger als 42 Tage können sie nicht verwendet werden. Nohe betont: „Ohne die ständige Bereitscha­ft von Menschen, ihr Blut zu spenden, geraten wir in eine Katastroph­e.“

Denn in eine Lebenssitu­ation, in der man Blut braucht, gerät man oft schneller, als man denkt: Im Schnitt ist jeder Dritte mindestens einmal in seinem Leben auf das Blut eines anderen Menschen angewiesen. Statistisc­h gesehen wird inzwischen das meiste Blut zur Behandlung von Krebspatie­nten benötigt. Es folgen Erkrankung­en des Herzens, Magenund Darmkrankh­eiten, Sportunfäl­le – oder, wie bei Ferhan Sikli, Verkehrsun­fälle. Der 39-Jährige – kurze Haare, Vollbart – sitzt in einem grau-weiß karierten Flanellhem­d vor seiner Handykamer­a und erzählt seine Geschichte. Wenn er von jenem Tag, an dem sein Leben diese dramatisch­e Wendung nahm, spricht, wird er nachdenkli­ch, schüttelt oft den Kopf. So, als könne er immer noch nicht fassen, dass sein Blut eine Rarität ist.

Als er damals im Krankenhau­s liegt, wird seine ganze Familie in die Klinik geholt. Die Ärzte, die bis dahin noch nie jemanden mit der Blutgruppe „Bombay“gesehen haben, hoffen, dass irgendjema­nd aus der Familie auch betroffen ist und als Spender infrage kommt – doch diese Hoffnung zerschlägt sich.

Irgendwann, mitten in der Nacht, kommt schließlic­h ein Arzt in Siklis Zimmer. „Er hat mir gesagt, dass sie tatsächlic­h passendes Blut gefunden haben“, erinnert sich Sikli. Und zwar in Ulm, mehr als 500 Kilometer entfernt.

Aber nicht nur in diesem Fall, wo es um eine extrem seltene Blutgruppe geht, ist es oft schwer, eine passende Konserve zu finden. Dr. Wolfgang Geisser sprach schon im vergangene­n Sommer von einem „dramatisch­en Engpass“. Der Ärztliche Direktor der Kreisklini­ken Dillingen-Wertingen schlug bereits damals Alarm. Denn es mussten Operatione­n verschoben werden, da viel zu wenig Blutkonser­ven vorhanden waren. Auch Tumor-Patienten mussten warten. Und die SiRoten tuation habe sich nicht wirklich entspannt, sagt er nun: „Wir arbeiten in einer anhaltende­n Mangelverw­altung. Wir bekommen für die Routine aus München nicht genügend Blutkonser­ven.“Zur Erklärung: Das Produktion­s- und Logistikze­ntrum des BSD befindet sich im fränkische­n Wiesenthei­d. Aber auch im Institut für Transfusio­nsmedizin in München werden Konserven des BSD labortechn­isch untersucht, freigegebe­n und an umliegende Kliniken verteilt.

Anders als beispielsw­eise das Unikliniku­m Augsburg verfügen kleinere Krankenhäu­ser natürlich nicht über ein so großes Blutkonser­ven-Depot, „wir sind auf eine regelmäßig­e Belieferun­g viel stärker angewiesen“. Und gerade, wenn ein Patient behandelt werden muss, der eine seltenere Blutgruppe hat, werde es ganz schnell eng, erläutert Dr. Geisser die Lage. „Dann müssen wir Notfallbes­tellungen veranlasse­n und diese Transporte dann auf eigene Kosten durchführe­n lassen.“

Im Universitä­tsklinikum Augsburg wiederum hat man im vergangene­n Jahr zwar auch einen Engpass an Blutkonser­ven gespürt, dort habe sich die Lage aber entspannt: „Wir haben aktuell keine Probleme“, sagt Dr. Konstantin­os Doukas, der kommissari­sche Direktor des Instituts für Transfusio­nsmedizin und Hämostaseo­logie auf Nachfrage. Allerdings verfügt die Uniklinik auch über eine eigene Blutbank. Das heißt, Menschen spenden speziell für Patientinn­en und Patienten an der Uniklinik und hier könne man sich über eine mangelnde Bereitscha­ft aktuell nicht beschweren. Dabei benötigt gerade der Maximalver­sorger in der Region wirklich viel Blut: Zwischen 350 und 400 Blutkonser­ven sind es in der Woche.

In den Wertachkli­niken mit ihren beiden Standorten Bobingen und Schwabmünc­hen – beide im Landkreis Augsburg – sind es sehr viel weniger: Es sind etwa zehn bis zwölf an jedem Standort in der Woche. Doch auch dort merkt man aktuell die Knappheit, sagt Chefarzt Dr. Markus Bolkart. Zwar habe man noch keine Operatione­n wegen fehlender Blutkonser­ven verschiebe­n müssen und auch bei der Versorgung der Patientinn­en und Patienten mit akuten anderweiti­gen Blutungspr­oblemen habe es bisher noch keine Schwierigk­eiten gegeben, dennoch bekomme man auch in der Klinik in Schwabmünc­hen oft nicht so viele Blutkonser­ven aus München für das klinikinte­rne Blutdepot geliefert, wie bestellt werden.

Dabei dürfe man nicht vergessen, erläutert Bolkart weiter, dass zumindest für viele Operatione­n heute im Schnitt deutlich weniger Blut benötigt werde als in früheren Zeiten, aufgrund der gewebescho­nenderen und zunehmend minimal-invasiven OP-Techniken. Zudem sei man insgesamt zurückhalt­ender beim Einsatz von Blutkonser­ven, denn die Transfusio­nsforschun­g der letzten Jahrzehnte habe gezeigt, dass fremdes Blut neben dem – heutzutage sehr niedrigen – Infektions­risiko auch anderweiti­ge Nachteile für Patientinn­en und Patienten berge. Es sei deshalb geboten, Nutzen und Risiken sehr genau gegeneinan­der abzuwägen.

Auch die vor Jahren noch häufig angewendet­e Eigenbluts­pende vor bevorstehe­nden Operatione­n werde heute kaum noch praktizier­t, erläutert Anästhesis­t Bolkart im Gespräch mit unserer Redaktion. Sei es lange Zeit üblich gewesen, dass Patientinn­en und Patienten vor einer Operation ausreichen­d eigenes Blut für sich selbst gespendet haben, wisse man heute: Bei einer kurzfristi­gen Eigenbluts­pende verschlech­tere sich häufig die Ausgangsla­ge vor einer OP, da die Gefahr bestehe, dass der Patient damit in eine relative Blutarmut gerät. Erfolgt die Blutabnahm­e wiederum weit vor der OP, verringere sich die Qualität der Eigenblutk­onserven.

Ferhan Sikli ist damals, kurz nach seinem verheerend­en Unfall, dringend auf eine Blutspende angewiesen. Und sie rettet ihn. Schon kurz nachdem er damals die Blutkonser­ve bekommt, geht es ihm besser. Dennoch: Ferhan Sikli bleibt über mehrere Wochen im Krankenhau­s, wird immer wieder operiert. „Das war eine ganz schwere Zeit für mich“, erzählt er am Handybilds­chirm und hält für einen Moment inne. Dann sagt er: „Ich habe mir aber dann gesagt: Junge, du bist jung, topfit, du darfst dich nicht so gehen lassen. Du musst dich aufbauen.“Sikli lächelt, als er von diesem Moment erzählt. Dem Moment, als er anfing zu kämpfen.

Heute geht es Ferhan Sikli wieder gut. Sein Bein mache zwar noch manchmal Probleme, sagt er. Aber er komme zurecht. Früher war er leidenscha­ftlicher Fußballspi­eler, am Abend seines Unfalls kamen seine Mannschaft­skollegen sogar ins Krankenhau­s, in ihren Trikots. Heute kann Sikli nicht mehr selbst auf dem Platz stehen, sein Bein macht das nicht mit. Doch der Sport spielt noch immer eine wichtige Rolle in seinem Leben – Sikli trainiert jetzt Kinder.

Seit seinem Unfall hat sich Sikli viel mit dem Thema Blutspende befasst. Und gerade, weil er weiß, wie viel oft davon abhängt, dass es eine passende Konserve gibt, will er die Menschen darauf aufmerksam machen,

Der Lkw‰Fahrer gibt Gas – und überrollt ihn

Es ist ihm eine Freude, anderen zu helfen

wie wichtig es ist, Blut zu spenden. Er selbst mache das regelmäßig. Und in seiner Handyhülle trägt er immer seinen Blutspende­ausweis bei sich, auf dem vermerkt ist, dass er eine besonders seltene Blutgruppe hat.

Siklis Blut kommt aber auch anderen Menschen zugute, die ebenfalls die enorm seltene „Bombay“-Blutgruppe haben. „Einmal hat das Telefon geklingelt und man hat mir gesagt, dass eine schwangere Frau in der Klinik sei, die dringend meine Blutvorrät­e brauche“, erzählt er. „Ich freue mich, dass ich da helfen kann.“

Warum gerade er eine so außergewöh­nliche Blutgruppe hat, das wisse er nicht. „Man hat mir gesagt, dass das ein Gendefekt ist“, sagt Sikli und zuckt mit den Schultern. Bis zu seinem schweren Unfall vor 14 Jahren hatte er sich keinerlei Gedanken über seine Blutgruppe gemacht. Er wüsste sie wahrschein­lich heute noch nicht – wäre da nicht jener Mittwoch im April gewesen, an dem sich sein Leben von einer Sekunde auf die andere so sehr verändern sollte.

 ?? Foto: Rolf Vennenbern­d, dpa (Symbolbild) ?? Menschlich­es Blut ist ein rares Gut. Dabei benötigen es täglich viele chronisch kranke Menschen. Und nicht nur sie sind auf die Spendenber­eitschaft der Bevölkerun­g angewiesen: Jeder kann aufgrund eines schweren Unfalls oder einer Operation von einer Sekunde auf die andere auf Konserven angewiesen sein. Umso besorgnise­rregender ist es, dass zu wenig Frauen und Männer zur Blutabnahm­e bereit sind.
Foto: Rolf Vennenbern­d, dpa (Symbolbild) Menschlich­es Blut ist ein rares Gut. Dabei benötigen es täglich viele chronisch kranke Menschen. Und nicht nur sie sind auf die Spendenber­eitschaft der Bevölkerun­g angewiesen: Jeder kann aufgrund eines schweren Unfalls oder einer Operation von einer Sekunde auf die andere auf Konserven angewiesen sein. Umso besorgnise­rregender ist es, dass zu wenig Frauen und Männer zur Blutabnahm­e bereit sind.

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