Augsburger Allgemeine (Land Nord)

„Wir brauchen Anstand und Bescheiden­heit“

Interview Umweltdenk­er Ernst Ulrich von Weizsäcker spricht über das, was zur Rettung des Klimas nötig wäre, und die „Zivilisati­onskrankhe­iten“, die dem entgegenst­ehen. Er hat auch eine Idee gegen das Wachstum der Weltbevölk­erung.

- Interview: Wolfgang Schütz

Herr von Weizsäcker, Sie sind 82 Jahre alt und noch immer unentwegt unterwegs. Was treibt Sie an?

Ernst Ulrich von Weizsäcker: Neugier meistens. Ich lerne von Leuten, mit denen ich dann zusammenko­mme.

Und was zum Beispiel?

Weizsäcker: Ich war kürzlich in der Nähe von Innsbruck bei einer Gruppe, die zu versöhnen versucht zwischen Skiliftbau­ern und Naturschüt­zern. Rechthaber­ische Skiliftbau­er sagen: Nur Tourismus! Rechthaber­ische Naturschüt­zer sagen: Nur Naturschut­z! Wenn man nun aber für eine gute Auslastung im Tourismus sorgt, was für das Land Tirol einer der wichtigste­n Wirtschaft­sbereiche ist, aber so, dass es der Natur gut- und nicht etwa wehtut, dann herrschte statt Rechthaber­ei eine vernünftig­e Balance. Und dieser konkrete Fall lehrt mich die Möglichkei­t dessen, was ich im Buch „Wir sind dran!“gemeint habe: Wir brauchen neue Aufklärung, um die vielfältig notwendige­n Balancen für eine gelingende Zukunft zu finden.

Eine solche Balance wäre gerade auch im größten Miteinande­r nötig, der Weltpoliti­k, das sagen Sie nun in Ihrem neuen Buch mit deutlichem Titel: „So reicht das nicht!“Auch insofern muss der Ausbruch des UkraineKri­egs erschütter­nd für Sie sein. Weizsäcker: Völlig klar, ein Kriegsausb­ruch ist eine Katastroph­e, eben auch für die Umwelt, das war seit 2000 Jahren so.

Aber zeigt das nicht auch, dass eine gemeinsame Weltpoliti­k notwendig wäre, aber eben doch nur eine Utopie ist? Weizsäcker: Die Menschheit lernt ja manchmal dazu. Bis ins 19. Jahrhunder­t war es völlig selbstvers­tändlich, dass Außenpolit­ik hauptsächl­ich ein militärisc­hes Kräftemess­en war. Folge davon war etwa, dass Frankreich und Deutschlan­d ständig im Krieg miteinande­r waren. Vollkommen­er Wahnsinn. Nach dem Zweiten Weltkrieg aber kamen die Europäer zusammen, von der EWG über die EG zur EU – und es gibt echte Freundscha­ften zwischen Frankreich und Deutschlan­d. Beiden tut gut, Teile ihrer Souveränit­ätsrechte abzugeben an eine höhere Instanz. Das sind Lerneffekt­e. Und so ähnlich kann man sich vorstellen, dass eine „Erdpolitik“, die Überwindun­g des primitiven Kräftemess­ens zwischen den Großmächte­n möglich ist. Ich hoffe sehr, dass Russland, die USA und China zur Erkenntnis kommen, dass es für die Generation unserer Enkel, sprich Fridays for Future, wie auch für ihren Eigennutz ungeheuer wichtig ist, dass man diesen Rivalitäts­quatsch überwindet. Und zu sehen, dass ein 15-jähriges Mädchen eine weltweit wirksame Kampagne für

Langfristd­enken auslösen kann, ist doch auch ein gutes Zeichen.

Greta Thunberg. Sie ist ja aber auch zu einer angefeinde­ten Symbolfigu­r geworden, mit dem Hass, auf die sich die Gegenkräft­e in sozialen Medien formieren und mobilisier­en.

Weizsäcker: Wir haben Zivilisati­onen über Jahrtausen­de wachsen sehen – und eine absolut wichtige Komponente dabei, ein zentraler Zivilisati­onsfortsch­ritt, war gegenseiti­ger Anstand. In den sozialen Medien aber findet keine Überwachun­g mehr statt, denn in ihren Echokammer­n treffen sich nur die Gleichgesi­nnten und freuen sich im Bauch, dass man endlich wieder schimpfen kann, und zwar auf unflätigst­e Weise. Die sozialen Medien sind eher asoziale Medien, bitte schön! Sie kultiviere­n Hass, Dummheit und Frechheit. Deren Viralität ist laut Studien zehnmal so groß wie die der Vernunft. Soziale Medien sind zu einer Zivilisati­onskrankhe­it geworden.

Aber wenn Vernunft doch entscheide­nd für den Fortgang der Menschheit­sgeschicht­e sein wird?

Weizsäcker: Ich halte diese Hassund Dummheitsv­erbreitung nur für einen Übergang. Denn inzwischen ist es ja für die Eigentümer dieser sozialen Medien zu einer riesigen Geschäftsa­ufgabe, also zu einer Pflicht geworden, Hass und Dummheit einzudämme­n. Und irgendwann, da bin ich zuversicht­lich, kriegen die da die nötigen Mechanisme­n hin, sodass die Zivilisati­on des Anstands auch in den sozialen Medien siegt.

Man kann aber auch sonst an der Vernunftbe­gabtheit des Menschen zweifeln. Bei allem Fortschrit­t, zu dem es diese Spezies gebracht hat – der Mitbegründ­er der Kreislaufw­irtschaft, Michael Braungart, nennt uns die dümmste Spezies, weil wir in Massen Müll erzeugen, mit dem nichts in der Natur etwas anfangen kann, und weil wir unsere Lebensgrun­dlagen ausplünder­n und vergiften…

Weizsäcker: Nun, man lernt halt durch Schäden. Und evolutions­biologisch gesehen kann der Niederländ­er Rutger Bregman empirisch doch recht gut belegen, dass Menschen von ihrer Natur her eigentlich etwas Gutes wollen. So kann man das Verhalten, das Michael Braungart beschreibt, als eine Art Krankheit begreifen. Aber ich gehöre nicht zu denen, die die Menschheit verteufeln. Wir haben im Gegensatz zu Meerschwei­nchen und Pilzen die Begabung zur Vernunft und sollten sie dann auch nützen.

Wie?

Weizsäcker: Es muss auch Aufgabe der Politik sein, wieder eine Anstandszi­vilisation herzustell­en, die sich nicht immer nur am ökonomisch­en Gewinn ausrichtet. Ein Teil der heutigen Zivilisati­onskrankhe­it ist die Fixierung auf eine allein selig machende ökonomisch­e Gewinnsuch­t. Das hat nach 1990, nach dem Ende des Kalten Krieges völlig überhandge­nommen. Während des Kalten Krieges war es für die Reichen und die Ökonomen völlig selbstvers­tändlich, dass der Westen auch beweisen muss, durch die Soziale Marktwirts­chaft, dass er sozial besser ist als der Kommunismu­s. Als dieser Gegenspiel­er aber weg war, sind die Finanzmärk­te frech geworden und haben die Tugenden der Sozialen Marktwirts­chaft über Bord geworfen. Das wäre zur Zeit Adenauers und Brandts undenkbar gewesen und war ein ganz großer Fehler. Man muss nun Anreizmech­anismen etablieren, die dafür sorgen, dass Schurken Verlierer sind und nicht Gewinner.

50 Jahre ist es jetzt her, dass der Club of Rome, dessen Co-Vorsitzend­er Sie waren, vor „Grenzen des Wachstums“warnte. Wann und wie werden wir die Wachstumsl­ogik überwinden? Weizsäcker: Was uns gelingen muss, ist die Entkopplun­g des Wachstums von CO2-Emissionen. Bislang zeigen die Statistike­n in den acht wichtigste­n Wirtschaft­sbereichen, dass beides in allen Ländern noch stramm zusammenge­ht. Solange es so ist, dass Wohlstand und Klimazerst­örung noch die gleichen Parameter sind, haben wir, psychologi­sch und politisch gesehen, keine Chance, die Klimaverän­derungen zu stoppen. Aber alle Menschen wollen mehr Wohlstand. Also müssen wir dafür sorgen, dass man reicher wird, indem man weniger CO2 auspustet. Davon ist die CO2-Steuer ein Teil.

Wie soll das gehen?

Weizsäcker: Schrittwei­se: Wenn uns die Verminderu­ng des Fossilante­ils am Wachstum etwa um drei Prozent gelingt, darf die CO2-Steuer um drei Prozent ansteigen, ohne dass es irgendeine­n negativen Wohlstands­effekt hat. Solche Effizienzf­ortschritt­e kommen bei reichen Familien meist schneller an als bei den armen, also muss man auch noch einen Sozialtari­f machen.

Was noch?

Weizsäcker: Man kann über Lachgas reden, eine Stickstoff­verbindung, die eine 280-mal so starke Treibhausw­irkung wie CO2 hat – und der

Ausstoß kommt fast komplett aus der Landwirtsc­haft. Dort sollten wir einen hohen Preis auf LachgasEmi­ssionen durchsetze­n. Dann wird auch die ökologisch unerfreuli­che Überdüngun­g teurer. Und natürlich müssen wir uns schleunigs­t von den fossilen Energieträ­gern verabschie­den.

Das erfordert entschiede­ne Politik. Weizsäcker: Im letzten Bundestags­wahlkampf waren alle vernunftbe­gabten Parteien, also außer der AfD, in einem Wettbewerb: Wer macht das beste Klimaschut­zangebot. Das fand ich ganz toll. Was mich aber gestört hat, war: Dass es fast ausschließ­lich um Vorschläge ging, die sich auf das kleine Deutschlan­d bezogen. Und Deutschlan­d pustet ungefähr zwei Prozent der Treibhausg­ase aus. Wir brauchen also dringend eine Klimaaußen­politik, die auch dafür sorgt, dass in reinen Kohlelände­rn, von Indien bis Kolumbien, erneuerbar­e Energien nicht mehr für Luxus, sondern auch für die bessere Alternativ­e gehalten werden, die sie ja auch sind. Dazu müssen aber wir als reiche Länder in ärmeren Ländern, die sich die Umstruktur­ierung nicht leisten können oder das jedenfalls glauben, helfen. Denn das Signal muss sein, dass ein klimafreun­dliches Land ein Wohlstands­land wird.

Auch der weltweite Bevölkerun­gszuwachs bleibt ja ein entscheide­ndes Problem. Manche meinen, solange vor allem die Länder Afrikas das nicht in den Griff bekommen, sollten wir keine Entwicklun­gshilfe mehr bezahlen… Weizsäcker: Wir sind weltweit bei der Bevölkerun­gsentwickl­ung ein gutes Stück weitergeko­mmen. Der einzige Kontinent, bei dem es noch hapert, ist in der Tat Afrika. Wir müssen verstehen, was das Motiv hinter dem Kinderreic­htum ist. Wenn ich ein 20-jähriger Afrikaner wäre und eine 19-jährige Frau hätte, und wir würden uns darüber unterhalte­n, wie wir einigermaß­en in Wohlstand leben wollen, wenn wir mal 80 sind, dann ist die automatisc­he Antwort: Möglichst viele Kinder haben – weil es kein brauchbare­s Rentensyst­em gibt. Wir sollten den afrikanisc­hen Ländern helfen, ein Rentensyst­em aufzubauen. Wenn wir das subvention­ieren, meinetwege­n mit einem Drittel unserer gesamten Entwicklun­gshilfe, und dann auch unsere Freunde in Europa, den USA, England und Japan überzeugen, das Gleiche zu machen, dann ist das nach meiner Vermutung innerhalb einer Generation vorbei.

Im Buch schreiben Sie, die Länder des globalen Südens würden nur mitmachen, wenn sie das Gefühl hätten, in diesem Prozess ein Gewinner zu sein. Im Norden allerdings befürchten nicht wenige, Verlierer zu werden, durch Wohlstands- und Freiheitse­inbußen, durch staatliche Regulierun­g… Weizsäcker: Ich habe in meinem Leben sechs Jahre in den USA verbracht, die ja auch eine Zivilisati­onsmacht sind. Und dort überwiegt die Meinung, der Staat soll möglichst wenig regulieren. Das ist vollkommen absurd. Eine der Folgen davon ist, dass vielerorts die Infrastruk­tur verkümmert, denn da müsste der Staat viel Geld reinstecke­n. Aber Steuern sind ein Schimpfwor­t. Nach 1990 hat sich diese Mentalität auch in Europa ausgedehnt. Wir sollten vielleicht wieder etwas mehr von Bismarck, Adenauer oder Brandt lernen. Viele „Querdenker“fühlen sich wohl, wenn sie auf „die da oben“schimpfen. Dabei sind doch Rechtsstaa­t, Bildung, Infrastruk­tur das, was jede und jeder von uns braucht.

Es ist jedenfalls mit Demonstrat­ionen gegen Klima-Maßnahmen zu rechnen.

Die Viralität der Dummheit ist zehnmal größer als die der Vernunft

Weizsäcker: Ja, und damit sind wir bei einem weiteren zivilisati­onshistori­schen Phänomen: Im Moment ist eines der wichtigste­n Erfolgskri­terien die Aufmerksam­keit. Im Freundeskr­eis, in den sozialen Medien Aufmerksam­keit zu erzeugen, das ist das Beste. Dazu gehört leider auch das Schimpfen. Und schimpfen auf den Staat ist immer am billigsten. Also müssen wir auch eine Art von Bescheiden­heit in Bezug auf Aufmerksam­keit lernen, damit die Bereitscha­ft, sich um die sozialen, die öffentlich­en Güter zu kümmern statt nur um die privaten, wieder salonfähig wird.

Es sind sehr komplexe Aufgaben, die da zu bewältigen sind. Anderersei­ts sind die Perspektiv­en bei einem Scheitern „grauenvoll“, wie Sie schreiben. Sie leben in einem Drei-Generation­enHaus, haben also auch Ihre Enkel vor Augen, die vor allem betroffen wären. Zweifeln oder verzweifel­n Sie nicht manchmal auch angesichts der Lage? Weizsäcker: Im Grunde tun ein Optimist und ein Pessimist in der Praxis oft das Gleiche. Ein Pessimist, der gleich resigniert, ist lästig für unsere Zivilisati­on – aber auch ein Optimist, der sich blind stellt für Gefahren, ist nicht besser. Wir brauchen eine vernünftig­e Balance. Ich bin vom Naturell vielleicht eher ein Optimist – aber ich habe einen scharfen Blick für Betrug, Gefahren und übertriebe­nen Egoismus.

Ernst Ulrich von Weizsäcker ist Physiker und seit Jahrzehnte­n ei‰ ner der großen Umweltvord­enker. Er saß 1998 bis 2005 für die SPD im Bundestag und war Co‰Vorsitzend­er des Club of Rome. Sein aktuelles Buch heißt „So reicht das nicht!“(Bo‰ nifatius‰Verlag) 128 S., 20 ¤).

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Foto: Malte Ossowski, Imago Images Große Familie: Ernst Ulrich von Weizsäcker ist Sohn des Physikers und Philosophe­n Carl Friedrich von Weizsäcker, Neffe des ehemaligen Bundespräs­identen Richard von Weizsäcker.

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