Augsburger Allgemeine (Land Nord)
Francesca Melandri: Alle, außer mir (154)
KStellen Sie sich vor: Eines Tages steht vor Ihrer Tür ein junger, dunkel häutiger Flüchtling, der begründet behauptet, Enkel Ihres Vaters zu sein. Was wird nun passieren? Ein Szenario, hier – nicht ohne Sarkasmus – in einer römischen Familiengeschichte über drei Generationen hinweg durchgespielt. © 2018 Verlag Klaus Wagenbach, Berlin
urz gesagt, sie waren Negerinnen. Attilio saß in dem kleinen Puff von Lugo und betrachtete die Postkarten, während ihm das Blut ins Geschlecht lief. Wie die anderen Kunden, wie die Puffmutter, die sie verteilte, fand auch er, dass es sich um unanständige Abbildungen handelte, nur eben etwas exotischer als sonst. Eingetaucht in den muffigen Geruch der Nutten verstand er nicht, was sie wirklich waren. Merkte nicht, was er da in der Hand hielt: Das Bild eines schwarzhäutigen Mädchens mit nichts am Leib als einer Halskette, die spitzen Brüste über dem konvexen Bauch hervorspringend, war keine Pornografie. Es war Kriegspropaganda.
Der Duce bereitete den Abessinien-Feldzug vor und wollte nicht über den Pazifismus stolpern, den der Erste Weltkrieg mit sich gebracht hatte. Der jubelnden Menge unter dem Balkon auf der Piazza Venezia, den Familien, die in der Küche um das Radio versammelt waren, und jedem, der es hören
wollte (und das waren alle Italiener), hatte er versprochen, sie aus drei Gründen nach Äthiopien zu führen: um die Niederlage von Adua zu rächen, um das imperiale Heldenepos wiederzuerwecken, um jedem von ihnen einen Platz an der Sonne zu schenken, an jenem „blühenden Ufer, der Schatztruhe purer Fülle“. Klar war ihm aber auch, dass er der Jugend, die als erste zu überzeugen war, besser nicht mit Waffen und Tod kam, sondern bei ihr auf einen stärkeren Trieb setzen musste: den Sex. Die künftigen Soldaten des neugeborenen Römischen Imperiums steckten mit ihrer Männlichkeit im dreifachen Zangengriff – dem der Mütter mit dem Heiligenschein aus Müdigkeit und Opferbereitschaft, dem der tristen mechanischen Freuden der Dirnen und dem der bis zur Hochzeit unerreichbaren Körper der gleichaltrigen jungen Mädchen. Als die heimatlichen Bordelle von den Bildern äthiopischer Frauen überflutet wurden, reagierten die jungen
Männer Italiens begeistert. In Scharen meldeten sie sich für Afrika, das jungfräuliche Land, das entjungfert werden wollte.
Faccetta nera bell’abissina aspetta e spera che già l’ora si avvicina, quando saremo vicino a te noi ti daremo un’altra legge e un altro re.
La legge nostra è schiavitù d’amore…
Kleines schwarzes Gesicht, schöne Abessinierin, warte und hoffe, denn es dauert nicht mehr lang, und wenn wir bei dir sind, geben wir dir ein neues Gesetz und einen neuen König.
Unser Gesetz ist die Sklaverei der Liebe …
Unter ihnen war auch Attilio Profeti. Er sagte die Examen an der Universität ab und meldete sich als Freiwilliger bei der faschistischen Miliz. Ernani war machtlos in seiner Entrüstung, als er sah, wie sein Zweitgeborener das Studium aufgab und nun dasselbe Hemd trug wie die Mörder des Fahrkartenverkäufers Rizzatello Beniamino. Den Abend bevor er nach Neapel aufbrach, um sich dort nach Abessinien einzuschiffen, verbrachte Attilio nicht zu Hause, sondern in Bologna, in der Wohnung der Signora Ricci. Die er zum ersten und einzigen Mal Saveria nannte.
In jenen Tagen Ende des Jahre 1935 herrschten in Lugo in Romagna klare, naturgegebene Positionen. Die Sanktionen waren Unrecht. Das Albion war perfide. Paolina Baracca war die Mutter des Kriegshelden in den Kleidern des Faschismus. Ebenso klar und naturgegeben war es daher, dass am „Tag des Traurings“die Gräfin die Erste war, die sich den Ring vom Finger streifte und in den Tiegel warf, in dem das Gold fürs Vaterland gesammelt wurde.
Es war kurz vor der Wintersonnenwende, also eine Woche vor Weihnachten sowie vor der Wiedergeburt des Sol Invictus aus der Finsternis. Dieses Datum hatte der Duce, der sorgsam zwischen katholischer Kirche und dem heidnischen Kult um den Faschismus, besser gesagt um sich selbst, navigierte, nicht dem Zufall überlassen. Seit nunmehr fast zehn Jahren wiederholte er: „Der Faschismus ist nicht nur ein Regime, es ist ein Glaube; er ist nicht nur ein Glaube, sondern eine Religion, die die arbeitenden Massen des italienischen Volkes erobert.“Seit Wochen appellierte er eindringlich an die italienischen Frauen, den Abessinien-Krieg zu unterstützen, indem sie ihr Gold dem Vaterland spendeten. Die Häuserwände waren gepflastert mit Plakaten des dampfenden Tiegels, in dem die wichtigsten Schlagworte eingeschmolzen wurden: KÜHNHEIT, MUT, WILLE, GLAUBE. Darunter stand: „Im Tiegel des Faschismus verschmelzen die Werte der Sippe, und es entsteht ein fester Barren des Sieges.“Der Glaube und der Trauring. Die Ergebenheit an den Faschismus und der kleine goldene Ring, der die Ergebenheit jeder Frau für ihren Mann bezeugt. Ein wirksameres Bild ist kaum vorstellbar.
Deshalb war die Hand, die in Zeitungen, Zeitschriften und Plakatwänden anmutig den Ring in das Sammelbecken legte, stets eine Frauenhand. Von den Ringen der Ehemänner war keine Rede, offensichtlich wurde ihr Goldanteil in der Kriegsanstrengung nicht benötigt. Opferbereitschaft und Einwilligung in den Krieg wurden nur von den verheirateten oder verlobten Frauen verlangt. Es war eine Art umgedrehte chemische Reaktion: vom Ehegold zum Kriegsgerät, von der ehelichen Hingabe der Frau zur männlichen Kriegstugend. Vor allem versuchte man, Italien zu verwandeln von einem weiblichen Land voll Schönheit und Milde in die maskuline imperiale Potenz. Zu diesem Zweck brauchte es eine niemals endende Propaganda.
In Lugo wie in ganz Italien war der Mittelpunkt der Ring-Zeremonie ein großer Metallbehälter. Er stand auf einem Tisch unter einem Schutzdach, verziert mit Liktorenbündeln und den Fahnen des faschistischen Parteibüros. Vor dem Backsteingebäude neben dem Uhrturm hatten sich trotz des Wetters Hunderte Menschen versammelt. Seit Tagen fiel ein grauer Regen auf Italien herab, frustrierend und ohne das Pathos von Unwettern. Am Vorabend war Ernani mit einer Erkältung und heißer Stirn zu Bett gegangen; am Morgen war er nur schwer hochgekommen. Viola schob ihren Kopf näher an seinen heran, nicht etwa aus einer Regung der Zuneigung, auf die ihr Mann schon lange nicht mehr hoffte, sondern um sich unter seinem Regenschirm besser vor der Nässe zu schützen.
Noch war keine Frau aus Lugo an den Tisch mit dem Kessel herangetreten, um ihren Schmuck abzugeben. Der Regen trommelte laut auf die geöffneten Schirme. Die Menge lauschte schweigend. Die Lautsprecher in den Fenstern der Casa del Fascio verbreiteten die Radionachrichten über den Platz direkt von Piazza Venezia aus Rom.