Augsburger Allgemeine (Land Nord)
Die Zweifel wachsen
Nationalmannschaft Nach dem 1:1-Rückschlag in Ungarn wird der Befreiungsschlag gegen Italien herbeigesehnt – gewisse Entspannung in Budapest zu finden, kann jetzt nicht schaden.
Budapest Gemeinhin gilt die von der deutschen Nationalmannschaft bezogene Fünf-Sterne-Herberge im Herzen von Budapest als idealer Ausgangspunkt, um die wichtigsten Sehenswürdigkeiten abzuklappern. Es wäre vermutlich aber keine gute Idee, hätten sich Manuel Neuer und Kollegen am Wochenende unter die Touristenströme hoch zum Burgpalast, der St.-Stephans-Basilika oder auf die Margareteninsel gemischt. Also hat Bundestrainer Hansi Flick seiner Mannschaft nach dem enttäuschenden 1:1 in der Nations League in Ungarn lediglich einen freien Abend spendiert, was in seinem Duktus hieß, „dass die Mannschaft gemeinsam essen geht und zu einer gewissen Zeit dann wieder im Hotel ist“.
Noch bis Montagnachmittag bleibt der DFB-Tross in der schönen Donau-Metropole, um vor dem letzten Nations-League-Duell vor der Sommerpause gegen Italien in Mönchengladbach (Dienstag 20.45 Uhr, ZDF) die Köpfe freizubekommen. Gerade fehlt die geistige und körperliche Frische, sodass der stimmungsvolle Fußball-Abend in der voll besetzten Puskas-Arena eigentlich allein tapfer kämpfenden und auch spielerisch nicht unterlegenen Magyaren gehörte, die erst bei Schlusspfiff von Krämpfen geschüttelt wie die Fliegen umfielen, um später im berauschten Oval noch die Nationalhymne zu schmettern.
Derweil versuchte sich eine kleine deutsche Spieler-Delegation an ein bisschen Winke-Winke in den dritten Oberrang, wo der spärlich besetzte Gästeblock zwar einige schwarz-rot-goldene Fähnchen schwenkte, aber alles sah genauso halbherzig aus wie der Auftritt zuvor. Das erste Mal in der langen DFB-Geschichte hat die Nationalmannschaft vier Mal hintereinander 1:1 gespielt. Nur erwies sich das neue Standardergebnis als echter Stimmungsdämpfer, der für viele hängende Köpfe sorgte. „Natürlich sind wir enttäuscht. Uns haben Zielstrebigkeit und Leichtigkeit gefehlt“, sagte Kapitän Neuer, der als Einziger in diesen Tagen durchgängig höheren Ansprüchen genügt. Seine Vorderleute sorgen derweil dafür, dass allmählich auch ein Dutzend ungeschlagene Länderspiele unter dem neuen Baumeister Flick verblassen. Und so thronen über
dem vierfachen Weltmeister nun wieder die Zweifel an der Titelreife: Der Weg an die Weltspitze ist bis zur WM in Katar nicht nur beschwerlich; er ist möglicherweise auch zu weit.
„Es war klar, dass es kein einfacher Weg wird und es Rückschläge geben wird. Heute war es ein Rückschritt“, gestand Flick, der mit seinem Trainerteam eine lange Mängelliste abzuarbeiten hat. „Wir waren zu schleppend im Spielaufbau. Wir haben es dem Gegner relativ einfach gemacht, kompakt zu stehen.“Und: Die mit den Neu-Dortmundern Niklas Süle und Nico Schlotterbeck besetzte Abwehr wackelte wegen Abspiel- und Stellungsfehlern nicht nur beim frühen Gegentor von Zsolt Nagy (6.). Zwar glich Jonas Hofmann nach feinem Schlotterbeck-Pass rasch aus (9.), doch das war es an gescheiten Spielzügen im letzten Drittel auch schon. Allein erwähnenswert danach, wie Torschütze Hofmann freistehend den Zeitpunkt des richtigen Abspiels verpasste (72.). „Wir haben zu wenig Chancen, die richtigen Ab
schlüsse sind nicht zu sehen“, hielt Flick angesichts nur sieben mickrigen Torschussversuchen fest, der als eine Erklärung abermals den gerne zitierten „Entwicklungsprozess“anführte. Klar, „wenn man auf die Tabelle schaut, ist nichts passiert“, aber der 57-Jährige musste auch zugeben: „Wir haben uns wesentlich mehr vorgestellt.“
Die vielleicht größte Enttäuschung war diejenige, der symbolträchtig auf dem Cover des Stadionmagazins erschien: Bei Leon Goretzka, an guten Tagen ein kraftstrotzender Antreiber und glaubhafter Vorkämpfer gegen Rassismus und Diskriminierung, schien bereits alle Energie aus seinem Körper geflossen. Die furchteinflößende „Carpathian Brigade“aus dem schwarzen Mob der ungarischen Fankurve kam gar nicht dazu, den Herzjubel-Deutschen aus dem EMSpiel vor einem Jahr (2:2) auszubuhen, so selten trat der Ruhrpottjunge in Erscheinung. Vereinskamerad Neuer kündigte am RTL-Mikrofon trotzdem mal an, gegen Italien „eine Rakete zu zünden“. Der 36-Jährige
hielt seinen Vorderleuten erneut mit einer Weltklasseleistung den Rücken frei, „doch wenn ein Torwart herausragend ist“, bemerkte Flick, „stimmt ein bisschen was im Spiel nicht“. Für den Befreiungsschlag, forderte Flick, „müssen wir eine, vielleicht zwei oder drei Schippen drauflegen“. Vielleicht sind dafür ja auch ganz andere Freizeitaktivitäten nützlich, wie DFB-Direktor Oliver Bierhoff mutmaßte: „Ich weiß, Budapest hat schöne Bäder, wir werden sicherlich entspannen.“Um sich dann noch einmal zu einer besseren Leistung beim Saisonabschluss am Niederrhein aufzuraffen.
Ungarn Gulacsi – Lang, Orban, At. Szalai – Fiola, A. Nagy, Styles (87. Vécsei), Z. Nagy (69. Nego) – Sallai (75. Gazdag), Szoboszlai – Ad. Szalai (69. Ádám) Deutschland Neuer – Kehrer, Süle, N. Schlotterbeck, Raum – Kimmich, Goretzka (69. Gündogan) – Hofmann (85. Nmecha), Havertz (85. Adeyemi), Musiala (78. Brandt) – Werner (78. Müller) Schieds richter José María Sánchez (Spanien) Zu schauer 67.000 Tore 1:0 Z. Nagy (6.), 1:1 Hofmann (9.)