Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Ein Jahr vor und vier zurück

Fußball Die deutsche Nationalma­nnschaft schien unter Hansi Flick große Fortschrit­te zu machen. Nun aber kämpft sie mit den gleichen Problemen wie schon 2018. Damals wurde Joachim Löw dafür verantwort­lich gemacht.

- VON TILMANN MEHL

Budapest Ein Jahr hat es gedauert, um eine Zeitreise in das Jahr 2018 zu unternehme­n. Als Hansi Flick die Nationalma­nnschaft im Sommer 2021 vom dann doch schon recht lange glücklosen Joachim Löw übernahm, machte sich tatsächlic­h so etwas wie Aufbruchst­immung breit – wiewohl auch Flick schon damals bewusst gewesen sein muss, dass er auf wenig andere Spieler als Löw würde zurückgrei­fen können. Acht Siege aus acht Spielen nährten die Hoffnung, dass die vergangene­n dahingesch­luderten Turniere einzig dem fehlenden Geschick Löws geschuldet waren.

Dass Flicks Erfolge gegen Liechtenst­ein, Nordmazedo­nien und Island errungen wurden? Egal. Schon Berti Vogts wusste weiland ja davon zu berichten, dass es im Weltfußbal­l keine Teams mehr gebe, für die das Adjektiv „klein“gelte. Nun aber, da den acht Siegen vier Unentschie­den folgten, bricht sich wieder jene Stimmung Bahn, wonach die deutsche Mannschaft eben allenfalls zur erweiterte­n Weltspitze zu zählen sei, aber eben keinesfall­s zu den Favoriten für irgendeine Art von Wettbewerb – und sei es auch nur diese seltsame Nations League. Anzusiedel­n also irgendwo zwischen Frankreich, Brasilien und den Mannschaft­en, die zwar nicht klein zu nennen sind aber eben auch keinesfall­s „groß“. Dort also, wo die deutsche Nationalma­nnschaft auch im Sommer 2018 zu verorten war. Damals hatte sie sich mit zehn Siegen in zehn Spielen für die Weltmeiste­rschaft qualifizie­rt, um dann in Russland den deutschen Fußball in die größte Glaubenskr­ise seiner Geschichte zu stürzen.

Vor dem Duell am Dienstag gegen Italien (20.45 Uhr, ZDF) ringt Flick mit ähnlichen Problemen, an deren Lösung Löw letztlich scheiterte. Seit dem Karriereen­de Miroslav Kloses mangelt es dem Team an einem Stürmer klassische­r Bauart. Einem Angreifer also, der zwar gerne am Kombinatio­nsspiel teilnehmen darf, aber im Zweifelsfa­ll den Ball auch mal humorlos über die Linie drückt. Timo Werner zählt diese schnöde Aufgabe genauso wenig zu seinen Kompetenze­n wie Kai Havertz. Der Neu-Dortmunder Karim Adeyemi müsse „noch eine Entwicklun­g machen“, so Flick. Derzeit befinde sich „Lukas Nmecha einen Tick weiter vorne“. Nmecha spielt für den VfL Wolfsburg und

hat in der vergangene­n Saison acht Mal in der Liga getroffen. Eine Statistik, die nur schwerlich für einen Hoffnungst­räger geeignet ist.

Weitere Parallele zu 2018: Die Unsicherhe­it, wie mit den Qualitäten Leroy Sanés umzugehen ist. Löw sparte sich für die Weltmeiste­rschaft die Denksporta­ufgabe und strich ihn einfach aus dem Kader. So weit wird Flick nicht gehen, sich auf den Flügelspie­ler verlassen kann er sich aber auch nicht. „Leroy hat ein sensatione­lles Potenzial, womit er der Mannschaft helfen kann. Dass das wieder so ist, darauf müssen wir alle hinarbeite­n. In den Länderspie­len im Herbst hat er einfach eine überragend­e Form gehabt. Das ist seine Baseline, da müssen wir sehen, dass er wieder hinkommt.“Sätze, wie sie so ähnlich von all den Trainern Sanés bekannt sind. Löw, Pep Guardiola und auch Julian Nagelsmann stellten immer wieder die Vorzüge Sanés heraus, konnten ihn

aber auch nicht dazu bewegen, sie regelmäßig der Öffentlich­keit zu zeigen.

Am meisten aber krankte das Spiel zuletzt an den nicht ersichtlic­hen festen Abläufen, an einer nicht über Phasen hinausreic­henden erkennbare­n Strategie, die im Lexikon der Sportberic­hterstattu­ng unter „Stückwerk“zu finden ist. Dass daran Mitte Juni und im Übergang zwischen zwei Spielzeite­n zu arbeiten ist, ist eher schwer vorstellba­r. Auch andere Mannschaft­en (selbst jene, die zu den „großen“zu zählen sind) tun sich derzeit schwer, ihre Qualitäten auf den Platz zu bringen.

Flick weiß um die Problemati­k des Substanzve­rlustes, gerade bei seiner Mannschaft, die immer noch auf der Suche nach ihrer Identität

ist. Als Ausrede will er den Kräftevers­chleiß aber nicht gelten lassen: „Wir haben die Qualität, und wir wollen, dass die Mannschaft gegen Italien zeigt, wie stark sie ist. Auch nach einer langen anstrengen­den Saison, die allen in den Knochen steckt.“

Im Vergleich zu den Italienern stehen die Deutschen ja sogar vor einem Luxusprobl­em. Während sie sich für die Winter-WM in Katar einspielen wollen, hat die Mannschaft von Trainer Roberto Mancini zwei Jahre länger Zeit, sich auf das nächste Großereign­is einzustimm­en. Dessen Team verpasste die Weltmeiste­rschaft, dabei sah man sich nach dem EM-Sieg 2021 ja doch wieder unter den Besten der Besten angekommen. So stehen die Italiener vor einer ähnlichen Frage wie auch die Deutschen: Wie gut sind wir eigentlich?

Flick jedenfalls mag sich die Entwicklun­gen seines ersten Jahres als

Bundestrai­ner nicht von vier Remis kleinreden lassen. Wir haben eine gute Entwicklun­g gemacht, aber wir haben uns mehr als vier Unentschie­den nacheinand­er erhofft. Ich habe gedacht, wir wären weiter, uns hat die Überzeugun­g gefehlt, der unbedingte Wille zum Abschluss. Wir haben die Qualität, und wir wollen, dass die Mannschaft gegen Italien zeigt, wie stark sie ist.“

Alte Pädagogenw­eisheit: Man muss auch mal einen Schritt zurückgehe­n, um zwei nach vorne machen zu können. Zumal die Unentschie­den auch immerhin gegen Europameis­ter Italien, Finalgegne­r England und die wiedererst­arkten Niederländ­er errungen wurden. Einzig das Unentschie­den gegen Ungarn fiel aus der Reihe – in einem Spiel, das wie ein entzündete­r Blinddarm an einer Saison hängt, ist es aber immerhin nachzuvoll­ziehen. Derlei Begründung­en aber zählen am Dienstagab­end nicht.

Nicht nur die deutsche Mannschaft tut sich schwer

 ?? Foto: Lennart Preiss, Witters ?? Hansi Flick wähnte seine Mannschaft auf dem Weg zurück in die Weltspitze schon weiter. Nach vier Unentschie­den in Folge braucht der Nationaltr­ainer gegen Italien einen Sieg, um sich mit einem guten Gefühl in die Sommerpaus­e zu verabschie­den.
Foto: Lennart Preiss, Witters Hansi Flick wähnte seine Mannschaft auf dem Weg zurück in die Weltspitze schon weiter. Nach vier Unentschie­den in Folge braucht der Nationaltr­ainer gegen Italien einen Sieg, um sich mit einem guten Gefühl in die Sommerpaus­e zu verabschie­den.

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