Augsburger Allgemeine (Land Nord)
Dunkle Zeugnisse der Kriegsgräuel
Hintergrund Massengräber sind Ausdruck von Unmenschlichkeit in Kriegen. Der Forensiker Roland Wessling versucht, anonym verscharrte Menschen zu identifizieren. Der Spezialist gibt teils schwer zu ertragende Einblicke in seine Arbeit.
Augsburg Der Tod riecht nach Ammoniak. Ein Bagger hebt Schicht für Schicht Erde ab. Eine Gruppe von Menschen steht um die Maschine herum. Konzentriert suchen sie den Boden ab. Bevor jemand etwas sieht, riechen einige es schon. Ein leicht stechender Geruch, der mit der zunehmenden Tiefe des Erdlochs stärker wird. Es wird eine Grube ausgehoben, in der Opfer aufeinander geworfen verscharrt wurden – ein Massengrab. Die Art, tote Menschen – teils zu Hunderten – anonym zu vergraben, ist eine Ausgeburt des Krieges. Ob es die Weltkriege, der Bürgerkrieg in Spanien oder Massaker in Ruanda waren, teils wurden die Gräber erst viele Jahre später ausgehoben oder man verzichtete darauf. Viele Menschen, die dort begraben sind, wurden nie identifiziert.
In der Ukraine werden Woche für Woche Gräber geöffnet, um mutmaßliche russische Kriegsverbrechen zu ermitteln. Gerade wurde in Butscha bei Kiew ein neues Massengrab mit erschossenen gefesselten Zivilisten entdeckt. In besetzten Gebieten wie Mariupol deuten Luftbilder auf Massengräber hin. Die Aufarbeitung könnte Jahre dauern.
Roland Wessling kennt die stechenden Gerüche der Verwesung, die grauenhaften Bilder dieser Orte. Der Niedersachse ist Dozent für forensische Archäologe und Anthropologie an der Cranfield Universität in England und lehrt dabei die kriminologische Untersuchung vergrabener Opfer von Verbrechen, Katastrophen oder Kriegen. Der 51-Jährige, der sein Fach in Großbritannien studierte, hat nach den Balkankriegen geholfen, Massengräber auszuheben, Tote zu bergen und Beweise zu sichern.
Getötete Menschen noch nach Jahren anhand ihrer Überreste zu identifizieren, ist eigentlich Arbeit der Pathologie und der Gerichtsmediziner. „Als Archäologe beschränke ich mich zum großen Teil auf die Feldarbeit“, sagt Wessling. Wobei ich meinen Studenten immer sage: Als Forensischer Archäologe muss man auch ein guter Anthropologe sein.“Das heißt, die Wissenschaft des Wesens Mensch zu verstehen.
Wenn Wessling über seine Arbeit spricht, bleibt seine Mimik ruhig, er verzieht das Gesicht auch nicht, wenn er beschreibt, wie die Umstände an Massengräbern manchmal sind. Knietief stehend in Leichen oder nur noch Knochen, die er in den Gräbern findet: „Man sollte al
lerdings nicht glauben, dass generell alles nach zwei Jahren skelettiert ist.“Im Irak hat der Forensiker Gräber geöffnet, die erst drei Monate alt waren. Die Körper waren ausgetrocknet und mumifiziert. Alle Feuchtigkeit wurde ihnen vom Boden entzogen. In Bosnien gab es hingegen Gräber, die zehn Jahre alt waren, bevor sie geöffnet und ausgehoben wurden: „Der Boden war reich an Lehm. Die Flüssigkeit der Körper wurde in den Gruben eingeschlossen. Da haben wir Leichen geborgen, da hätte man noch Fingerabdrücke nehmen können.“
Der Gerichtsarchäologe erwartet, dass in der Ukraine jedes gefundene Grab ausgehoben werden wird, wenn der Krieg es zulässt. Oft dauert es lange, bis die Kämpfe vorbei sind und die Lage sicher. Denn damit die forensischen Teams ihre Arbeit machen können, müssen die Flächen durch das Militär gesichert werden. Die Gräber werden dann meist mit mechanischen Geräten wie einem Bagger geöffnet.
Wessling erinnert sich an seine
„Wir stehen im Kreis um die Maschine herum. Sobald irgendeine Art von Beweis sichtbar ist, geben wir dem Fahrer ein Zeichen. Häufig ist es Kleidung, die wir zuerst sehen. Stofffetzen. Gesichert werde alles, was nicht Erde ist. Als potenzieller Beweis. „Ich habe schon Bierflaschen gefunden, die die Täter in die Gräber geworfen haben“, sagt Wessling.
Sobald das Team auf Höhe der Erdschicht ist, wo die Leichen begraben liegen, geht es zunächst mit Schaufeln und Hacken weiter. „Je näher wir an die Körper rankommen, desto delikater werden die Geräte“, sagt Wessling. Mit kleinen Holzspachteln, Pinseln, Schwämmen und Bürsten werden die Körper und alles, was noch davon übrig ist, freigelegt. Der Geruch der Gräber betäubt irgendwann den Geruchssinn, während sich die Forensiker zwischen den unterschiedlichen Farbtönen des Erdbodens vorarbeiten. „Man merkt das mit dem Gestank kaum noch“, sagt Wessling. „Weil man sich langsam daran gewöhnt. Aber die meisten von unseren Kleidungsstücken werden am Ende einer Grabung weggeschmissen.“Der Leichengeruch bleibe in den Hemden, Hosen und in den Schuhen hängen, wie eine böse Erinnerung. „Und Hunde am Flughafen reagieren darauf, deshalb kommen die Sachen weg.“
Wie schnell Leichen identifiziert werden könnten, läge zum Teil daran, wie groß das gerichtsmedizinische Team sei und wie umfangreich die Gen-Analyse ist, erklärt Wessling. „Ausgrabungen sind nicht günstig. Räumlichkeiten zu finden, ist nicht einfach. Es bringt nichts, nur Gräber auszugraben. Wir können nur so schnell arbeiten, wie die Gerichtsmedizin die Leichen auch identifizieren kann.“Eine Chance, die Toten schnell zu identifizieren, gibt es am besten nach einem Krieg. „Wenn Frieden ist und die regierende Partei nicht für die Leichen verantwortlich ist“, schränkt Wessling ein. Der schwierigere Teil sei es, Angehörige zu ermitteln und dort genetische Vergleichsproben zu hoAusgrabungen: len. Die Ermittler suchen dabei auch Flüchtlinge, die das Land im Krieg verlassen haben, um mit Verwandtschaftsmerkmalen auf die Identität getöteter Opfer zu kommen.
Derzeit sind internationale Forensiker in der Ukraine und versuchen Teams anzuleiten. „Wir sind momentan im Gespräch, Polizisten, Staatsanwälte auszubilden“, berichtet Wessling. „2004 haben wir das mit Irakern gemacht. Manche von denen arbeiten heute noch in ihrem Land an den Gräbern.“
Das Internationale Rote Kreuz hilft oft mit, Angehörige zu informieren, wenn Leichen gefunden und identifiziert wurden und Bestattungen möglich sind. Fatima Sator ist Sprecherin des Verbunds und
Genproben von Verwandten helfen bei der Identifizierung
derzeit in der Ukraine vor Ort. Die Mitarbeiter des Roten Kreuzes schließen dort an, wo die Arbeit der wissenschaftlich forensischen Arbeit aufhört und die humanitäre Arbeit beginnt. „Es ist unser Job, dabei zu helfen, die Körper mit so viel Würde zu behandeln wie nur möglich und der Familie vom Schicksal ihrer Geliebten zu berichten.“
Die Arbeit mit den Toten und mit den Lebenden, die jemanden verloren haben, geht nicht spurlos an den Profi-Ermittlern vorbei. „Während der Ausgrabung muss man sich abschotten“, sagt Wessling. „Wenn ich mich mit jeder Leiche, die ich ausgrabe, identifiziere, dann würde ich nach dem halben Tag in der Ecke sitzen und heulen. Das hilft keinem, nicht den Angehörigen oder der Justiz.“Es sei schwierig, um Albträume rumzukommen, auch wenn sie mit der Zeit verblassten. Seit besonders belastenden Erfahrungen in Bosnien, als er an einem Tag Erlebnisse von Überlebenden des Krieges übersetzte und anderntags bei der Autopsie von Opfern assistierte, achte er darauf, die Arbeit mit Lebenden und Toten strikt zu trennen.
Eine der besten Methoden und Ventile, mit den Belastungen dieser Arbeit umzugehen, sei Humor, sagt Wessling. Das kenne man auch von Chirurgen, erzählt der Wissenschaftler. Er erinnert sich an eine Situation, in der das Team Leichen Namen wie Mr. Pink oder Mr. Orange gab, weil ihre Kleidung in abstrakter Weise an Quentin Tarantinos Film „Reservoir Dogs“erinnerte. „Humor ist die schärfste Klinge gegen den Irrsinn“, sagt Wessling.