Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Wenn Wildschwei­ne in die Romantik platzen

Buch

- VON VERONIKA LINTNER

Helene Hegemann legt mit „Schlachten­see“fünfzehn Kurzgeschi­chten vor – zwölf Jahre nach ihrem knalligen Debüt „Axolotl Roadkill“und nach zwei weiteren Romanen. Diesmal wühlt sie nach tierisch normalen Lebenskata­strophen.

Was Liebe nicht alles sein soll: „Die Liebe ist langmütig und freundlich, die Liebe eifert nicht, die Liebe treibt nicht Mutwillen, sie bläht sich nicht auf…“– schön, werden die Bibelfeste­n jetzt sagen, erster Brief an die Korinther, das „Hohelied der Liebe“. Aber Hand aufs pumpende Herz, so rein und pur verhält sich Liebe nicht immer. Manchmal, da tritt sie auch in Gestalt einer echten Wildsau auf. Ja, genau so: wie eine Rotte Wildschwei­ne, die einen nachts beim Baden am Dorf-Baggersee urplötzlic­h überfällt, überwältig­t. Genau in diese Klemme, diese lebensgefä­hrliche Lage, steckt die Autorin Helene Hegemann zwei Helden in einer ihrer Kurzgeschi­chten. Irgendwo im ostdeutsch­en Kurz-vor-Nirgendwo, da verlieben sich zwei sehr junge, sehr coole Männer ineinander. Sie wissen nur nicht wohin mit diesem ungewollte­n, mächtigen, furchteinf­lößenden Gefühl. Und gerade als die Situation ins Romantisch­e zu kippen droht, da attackiere­n Schweine das Paar am See – oder haben sie das alles nur geträumt? Halluzinat­ion im Rausch?

„Die Wildschwei­ne sind riesig, sie sehen aus wie Zeppeline auf Kokain“, schreibt Hegemann. Das Tier als ein ziemlich originelle­s Bild dafür, wie wuchtig so eine Liebe sein kann – und wie gefährlich in einem drögen, feindliche­n Nazi-Nest. Aber vor allem auch: wie komisch. Die Sau und die Liebe, das hat Ölschinken-Qualitäten, es ist eines der stärksten, widerborst­igsten Bilder, die Helene Hegemann in ihren 15 Kurzgeschi­chten in ihrem neuen Buch „Schlachten­see: Stories“malt.

Hegemann? Eine Rückblende: Die Feuilleton­s hatten sie 2010 schon als junges Schreibwun­der hochgejazz­t, sie liebten ihren ersten Roman „Axolotl Roadkill“– bis Plagiatsvo­rwürfe aufkamen und das

Talent schnell auf den harten Boden von Hass und Häme aufknallte. Sie war gerade 18 Jahre, ein literarisc­her Wildfang. Ihre Pubertät hatte sie an der Berliner Volksbühne durchlebt, nah bei ihrem KünstlerVa­ter, der dort seiner Arbeit nachging. Aber aus dem tiefen Kakao, durch den sie die Kritik mit ihrem Debüt-Skandal gezogen hat, ist sie schon lange wieder aufgetauch­t.

Nach Roman Nummer drei, „Bungalow“(2018), schreibt die 30-Jährige jetzt in Kurzform. Dafür hat sie sich extra an ein stilles, titelgeben­des Plätzchen zurückgezo­gen: an den Schlachten­see bei Berlin, im

Grunewald. Keine Sorge, es kracht und blutet und bricht trotzdem wieder in, aus und um Hegemanns neue Figuren, so wie damals, als ihre „Axolotl-Roadkill“-Heldin Mifti im Stroboskop- und DrogenRaus­ch viel zu jung durch die Bundeshaup­tstadt streunte. Aber es sind in „Schlachten­see“diesmal vor allem normalster­bliche, alltäglich­e Katastroph­en, denen sie nachfühlt.

Wesen wie die Wildschwei­ne prägen die kurzen, Haken schlagende­n Episoden. Die Tierwelt, die brutale Natur und auch das Kranke und Verwundert­e im Menschen – das alles hievt sich die Autorin auf den

OP-Tisch, um es zu sezieren. Mit dem Charme der Bosheit stellt sie in der Episode „Die Pfauengesc­hichte“eine Diagnose: Diese Welt hat einen Vogel. Da reist eine junge Frau, Phoebe, ohne Zeit und Ziel hinab in den US-amerikanis­chen Süden und – beobachtet. Hier, in einem bräsigen Wohlstands-Villen-Milieu, hat sich ein Mord zugetragen. Ein Nachbar hat sich den prächtigen, stolzen Haus-Pfau des anderen Nachbarn geschnappt. „Der Pfau hat ihn genervt und er hat ihn deshalb mit einem Golfschläg­er erschlagen. Im Pyjama, nimmt Phoebe an.“Und die Todesspur zieht sich gemütlich-morbid weiter durch den Text, ebenso die Doppelmora­l und politische Verlotteru­ng in der Vorstadt. Am Ende steht da ein urkomische­r Vergleich, mit einem alten Pfau, der seine Prachtfede­rn schon verloren hat: „Der ganze Körper denkt, da wäre hinten noch was dran. Dabei ist da nichts mehr. Nur sein nackter alter Arsch. Und sollte Phoebe jemals eine bessere Metapher für den derzeitige­n Zustand Nordamerik­as gehört haben, dann hat sie sie guten Gewissens zugunsten dieser hier verdrängt.“

Hegemann sticht in die Wunden dieser Zeit. Nur eben nicht mit Mifti-Wut, sondern in einem Mix aus Ironie und Schicksals­ergebenhei­t. Die schwulen Jungs verlieben sich ausgerechn­et bei Schnellrod­a – dort, wo der extrem rechte Antaios-Verlag von Götz Kubitschek seinen Sitz hat. Und auch der Krieg klopft als Sujet an: „Wir unterhielt­en uns über irgendwas, verrückte Machthaber im Atomzeital­ter, nehme ich an.“

Nach dem Großstadtf­limmern der Hegemann-Romane atmen diese Episoden sogar Alpenluft – um im Morast eines falschen Heimat-Idylls zu versinken. Zauberhaft schrecklic­h: Die Irrfahrt einer Frau von Welt, die mit der österreich­ischen Regionalba­hn partout nicht am Ziel ankommt. Sie will sich mit Drogen wachhalten – und verpennt gleich mehrmals die Haltestell­e ihres Heimatkaff­s. Das Leid trifft jedermann und knallt dabei in schillernd­en Farben. Eine von der Lawine Verschütte­te beschreibt ihren Blick aus der kleinen Lücke im Schnee: „Das Letzte, was sie sieht, bevor sie einpennt, sind Bäume. Kahle Äste in einem weißen Sturm. Schwarze Fasern, die zu Herzkranzg­efäßen werden, zu ihren eigenen. Sie weiß, dass sie nicht einschlafe­n darf.“

Selten läuft diese Lust am Elend aus dem Ruder und suhlt sich in Posen. Eine russische Gangster-Posse samt Liebes-Dreieck gerät zur überdrehte­n, zähen Endlosanek­dote. Aber Hegemann bläst zum Frontalang­riff gegen die Kritik auf Seite 169: „Und wenn Sie alles, was jetzt kommt, für einen willkürlic­hen inneren Monolog halten, wenn Sie wünschten, das wäre ein wenig linearer, wenn Sie das als ungeregelt­e Aneinander­reihung von Fehlwahrne­hmungen aburteilen, statt zu akzeptiere­n, dass es sich um eine Geschichte handelt, dann wissen Sie nicht, was Leben ist.“

In „Schlachten­see“treten Figuren auf, die Safran, Minute, Tschlix heißen, was eher nach Ikea-Schlafcouc­h und Aquarellfa­rbkasten klingt. Die dicke Überraschu­ng erwischt die Leserin dann aber im Déjà-vu: Sie erscheinen wieder, in späteren Episoden. Von diesen Figuren nicht abzuweiche­n, als Autorin, auch darin steckt viel Liebe.

Am Ende des Buchs stehen, wie ein Gag gegen Plagiatsve­rdacht, Zitatnachw­eise. Vielleicht wird das beim nächsten Hegemann-Werk schon überflüssi­g sein. Weil die nächste arme Wildsau durchs Feuilleton-Dorf getrieben wird – und weil sich diese Autorin behauptet.

Helene Hegemann: Schlachten­see; Kiepenheue­r & Witsch, 258 Seiten, 23 Euro

 ?? Foto: Urban Zintel ?? Ihren dritten Roman „Bungalow“hatte Helene Hegemann 2018 veröffentl­icht. Jetzt, mit 30 Jahren, tritt sie etwas kürzer – zumindest in der Textform.
Foto: Urban Zintel Ihren dritten Roman „Bungalow“hatte Helene Hegemann 2018 veröffentl­icht. Jetzt, mit 30 Jahren, tritt sie etwas kürzer – zumindest in der Textform.

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