Augsburger Allgemeine (Land Nord)
Ukraine soll EUKandidat werden
Ukraine Lange hat er gewartet, am 113. Kriegstag kam der Bundeskanzler nach Kiew. Während des Besuches schrillte Luftalarm. Am Ende gab Scholz ein eher symbolisches Versprechen.
Berlin/Kiew Viele Staats- und Regierungschefs waren bereits zu Besuch beim ukrainischen Ministerpräsidenten Wolodymyr Selenskyj. Doch dies dürfte der hochrangigste und vielleicht auch wichtigste gewesen sein: Gemeinsam mit dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron und seinem italienischen Amtskollegen Mario Draghi war Bundeskanzler Olaf Scholz nach Kiew gereist. Dort stieß auch Rumäniens Präsident Klaus Iohannis dazu. Scholz ist Vorsitzender der G7-Staaten, Macron hat die EU-Ratspräsidentschaft inne, Iohannis kann für die Osteuropäer sprechen. Doch welche Botschaft hatten die Männer im Gepäck? Immerhin war die Reise von großen Erwartungen begleitet worden.
Schnell wurde klar: Weitere Waffen über die bereits zugesagten hinaus versprach Scholz nicht – stattdessen hatte er eine politische Botschaft im Gepäck. „Meine Kollegen und ich sind heute hier nach Kiew gekommen mit einer klaren Botschaft: Die Ukraine gehört zur europäischen Familie“, sagte der Bundeskanzler. Macron ergänzte: „Sie können auf uns zählen, Herr Präsident.“Allerdings muss ein Beschluss für weitere Mitgliedsländer in der EU einstimmig fallen, das Versprechen ist also alles andere als eine Garantie. Das „Geschenk“der Besucher hatte also eher symbolischen Charakter. Präsident Selenskyj zeigte sich dennoch zuversichtlich: „Der EU-Kandidatenstatus könnte eine historische Entscheidung für Europa sein.“Gegenüber dem deutschen Kanzler gab sich der Präsident zumindest vor den Kameras herzlich. Es würden Waffen geliefert, auch die gewünschten. „Ich bin außerordentlich zufrieden“, sagte er. „Ja, ich bin überzeugt, dass das ganze deutsche Volk die Ukraine unterstützt.“Gemeinsam könnte dieser Krieg beendet werden.
Konkreter waren die Zusagen aus Frankreich: Macron will der Ukraine weitere Haubitzen liefern. Über zwölf bereits gelieferte schwere Geschütze hinaus soll die Ukraine sechs weitere Haubitzen erhalten. Die US-Regierung versprach aus der Ferne eine weitere Lieferung im Umfang von einer Milliarde Dollar.
Die Ukraine wird sie brauchen können: Russland betreibt aktuell vor allem im Osten der Ukraine, im Donbass, einen Abnutzungskrieg. Die Lage für die ukrainischen Streitkräfte ist schwierig.
Schon kurz nach der Ankunft der Politiker in Kiew wurde Luftalarm ausgelöst. Der Kanzler besuchte unter anderem den teils zerstörten Vorort Irpin. Ähnlich wie in Butscha waren dort nach dem Rückzug der Russen Ende März knapp 300 teils hingerichtete Zivilisten gefunden worden. „Es ist furchtbar, was dieser Krieg an Zerstörung anrichtet“, sagte er. „Es ist umso schlimmer, wenn man sieht, wie furchtbar sinnlos diese Gewalt ist, die wir hier sehen.“Russland treibe diesen Krieg mit größter Brutalität und ohne Rücksicht auf Menschenleben voran. „Die Zerstörungen, die wir hier gesehen haben und die hier hinter uns auch sichtbar sind, sind ein ganz wichtiges Mahnmal dafür, dass etwas zu tun ist.“
Die Reise sollte allerdings auch so etwas wie ein Befreiungsschlag für den Kanzler selbst werden. Lange war er kritisiert worden, dass nicht nur die deutsche Unterstützung für die Ukraine zu zögerlich sei. Auch die stets aufgeschobenen Reisepläne sorgten für Verärgerung.
Spott kam aus Moskau. „Die europäischen Fans von Fröschen, Leberwurst und Spaghetti lieben es, Kiew zu besuchen“, schrieb der frühere Präsident Dmitri Medwedew auf Twitter. „Mit null Nutzen.“
Beobachter beurteilen das Treffen eher verhalten. „Ich denke, es war wichtig, dass Scholz, Macron und Draghi in Irpin waren und sich dort einen Eindruck von der Lage verschafft haben“, sagt der Sicherheitsexperte Joachim Kraus von der Universität Kiel. Das schärfe das Gespür für die Dramatik, das viele bislang bei Scholz vermisst hatten. „An Ansehen in Kiew hat Scholz gewonnen, aber die eigentliche Nagelprobe ist die tatsächliche Bereitschaft von Scholz, Waffenlieferungen zuzulassen.“
Die Reise der hochrangigen Staatsmänner fand unter höchsten Sicherheitsvorkehrungen statt. Scholz wurde unter anderem vom Team „Ausland Spezialeinsätze“des Bundeskriminalamtes beschützt. Lesen Sie auch den Leitarti kel und die Seite Politik.