Augsburger Allgemeine (Land Nord)
Der Freund aus dem Feindesland
Krieg Der junge Russe Makar Diakonov floh vor drei Jahren aus Sankt Petersburg. Nun holt er zusammen mit Gleichgesinnten von Prag aus Flüchtlinge aus der ukrainischen Kriegshölle heraus. Über eine kaum zu glaubende Geschichte, die von Wut, Mut und auch Li
Prag Der Ort, von dem aus Makar Diakonov nach eigenen Angaben schon Zehntausende Menschen gerettet hat, könnte auch in einem Albtraum des russischen Präsidenten Wladimir Putin über den Westen und dessen angebliche Dekadenz vorkommen. Das Café zwischen Prager Hauptbahnhof und Wenzelsplatz fühlt sich mehr nach San Francisco oder New York an als nach tschechischer Hauptstadt. Es gibt Frappuccinos und Chai-Tee und viel Avocado. Bestellt wird auf Englisch, von jungen Leuten, die mit Knopf im Ohr in ihre Laptops starren.
Hinter einem dieser Geräte sitzt, oben im Maisonettebereich, ein junger Mann mit Lücke zwischen den
Plötzlich klopfte der Geheimdienst an der Tür
Schneidezähnen, verschiedenfarbigen Schnürsenkeln in den Schuhen und dem Stadtplan von Manhattan auf dem T-Shirt. Hätte er sich auch einen Frappuccino bestellt und würde nicht eine mitgebrachte Flasche Cola unter seinem Tisch bunkern – er würde hier kaum auffallen.
Unter all den Projekten, die in diesem Café über die Bildschirme sausen, ist seines vermutlich das bedeutendste: Sein Laptop ist ein digitaler Rettungsring. Mit ihm holt Makar Sergejewitsch Diakonov, ein Russe, 18 Jahre alt, Ukrainerinnen und Ukrainer aus der Kriegshölle heraus.
Es heißt immer, das Leben schreibt die besten Geschichten. Doch wäre das Leben ein Autor und er würde diese Geschichte zu Papier bringen, nicht wenige hätten ihn für vollkommen verrückt erklärt. Dies also ist die Geschichte von zwei Russen und einer Ukrainerin, von Freundschaft und von Liebe. Von Makar Diakonov aus Sankt Petersburg, dem russischen Dissidenten und Flüchtlingshelfer; von seinem Kumpel Jurij Koschelenko, 21, aus Orenburg an der Wolga; und von Olena Kazakova, 21, aus dem Donbass, die dank der beiden fliehen konnte und die Liebe fand: Jurij.
Makar Diakonov hat nie einen anderen Machthaber als Putin kennengelernt. 2004 wird er in eine liberale Familie geboren. Die Mutter hat eine Theaterschule. Der Vater verlässt sie früh. Makar merkt bald, dass „das System kaputt ist“, wie er sagt. Mit 13 Jahren schließt er sich dem Team von Kreml-Kritiker und Anti-Korruptions-Kämpfer Alexej Nawalny an. Auf Nawalny wird später ein Giftanschlag verübt. Am Mittwoch meldet er sich auf Instagram zurück, nachdem einen Tag lang jede Spur von ihm fehlte. Er wurde in ein besonders berüchtigtes russisches Straflager verlegt.
Diakonov jedenfalls organisiert damals Wahlkampfveranstaltungen, geht zu Demonstrationen, wird ebenfalls zum Kreml-Widersacher. Mit 14 wird er erstmals verhaftet. Insgesamt passiert das zehn-, vielleicht auch fünfzehnmal, genau weiß er es nicht mehr. Genau weiß er aber, dass er eines Tages, es war ein Montag, nach Hause kam und in seinem Zimmer saß ein kleiner, glatzköpfiger Mann vom Inlandsgeheimdienst FSB. „Ich musste stehen wie in der Schule“, erinnert sich Diakonov. „Dann sagte er: ,Wenn du nicht mit uns kooperierst, wirst du Probleme haben.‘ Er ließ seine Nummer da und ging.“
Diakonov ruft nie an. Er will kein Verräter sein. Stattdessen bucht er einen Flug nach Georgien. Er ist 16 und der 21. Juli 2019 sein letzter Tag in Russland. Von Tiflis zieht er nach Prag, um Informationstechnik zu studieren. Seine Familie wird weiter gegängelt. Am 31. Januar 2021 klopfen Ermittler bei Diakonovs Mutter an, vernehmen sie eine Stunde lang. So steht es im Durchsuchungsprotokoll.
Wer solche Dinge erlebte, konnte ahnen, dass die vielen russischen Soldaten, die sich an der ukrainischen Grenze sammelten, kein militärischer Bluff sein würden. Doch als Putin am 24. Februar tatsächlich über sein Nachbarland herfällt, da klappt der Boden unter Diakonovs Füßen weg wie eine Falltür. Er fällt in einen Sumpf aus Panik und Wut auf sein eigenes Land. Muss er diesen Gemütszustand von damals heute beschreiben, sagt er, deutlich aufgeräumter: „Wir sind nicht schuld für das, was passiert ist. Aber wir sind verantwortlich.“
Diakonov twittert damals: „Liebe Ukrainer, mein Name ist Makar, ich lebe in Prag, wenn ihr Unterkunft und Essen braucht, dann habe ich 4
Plätze. Entschuldigung, wir haben es vermasselt. Ich bete für euch und eure Freiheit.“
Der Tweet wird tausendfach geliked, hundertfach geteilt, dutzendfach kommentiert. Ein Mann aus Kiew schreibt: Er wolle bleiben und sein Land verteidigen. Doch seine Frau und die beiden Töchter, die müssten schnell raus. Ob er helfen könne? Während die Mutter der Mädchen im überfüllten westukrainischen Bahnhof von Lwiw zwei Tage auf einen Zug wartet, macht Diakonov für die Familie ein Hostel im polnischen Lodz ausfindig, das Flüchtlingen kostenlose Schlafplätze zur Verfügung stellt. „Ich verstand, dass ich mir auch selbst half, indem ich anderen half“, erzählt er. Und er verstand, dass er seine Hilfe vervielfachen müsse.
Kriegsmonat vier, Diakonov sitzt vor seinem Laptop in Prag, zoomt sich virtuell in die Ukraine und scrollt sich durch eine riesige Chatleiste. Im Sekundentakt ploppen Nachrichten auf, 120 in der letzten Stunde. „Das sind alles Flüchtlinge“, erklärt er. Diakonov hat sein Studium und seinen Nebenjob als Programmierer auf Eis gelegt und mit 18 Jahren die Organisation „Helping to Leave“mitgegründet. Helfen zum Weggehen.
Anfangs verbreitete sie über einen Telegram-Kanal allgemeine Informationen für die Flüchtlinge: Busse hier, Taxis da, Luftschläge dort. Im ersten Kriegsmonat meldeten sich Tausende und Diakonovs Verein fing an, ein Netzwerk an Fahrern und Unterkünften zu spinnen. Inzwischen arbeitet „Helping to Leave“automatisiert, mit einem sogenannten Bot. Hilfesuchende müssen einen Fragebogen ausfüllen: Wo seid ihr? Wie viele reisen mit euch? Habt ihr Dokumente? Dann werden sie an einen von etwa 300 „Operatoren“vermittelt, Russen, Georgierinnen, Armenier, Menschen von New York bis Kasachstan, die eine Flucht organisieren und koordinieren. Eine Mitfahrgelegenheit, um aus Charkiw herauszukommen. Eine Übersicht über ungefährliche Bus- und Zugverbindungen. Geld. In Deutschland mag Telegram eine Plattform für Verschwörungsapologeten sein. Für die Menschen von Mariupol, Saporischschja und Sewerodonezk ist es eine App-gewordene 110.
„Viele Flüchtlinge werden auch nach Russland deportiert“, sagt Diakonov. Sogar aus Nachodka, im weiten Osten Russlands, hätten sich gut 300 Ukrainerinnen und Ukrainer gemeldet. „Wir haben sie dann nach Japan evakuiert.“Von 50.000 geretteten Menschen spricht Diakonov, und wie zum Beweis kommen im Prager Café jetzt zwei seiner Freunde die Spindeltreppe nach oben gestiegen.
Jurij Koschelenko – Bauchtasche, Wuschelhaare, Lausbubenblick – musste zwei Jahre warten, ehe er ein Visum für sein Studium in Prag bekam. Zu Hause, an der kasachischen Grenze, lebte er nahe einer Militärbasis. Nun programmiert er jenen Telegram-Bot, der dafür sorgte, dass auch Olena Kazakova, ein schüchternes Mädchen mit unschüchternen pinken Haaren, an diesem Tag in Prag neben ihm sitzt.
Ihr persönlicher Leidensweg sagt viel aus über die Eskalation dieses
Krieges. Als Putins Soldaten erstmals im Osten ihrer Heimat aufmarschierten, 2014, floh Kazakova von Donezk in ein Dörfchen bei Charkiw. Acht Jahre später musste sie wieder alles hinter sich lassen. „Helping to Leave“schickte ihr Geld. Mit einem Fahrer kam sie nach Dnipro. „Hier“, sagt Kazakova und zeigt ein Video, ein verängstigtes Mädchen im Menschenpulk, „das bin ich am Bahnhof dort.“Mit dem Zug schaffte sie es nach Lwiw, von dort weiter ins polnische Lodz. Hunderte Nachrichten tauschte sie mit „Helping to Leave“aus. Es ist eine Chronik der Verzweiflung:
„Ich mache mir große Sorgen, dass ich morgen nicht nach Lwiw komme.“– „Ruf mich an, versprochen?“– „Versprochen.“
„Leute, sagt mir, wie die Situation in Dnipro ist. Die Leute sagen, dass es Schießereien gibt.“– „Ja, es gab Schießereien. Vor 6 bis 10 Stunden.“
„Ich habe Angst vor dem Tod.“– „Wir suchen umgehend einen Spezialisten, der dich betreuen kann.“Eine Psychologin meldete sich. Die beiden sprachen eine Stunde lang.
Am Ende der Flucht schrieb Kazakova ihrer Helferin, die auch in Prag wohnt: „Ich weiß nicht, was ich tun würde, wenn es dich nicht gäbe.“– „Du hast ein großartiges Leben vor dir. Wir warten auf dich!“
Jetzt ist sie hier, bei Diakonov und Koschelenko, der sagt: „Wir sind zusammen.“Gefunkt hat es am Brandenburger Tor, bei einer gemeinsamen Reise der „Helping to Leave“-Leute. In Prag haben sie ein kleines Zimmer samt Mitbewohner, aber gut, immerhin sind es zwölf Quadratmeter in Freiheit. Sie teilen sich ihren Burger, teilen sich ihren Cocktail und nun wollen sie und Makar Diakonov mit dem Reporter unbedingt ihre neue Stadt teilen.
Es geht über den Wenzelsplatz, in einen Park, eine verschwitzte Kneipe. Und wenn sie sich so unterhalten, die beiden Russen und die Ukrainerin, über Netflix, Schweinespeck und die Frage, was „Scholzomat“eigentlich bedeutet, dann schimmert die Hoffnung durch, dass die Welt hinter den ganzen Machtspielchen, unter all dem Bombenhagel, trotz unzähliger Gräueltaten doch noch ein bisschen Menschlichkeit bereithält. 400.000 Euro an
Spenden hat „Helping to Leave“bisher gesammelt. Diakonov will freiwilligen Helferinnen und Helfern bald Gehälter zahlen. Die Organisation ist auf das Schlimmste vorbereitet: „Sollte es zum Krieg in Georgien kommen, dann können wir auch da helfen. Unsere Technologien sind flexibel“, sagt er.
Als Diakonov als Oppositioneller sein Land verließ, dachte er, dass er irgendwann zurückkehren würde, dass auch Putins Zeit einmal vorbei sein wird und sich die Dinge verändern. „Jetzt bin ich mir nicht mehr sicher. Ich sehe mich nicht in einem Land, in dem ein großer Teil der Bevölkerung diesen Krieg unterstützt.“Seine Mutter und seine Schwester sind nach Warschau geflohen. Koschelenko sagt: „In drei, vier, fünf Jahren werde ich versuchen,
Wenn Putin stirbt, rasieren sie sich den Kopf
meine Eltern aus Russland rauszuholen.“
In einem heiteren Moment, zwischen Bier zwei und Bier vier, erzählen die jungen Russen von einer Wette: Wenn Putin stirbt, werden sie sich eine Glatze rasieren lassen. Wenn die Ukraine den Krieg gewinnt, färben sie sich ihre Haare blau-gelb. Olena Kazakova würde sich zumindest auf den zweiten Teil der Wette einlassen. Ob sie je wieder zurückgehen wird in die Ukraine, wo ihre Eltern immer noch in Kiew ausharren, um zu helfen? „Ich weiß es nicht. Wahrscheinlich nur zu Besuch“, sagt sie.
Wer in Russland sein Glas hebt, der muss auch den Mund aufmachen. So will es die Tradition. Ohne einen Toast auszusprechen, kommt dort niemand davon. Man trinkt auf die Gesundheit oder auf die Liebe. Aber worauf sollen sie denn in diesen Zeiten überhaupt trinken, ausgerechnet sie, Makar Diakonov aus Sankt Petersburg, Jurij Koschelenko von der Wolga, Olena Kazakova aus dem Donbass? Sie zögern ein wenig, vor ihnen drei Wodkagläser in einer Bar im hippen Prager Ausgehviertel Zizkov. Die Uhr schlägt fast Mitternacht. Also, auf was? Nach wenigen Sekunden prosten sie sich zu. Es kann nur einen Toast geben: „Slawa Ukrajini!“Auf den Ruhm der Ukraine!