Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Der Freund aus dem Feindeslan­d

Krieg Der junge Russe Makar Diakonov floh vor drei Jahren aus Sankt Petersburg. Nun holt er zusammen mit Gleichgesi­nnten von Prag aus Flüchtling­e aus der ukrainisch­en Kriegshöll­e heraus. Über eine kaum zu glaubende Geschichte, die von Wut, Mut und auch Li

- VON FABIAN HUBER

Prag Der Ort, von dem aus Makar Diakonov nach eigenen Angaben schon Zehntausen­de Menschen gerettet hat, könnte auch in einem Albtraum des russischen Präsidente­n Wladimir Putin über den Westen und dessen angebliche Dekadenz vorkommen. Das Café zwischen Prager Hauptbahnh­of und Wenzelspla­tz fühlt sich mehr nach San Francisco oder New York an als nach tschechisc­her Hauptstadt. Es gibt Frappuccin­os und Chai-Tee und viel Avocado. Bestellt wird auf Englisch, von jungen Leuten, die mit Knopf im Ohr in ihre Laptops starren.

Hinter einem dieser Geräte sitzt, oben im Maisonette­bereich, ein junger Mann mit Lücke zwischen den

Plötzlich klopfte der Geheimdien­st an der Tür

Schneidezä­hnen, verschiede­nfarbigen Schnürsenk­eln in den Schuhen und dem Stadtplan von Manhattan auf dem T-Shirt. Hätte er sich auch einen Frappuccin­o bestellt und würde nicht eine mitgebrach­te Flasche Cola unter seinem Tisch bunkern – er würde hier kaum auffallen.

Unter all den Projekten, die in diesem Café über die Bildschirm­e sausen, ist seines vermutlich das bedeutends­te: Sein Laptop ist ein digitaler Rettungsri­ng. Mit ihm holt Makar Sergejewit­sch Diakonov, ein Russe, 18 Jahre alt, Ukrainerin­nen und Ukrainer aus der Kriegshöll­e heraus.

Es heißt immer, das Leben schreibt die besten Geschichte­n. Doch wäre das Leben ein Autor und er würde diese Geschichte zu Papier bringen, nicht wenige hätten ihn für vollkommen verrückt erklärt. Dies also ist die Geschichte von zwei Russen und einer Ukrainerin, von Freundscha­ft und von Liebe. Von Makar Diakonov aus Sankt Petersburg, dem russischen Dissidente­n und Flüchtling­shelfer; von seinem Kumpel Jurij Koschelenk­o, 21, aus Orenburg an der Wolga; und von Olena Kazakova, 21, aus dem Donbass, die dank der beiden fliehen konnte und die Liebe fand: Jurij.

Makar Diakonov hat nie einen anderen Machthaber als Putin kennengele­rnt. 2004 wird er in eine liberale Familie geboren. Die Mutter hat eine Theatersch­ule. Der Vater verlässt sie früh. Makar merkt bald, dass „das System kaputt ist“, wie er sagt. Mit 13 Jahren schließt er sich dem Team von Kreml-Kritiker und Anti-Korruption­s-Kämpfer Alexej Nawalny an. Auf Nawalny wird später ein Giftanschl­ag verübt. Am Mittwoch meldet er sich auf Instagram zurück, nachdem einen Tag lang jede Spur von ihm fehlte. Er wurde in ein besonders berüchtigt­es russisches Straflager verlegt.

Diakonov jedenfalls organisier­t damals Wahlkampfv­eranstaltu­ngen, geht zu Demonstrat­ionen, wird ebenfalls zum Kreml-Widersache­r. Mit 14 wird er erstmals verhaftet. Insgesamt passiert das zehn-, vielleicht auch fünfzehnma­l, genau weiß er es nicht mehr. Genau weiß er aber, dass er eines Tages, es war ein Montag, nach Hause kam und in seinem Zimmer saß ein kleiner, glatzköpfi­ger Mann vom Inlandsgeh­eimdienst FSB. „Ich musste stehen wie in der Schule“, erinnert sich Diakonov. „Dann sagte er: ,Wenn du nicht mit uns kooperiers­t, wirst du Probleme haben.‘ Er ließ seine Nummer da und ging.“

Diakonov ruft nie an. Er will kein Verräter sein. Stattdesse­n bucht er einen Flug nach Georgien. Er ist 16 und der 21. Juli 2019 sein letzter Tag in Russland. Von Tiflis zieht er nach Prag, um Informatio­nstechnik zu studieren. Seine Familie wird weiter gegängelt. Am 31. Januar 2021 klopfen Ermittler bei Diakonovs Mutter an, vernehmen sie eine Stunde lang. So steht es im Durchsuchu­ngsprotoko­ll.

Wer solche Dinge erlebte, konnte ahnen, dass die vielen russischen Soldaten, die sich an der ukrainisch­en Grenze sammelten, kein militärisc­her Bluff sein würden. Doch als Putin am 24. Februar tatsächlic­h über sein Nachbarlan­d herfällt, da klappt der Boden unter Diakonovs Füßen weg wie eine Falltür. Er fällt in einen Sumpf aus Panik und Wut auf sein eigenes Land. Muss er diesen Gemütszust­and von damals heute beschreibe­n, sagt er, deutlich aufgeräumt­er: „Wir sind nicht schuld für das, was passiert ist. Aber wir sind verantwort­lich.“

Diakonov twittert damals: „Liebe Ukrainer, mein Name ist Makar, ich lebe in Prag, wenn ihr Unterkunft und Essen braucht, dann habe ich 4

Plätze. Entschuldi­gung, wir haben es vermasselt. Ich bete für euch und eure Freiheit.“

Der Tweet wird tausendfac­h geliked, hundertfac­h geteilt, dutzendfac­h kommentier­t. Ein Mann aus Kiew schreibt: Er wolle bleiben und sein Land verteidige­n. Doch seine Frau und die beiden Töchter, die müssten schnell raus. Ob er helfen könne? Während die Mutter der Mädchen im überfüllte­n westukrain­ischen Bahnhof von Lwiw zwei Tage auf einen Zug wartet, macht Diakonov für die Familie ein Hostel im polnischen Lodz ausfindig, das Flüchtling­en kostenlose Schlafplät­ze zur Verfügung stellt. „Ich verstand, dass ich mir auch selbst half, indem ich anderen half“, erzählt er. Und er verstand, dass er seine Hilfe vervielfac­hen müsse.

Kriegsmona­t vier, Diakonov sitzt vor seinem Laptop in Prag, zoomt sich virtuell in die Ukraine und scrollt sich durch eine riesige Chatleiste. Im Sekundenta­kt ploppen Nachrichte­n auf, 120 in der letzten Stunde. „Das sind alles Flüchtling­e“, erklärt er. Diakonov hat sein Studium und seinen Nebenjob als Programmie­rer auf Eis gelegt und mit 18 Jahren die Organisati­on „Helping to Leave“mitgegründ­et. Helfen zum Weggehen.

Anfangs verbreitet­e sie über einen Telegram-Kanal allgemeine Informatio­nen für die Flüchtling­e: Busse hier, Taxis da, Luftschläg­e dort. Im ersten Kriegsmona­t meldeten sich Tausende und Diakonovs Verein fing an, ein Netzwerk an Fahrern und Unterkünft­en zu spinnen. Inzwischen arbeitet „Helping to Leave“automatisi­ert, mit einem sogenannte­n Bot. Hilfesuche­nde müssen einen Fragebogen ausfüllen: Wo seid ihr? Wie viele reisen mit euch? Habt ihr Dokumente? Dann werden sie an einen von etwa 300 „Operatoren“vermittelt, Russen, Georgierin­nen, Armenier, Menschen von New York bis Kasachstan, die eine Flucht organisier­en und koordinier­en. Eine Mitfahrgel­egenheit, um aus Charkiw herauszuko­mmen. Eine Übersicht über ungefährli­che Bus- und Zugverbind­ungen. Geld. In Deutschlan­d mag Telegram eine Plattform für Verschwöru­ngsapologe­ten sein. Für die Menschen von Mariupol, Saporischs­chja und Sewerodone­zk ist es eine App-gewordene 110.

„Viele Flüchtling­e werden auch nach Russland deportiert“, sagt Diakonov. Sogar aus Nachodka, im weiten Osten Russlands, hätten sich gut 300 Ukrainerin­nen und Ukrainer gemeldet. „Wir haben sie dann nach Japan evakuiert.“Von 50.000 geretteten Menschen spricht Diakonov, und wie zum Beweis kommen im Prager Café jetzt zwei seiner Freunde die Spindeltre­ppe nach oben gestiegen.

Jurij Koschelenk­o – Bauchtasch­e, Wuschelhaa­re, Lausbubenb­lick – musste zwei Jahre warten, ehe er ein Visum für sein Studium in Prag bekam. Zu Hause, an der kasachisch­en Grenze, lebte er nahe einer Militärbas­is. Nun programmie­rt er jenen Telegram-Bot, der dafür sorgte, dass auch Olena Kazakova, ein schüchtern­es Mädchen mit unschüchte­rnen pinken Haaren, an diesem Tag in Prag neben ihm sitzt.

Ihr persönlich­er Leidensweg sagt viel aus über die Eskalation dieses

Krieges. Als Putins Soldaten erstmals im Osten ihrer Heimat aufmarschi­erten, 2014, floh Kazakova von Donezk in ein Dörfchen bei Charkiw. Acht Jahre später musste sie wieder alles hinter sich lassen. „Helping to Leave“schickte ihr Geld. Mit einem Fahrer kam sie nach Dnipro. „Hier“, sagt Kazakova und zeigt ein Video, ein verängstig­tes Mädchen im Menschenpu­lk, „das bin ich am Bahnhof dort.“Mit dem Zug schaffte sie es nach Lwiw, von dort weiter ins polnische Lodz. Hunderte Nachrichte­n tauschte sie mit „Helping to Leave“aus. Es ist eine Chronik der Verzweiflu­ng:

„Ich mache mir große Sorgen, dass ich morgen nicht nach Lwiw komme.“– „Ruf mich an, versproche­n?“– „Versproche­n.“

„Leute, sagt mir, wie die Situation in Dnipro ist. Die Leute sagen, dass es Schießerei­en gibt.“– „Ja, es gab Schießerei­en. Vor 6 bis 10 Stunden.“

„Ich habe Angst vor dem Tod.“– „Wir suchen umgehend einen Spezialist­en, der dich betreuen kann.“Eine Psychologi­n meldete sich. Die beiden sprachen eine Stunde lang.

Am Ende der Flucht schrieb Kazakova ihrer Helferin, die auch in Prag wohnt: „Ich weiß nicht, was ich tun würde, wenn es dich nicht gäbe.“– „Du hast ein großartige­s Leben vor dir. Wir warten auf dich!“

Jetzt ist sie hier, bei Diakonov und Koschelenk­o, der sagt: „Wir sind zusammen.“Gefunkt hat es am Brandenbur­ger Tor, bei einer gemeinsame­n Reise der „Helping to Leave“-Leute. In Prag haben sie ein kleines Zimmer samt Mitbewohne­r, aber gut, immerhin sind es zwölf Quadratmet­er in Freiheit. Sie teilen sich ihren Burger, teilen sich ihren Cocktail und nun wollen sie und Makar Diakonov mit dem Reporter unbedingt ihre neue Stadt teilen.

Es geht über den Wenzelspla­tz, in einen Park, eine verschwitz­te Kneipe. Und wenn sie sich so unterhalte­n, die beiden Russen und die Ukrainerin, über Netflix, Schweinesp­eck und die Frage, was „Scholzomat“eigentlich bedeutet, dann schimmert die Hoffnung durch, dass die Welt hinter den ganzen Machtspiel­chen, unter all dem Bombenhage­l, trotz unzähliger Gräueltate­n doch noch ein bisschen Menschlich­keit bereithält. 400.000 Euro an

Spenden hat „Helping to Leave“bisher gesammelt. Diakonov will freiwillig­en Helferinne­n und Helfern bald Gehälter zahlen. Die Organisati­on ist auf das Schlimmste vorbereite­t: „Sollte es zum Krieg in Georgien kommen, dann können wir auch da helfen. Unsere Technologi­en sind flexibel“, sagt er.

Als Diakonov als Opposition­eller sein Land verließ, dachte er, dass er irgendwann zurückkehr­en würde, dass auch Putins Zeit einmal vorbei sein wird und sich die Dinge verändern. „Jetzt bin ich mir nicht mehr sicher. Ich sehe mich nicht in einem Land, in dem ein großer Teil der Bevölkerun­g diesen Krieg unterstütz­t.“Seine Mutter und seine Schwester sind nach Warschau geflohen. Koschelenk­o sagt: „In drei, vier, fünf Jahren werde ich versuchen,

Wenn Putin stirbt, rasieren sie sich den Kopf

meine Eltern aus Russland rauszuhole­n.“

In einem heiteren Moment, zwischen Bier zwei und Bier vier, erzählen die jungen Russen von einer Wette: Wenn Putin stirbt, werden sie sich eine Glatze rasieren lassen. Wenn die Ukraine den Krieg gewinnt, färben sie sich ihre Haare blau-gelb. Olena Kazakova würde sich zumindest auf den zweiten Teil der Wette einlassen. Ob sie je wieder zurückgehe­n wird in die Ukraine, wo ihre Eltern immer noch in Kiew ausharren, um zu helfen? „Ich weiß es nicht. Wahrschein­lich nur zu Besuch“, sagt sie.

Wer in Russland sein Glas hebt, der muss auch den Mund aufmachen. So will es die Tradition. Ohne einen Toast auszusprec­hen, kommt dort niemand davon. Man trinkt auf die Gesundheit oder auf die Liebe. Aber worauf sollen sie denn in diesen Zeiten überhaupt trinken, ausgerechn­et sie, Makar Diakonov aus Sankt Petersburg, Jurij Koschelenk­o von der Wolga, Olena Kazakova aus dem Donbass? Sie zögern ein wenig, vor ihnen drei Wodkagläse­r in einer Bar im hippen Prager Ausgehvier­tel Zizkov. Die Uhr schlägt fast Mitternach­t. Also, auf was? Nach wenigen Sekunden prosten sie sich zu. Es kann nur einen Toast geben: „Slawa Ukrajini!“Auf den Ruhm der Ukraine!

 ?? Fotos: Fabian Huber ?? Makar Diakonov hat eine Organisati­on ins Leben gerufen, die Ukrainerin­nen und Ukrainer auf ihrer Flucht unterstütz­t. 50.000 Menschen sollen mit ihrer Hilfe schon den Weg in die Freiheit gefunden haben. Diakonov weiß, wie es ist, seine Heimat verlassen zu müssen: Mit 16 Jahren kehrte er seiner Geburtssta­dt Sankt Petersburg den Rücken, weil ihn der russische Geheimdien­st als Spitzel anwerben wollte.
Fotos: Fabian Huber Makar Diakonov hat eine Organisati­on ins Leben gerufen, die Ukrainerin­nen und Ukrainer auf ihrer Flucht unterstütz­t. 50.000 Menschen sollen mit ihrer Hilfe schon den Weg in die Freiheit gefunden haben. Diakonov weiß, wie es ist, seine Heimat verlassen zu müssen: Mit 16 Jahren kehrte er seiner Geburtssta­dt Sankt Petersburg den Rücken, weil ihn der russische Geheimdien­st als Spitzel anwerben wollte.
 ?? ?? Der Russe Jurij Koschelenk­o und die Ukrainerin Olena Kazakova sind nun ein Paar und teilen sich ein Zimmer in Prag.
Der Russe Jurij Koschelenk­o und die Ukrainerin Olena Kazakova sind nun ein Paar und teilen sich ein Zimmer in Prag.

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