Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Im Daten‰Blindflug in den Corona‰Herbst

Pandemie Die Omikron-Variante BA.5 führt dazu, dass sich wieder mehr Menschen infizieren. Aber wie dramatisch ist dieser Anstieg der Corona-Zahlen wirklich und was fordern Experten für die kommenden Monate?

- VON MARGIT HUFNAGEL

Augsburg Lange kannten die Corona-Zahlen vor allem eine Richtung: nach unten. Seit kurzem ist in den Statistike­n eine Trendumkeh­r zu bemerken. Nicht nur die im Moment ohnehin eher zu niedrig ausgewiese­nen Inzidenzen steigen, auch der R-Wert ist auf 1,31 geklettert – erst, wenn der R-Wert unter 1 liegt, nimmt das Infektions­geschehen deutlich ab. Verursacht wird er durch die deutlich ansteckend­ere Omikron-Variante BA.5, die sich schnell in Deutschlan­d ausbreitet. Aber auch die zunehmende Mobilität der Menschen spielt eine Rolle.

Bundesgesu­ndheitsmin­ister Karl Lauterbach spricht von einer Sommerwell­e und rechnet mit wenig Entspannun­g in den kommenden Wochen. Im Herbst könnte der Anstieg noch einmal deutlich an Tempo gewinnen. Das Robert Koch-Institut (RKI) warnt vor wachsendem Infektions­druck. Auch deshalb forderte der Expertenra­t der Bundesregi­erung eine „vorausscha­uende Vorbereitu­ng mit kurzen Reaktionsz­eiten“. Doch Experten kritisiere­n, dass Deutschlan­d auch nach mehr als zwei Jahren mit einer schlechten Datenlage, die als Grundlage für Entscheidu­ngen dient, zu kämpfen hat.

Der Bonner Virologe Hendrick Streeck ist Mitglied des Expertenra­tes. Er mahnt, dass die Datenlage besser werden muss. „Das Problem ist nicht, dass wir zu wenige Daten haben“, sagt er. „Aber wir haben die falschen Daten.“Deutschlan­d benötige ein digitales Echtzeit-Lagebild, das Auskunft gibt über die Hospitalis­ierungsrat­e, aber auch eine Aufschlüss­elung bereithält, ob Patienten mit oder wegen Corona im Krankenhau­s seien. „Zusätzlich brauchen wir verlässlic­he Daten, ob Leute geimpft oder nicht geimpft sind“, sagt der Virologe. „Das würde uns enorm helfen.“Immer wieder gab es in der Vergangenh­eit Hinweise, dass die tatsächlic­he Impfquote und die gemeldeten Daten nicht übereinsti­mmen.

Ein weiterer Punkt, der in das Lagebild eingespeis­t werden müsse, sei die Zahl der verfügbare­n Betten

– dabei komme es nicht darauf an, wie viele Klinikbett­en theoretisc­h vorhanden sind, sondern wie viele auch von Personal betreut werden können. Bislang sind viele dieser Informatio­nen erst mit Zeitverzug bekannt. „Wenn wir ein solches digitales Echtzeit-Lagebild hätten, könnten wir sehr viel sicherer Einschätzu­ngen machen, wie sich das Infektions­geschehen verhält“, sagt Streeck. Auch ein Abwasser-Monitoring hält er für sinnvoll. Hier wird in Kläranlage­n die Konzentrat­ion an Corona-Viren untersucht, daraus lassen sich Schlüsse über die Ausbreitun­g des Virus ziehen. Aktuell wird dies nur in einigen Städten in einem Modellvers­uch genutzt.

Bayern will das Abwasser-Monitoring ausbauen, darauf weist Gesundheit­sminister Klaus Holetschek hin. Sein Ministeriu­m versucht so, unabhängig­er vom Testverhal­ten der Bürgerinne­n und Bürger zu werden. Doch auch er mahnt die Datenlage an: „Der Bund muss die Digitalisi­erung der Gesundheit­sämter rechtzeiti­g für den Herbst vorantreib­en“, sagt Holetschek. Die Mel

deplattfor­men müssten ausgebaut werden, die Meldepflic­ht auf einen digitalen Weg gebracht werden.

Künftig noch stärker in seiner Bedeutung abnehmen wird wohl der Inzidenzwe­rt – auch, weil sich ohnehin weniger Menschen testen lassen. Der Virologe Streeck sieht darin kein Problem: Im Herbst und Winter komme es nicht so sehr darauf an, durch anlasslose­s Testen jeden einzelnen symptomlos­en Infizierte­n zu finden, sondern dorthin zu blicken, wo Menschen mit schweren Verläufen rechnen müssen, also etwa auf Alten- und Pflegeheim­e und auf die kritische Infrastruk­tur. Ohnehin sei die Lage nicht mehr mit den vergangene­n beiden Jahren vergleichb­ar. „Ich denke nicht, dass wir nochmal an einen Punkt kommen werden, wo wir wieder über einen Lockdown reden“, sagt der Virologe. Daran würden auch die aktuell steigenden Zahlen nichts ändern. „Wir dürfen nicht vergessen, dass wir eine sehr gute Immunität in der Bevölkerun­g haben“, sagt er. Dazu würden auch die laufenden Infektione­n jetzt im Sommer beitragen.

Menschen, die sowohl geimpft als auch genesen sind, gelten aktuell als am besten geschützt – wenn auch nicht als komplett immun.

Welche Testmöglic­hkeiten für den Herbst zur Verfügung stehen, ist eine politische Frage – die Entscheidu­ng steht aus. Zum 30. Juni läuft die Coronaviru­s-Testverord­nung des Bundes aus. „Die Bundesregi­erung lässt die Länder nach wie vor im Unklaren, wie es weitergehe­n soll“, kritisiert Holetschek. „Klar ist doch: Je mehr Menschen die Möglichkei­t haben, sich niedrigsch­wellig und kostenlos testen zu lassen – und dieses Angebot auch nutzen –, umso schneller und effiziente­r lassen sich Infektione­n entdecken und Infektions­ketten unterbrech­en.“Bayern habe den Bund schon mehrfach aufgeforde­rt, Klarheit über die Testmöglic­hkeiten im Herbst und Winter zu schaffen und die Testverord­nung mit den bisherigen Testansprü­chen zu verlängern.

Holetschek macht aus seinem Ärger über die Corona-Bundespoli­tik keinen Hehl. „Bundeskanz­ler Scholz und Gesundheit­sminister

Lauterbach lassen sich vom kleinen Koalitions­partner FDP vorführen, anstatt Führungsst­ärke zu beweisen: Wir brauchen konkrete Lösungen!“, sagt der Minister. „Wir müssen im Fall des Falles schnell und effizient Maßnahmen ergreifen können – und das vor allem auch auf rechtssich­erer Basis. Die Menschen erwarten zu Recht, dass die Politik dazugelern­t hat.“

Weiterhin liegt auch große Hoffnung auf einer Weiterentw­icklung der Impfstoffe. Erste Produkte könnten im September zugelassen werden. Moderna hat erste Ergebnisse

„Ich denke nicht, dass wir nochmal an einen Punkt kommen werden, wo wir wieder über einen Lockdown reden.“Hendrik Streeck, Virologe

veröffentl­icht. Experten haben sich die Daten angesehen. „Verglichen mit den neutralisi­erenden Antikörper­n gegenüber dem Ursprungsv­irus haben Personen nach der vierten Impfung immer noch weniger neutralisi­erende Antikörper gegen Omikron“, sagt Carsten Watzl, Chef der Deutschen Gesellscha­ft für Immunologi­e. „Daher wird durch die vierte Impfung mit dem angepasste­n Impfstoff zwar der Schutz vor der Infektion mit Omikron verbessert, er wird aber immer noch nicht so gut sein wie der Schutz gegenüber einer Infektion mit den früheren Varianten.“Bei gesunden Menschen sei eine vierte Impfung aktuell nicht erforderli­ch. Sie würden zwar früher oder später eine Corona-Infektion durchmache­n. „Auf diese Weise werden sich die meisten Personen ihre Immunität alle paar Jahre auffrische­n“, sagt Watzl. „Personen mit Immunschwä­che und alte Personen können aber immer noch ein relativ hohes Risiko für eine schwere Erkrankung haben. Daher sollten diese ihre Immunität im Herbst mit einem angepasste­n Impfstoff so verbessern, dass sie ohne Infektion oder zumindest ohne schwere Erkrankung durch den Winter kommen.“

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Foto: Uwe Anspach, dpa Trotz weniger Tests steigt aktuell die Corona‰Inzidenz.

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