Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Sie blickt hinter die Wohnungstü­ren

Statistik Für den Zensus ziehen Freiwillig­e von Haus zu Haus und stellen Fragen. So auch Heidemarie Wagner. Sie schaut hinein ins Leben der Menschen – und manchmal auch in ihre Seelen.

- VON SARAH RITSCHEL

Ein Mann schlug ihr die Tür vor der Nase zu; eine Frau ließ es sich nicht nehmen, sie abends um halb acht mit Kaffee und Kuchen zu bewirten: Heidemarie Wagner hat in den vergangene­n Wochen viel erlebt. Sie ist eine von tausenden Helferinne­n und Helfern, die gerade für den Zensus 2022 von Haustür zu Haustür ziehen: die erste bundesweit­e Volkszählu­ng seit 2011.

Rund 18 Prozent der Bevölkerun­g wurden dafür zufällig ausgewählt, bekamen Post von den Landesämte­rn für Statistik und einen Termin für ein kurzes Interview mit ihrem oder ihrer „Erhebungsb­eauftragte­n“. So heißen Freiwillig­e wie Heidemarie Wagner im Statistike­rdeutsch. 20.000 solcher Interviewe­rinnen und Fragestell­er sind bis Mitte August in Bayern unterwegs. Wagner ist eine von ihnen, die 63-Jährige bekam Haushalte unter anderem im Augsburger Textilvier­tel zugeteilt. „Menschen verschiede­nen Alters, aus allen sozialen Schichten“, erklärt sie. 70 Haustüren, an denen sie klingelt, 130 Personen, die sie befragen muss. Zehn bis 15 Minuten dauert das pro Person; Wagner gibt die Daten direkt ins Tablet ein und übermittel­t sie ans Augsburger Amt für Statistik.

Zensus-Helfer kann jede und jeder Volljährig­e mit Wohnsitz in Deutschlan­d werden. Kommunikat­iv, offen, flexibel, gewissenha­ft und geduldig zu sein, schadet aber nicht; das bestätigt auch Heidemarie Wagner. Pflicht ist eine eintägige Schulung im Umgang mit der Erhebungss­oftware. „Ich bin stolz darauf, dass ich Teil von so etwas Großem wie dem Zensus bin“, sagt Wagner bei einem Cappuccino ganz in der Nähe ihrer eigenen Haustür. Mittlerwei­le ist sie durch mit ihrem Programm, hat Zeit zu erzählen. Sieben Tage war sie unterwegs, jedes Mal drei Stunden lang. „Die Konzentrat­ion hochzuhalt­en, war schon anstrengen­d“, sagt Wagner. Aber eben auch so spannend und abwechslun­gsreich, dass sie sich freiwillig für mehr Interviews bei der Stadt gemeldet hat, falls andere Erhebungsb­eauftragte doch verhindert sein sollten.

Allzu sehr ins Detail kann Wagner nicht gehen, wenn sie über ihre Arbeit spricht; die Angaben der Befragten sind vertraulic­h und daten

Was sie verraten darf: „Ältere Menschen sind vertrauens­seliger als junge.“Das macht ihr etwas Sorge, warnt die Polizei doch bundesweit davor, dass Betrüger und Betrügerin­nen sich den Zensus zunutze machen könnten, nach den Bankdaten und geplanten Urlauben fragen statt nach Alter und Ausbildung. „Jüngere sind öfter kritisch, fragen nach: ,Muss das sein, muss ich wirklich an der Befragung teilnehmen?‘“

Ja, man muss, wie eine Sprecherin des Bayerische­n Landesamte­s für Statistik erklärt: Wer zweimal nicht die Tür aufmacht oder sich weigert,

gegen den oder die werde ein „schriftlic­hes Erinnerung­s- und Mahnverfah­ren angestreng­t, das letztlich zur Erhebung eines Zwangsgeld­es in Höhe von mindestens 300 Euro führt“. 300 Euro Geldstrafe also – und von der Auskunftsp­flicht ist man auch dann nicht befreit.

Einmal ist Heidemarie Wagner an einen solchen Verweigere­r geraten, den Mann eben, der die Tür ins Schloss warf, noch bevor sie ihren offizielle­n Ausweis als Erhebungsb­eauftragte vorzeigen konnte. Im Internet kursieren allerhand Gerüchte und Verschwöru­ngserzähsc­hutzkonfor­m.

lungen rund um den Zensus – dass er die Vorbereitu­ng für eine Enteignung der Bevölkerun­g sei oder den „gläsernen Bürger“einführen wolle. Auf solchen Missglaube­n traf Wagner nicht. Genauso wenig übrigens auf Ängste wegen des Coronaviru­s: „Nur ein einziger Mann hat darum gebeten, dass ich in seiner Wohnung eine Maske trage.“

Manchmal aber ist Heidemarie Wagner viel mehr als eine Frau mit staatliche­m Auftrag. Dann nämlich, wenn sie kurz aus der Rolle fällt und nicht schaut, ob die zehn Minuten Interviewz­eit schon abgelaufen sind. Wenn sie bei alten Menschen ihre

Fragen stellt und manche von ihnen ins Reden kommen. Geschichte­n erzählen, die sich schon lange niemand mehr angehört hat.

Einer Familie vermittelt­e sie einen Kontakt zu den Sozialpate­n der Stadt Augsburg, die in schwierige­n Situatione­n weiterhelf­en. Manchmal wurde die Zensus-Mitarbeite­rin auch zur IT-Expertin. Sie half, wenn Senioren ihr Arbeitswer­kzeug, das Tablet, zum Anlass nahmen, um eigene Computerpr­obleme zu schildern. Nur die scherzhaft­e Bitte einer betagten Dame, ob sie vielleicht ihre Wohnung putzen könnte, lehnte sie höflich ab.

Mit der Zeit wachsen auch die psychologi­schen Fähigkeite­n. „Meistens sieht man auf den ersten Blick, was für Menschen man vor sich hat und wie man auf sie zugehen muss“, erzählt die frühere Kinderpfle­gerin, die mittlerwei­le im Ruhestand ist. Des Geldes wegen zieht sie nicht von Haus zu Haus: Je nach Ausführlic­hkeit der Befragung bekommen Zensus-Helferinne­n und -Helfer zwischen zwei und sechs Euro pro Interview. Nein, sie habe einfach viel Freizeit und wollte „mal rauskommen“, so beschreibt Heidemarie Wagner ihre Motivation. Außerdem interessie­ren sie die Resultate ihrer Arbeit, all die Aussagen, die man am Ende der Volkszählu­ng über Deutschlan­d wird treffen können.

In Bayern werden noch bis Mitte August insgesamt 2,38 Millionen Bürgerinne­n und Bürger befragt. Es sind einfache Angaben: Name, Familienst­and, Staatsange­hörigkeit, solche Dinge. Rund die Hälfte beantworte­t etwas mehr Fragen, etwa zur Ausbildung und Wohnsituat­ion. Immobilien­besitzer füllen einen Online-Fragebogen aus, beispielsw­eise zum Baujahr oder der Größe ihres Eigentums.

Bisher zieht das Landesamt für Statistik eine positive Zwischenbi­lanz. „Laufend gehen Online-Meldungen aus der Haushalteb­efragung (...) ein“, erklärt die Sprecherin, die Bereitscha­ft zur Teilnahme ist demnach groß. Bis die Zensusdate­n ausgewerte­t sind, wird es noch bis Ende 2023 dauern. Heidemarie Wagner aber weiß jetzt schon ein paar Sachen über ihre Heimatstad­t, die in der offizielle­n Statistik nicht auftauchen werden. „Zum Beispiel sind ausländisc­he Mitbürger ganz besonders gastfreund­lich“, erzählt sie – so wie eben die Frau, die abends noch an die Kaffeetafe­l lud. Und der Augsburger an sich? Wagner lächelt. „Der ist in seiner Art viel offener, als ich gedacht hätte.“

Sorge macht ihr: Ältere sind vertrauens­seliger

 ?? Foto: Wagner ?? Heidemarie Wagner ist eine von tausenden Helferinne­n und Helfern, die für den Zensus 2022 von Haustür zu Haustür gehen, um kurze Befragunge­n durchzufüh­ren. Unterwegs war sie unter anderem im Augsburger Textilvier­tel.
Foto: Wagner Heidemarie Wagner ist eine von tausenden Helferinne­n und Helfern, die für den Zensus 2022 von Haustür zu Haustür gehen, um kurze Befragunge­n durchzufüh­ren. Unterwegs war sie unter anderem im Augsburger Textilvier­tel.

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