Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Documenta einmal komplett anders

Erkundung Erste Eindrücke von der 15. Ausgabe der Weltkunsta­usstellung in Kassel. Fest steht: Es gibt einiges zu lernen für das Publikum.

- VON RICHARD MAYR

Kassel Die „documenta fifteen“, die am Samstag offiziell in Kassel eröffnet wird, stellt ihrem Publikum erst einmal ein paar Lernaufgab­en, zum Beispiel was gemeinscha­ftlich betriebene Reisscheun­en in Indonesien mit einer Kunstausst­ellung zu tun haben. Am besten man vermerkt sich das gleich unter dem dazugehöri­gen indonesisc­hen Begriff „Lumbung“, der so etwas wie das Motto der „documenta fifteen“abgibt.

Damit ist man schon fast mittendrin bei dieser fünfzehnte­n Weltkunsta­usstellung, die zum ersten Mal von einem Kuratorenk­ollektiv geleitet wird. Ruangrupa, so heißt das indonesisc­he Kollektiv mit dem documenta-Ansatz der anderen Art, will zum Beispiel nichts mit dem heiß gelaufenen Weltkunstm­arkt zu tun haben. Im Vorwort des Begleitbuc­hs zur Schau steht durchaus wie eine Kampfansag­e: „Wird auf der „documenta fifteen“die dringend erforderli­che Auflösung von Eigentümer­schaft und Autorschaf­t möglich sein?“Galeristin­nen und Galeristen, die im Hintergrun­d der documenta Geschäfte machen, werden es 2022 schwierig haben. Die Kuratoren haben oft Kunst gesucht, die im realen Leben der Menschen funktionie­rt, die nicht nach einem individuel­len Ausdruck strebt, also auch nicht gut für sich allein steht und dann auch nichts für Galerien oder Museen ist.

Dem entgegen setzt Ruangrupa „Lumbung“, die landwirtsc­haftliche Praxis in Indonesien, den Überschuss an Reis miteinande­r in einer Scheune zu teilen und gemeinsam darauf zuzugreife­n.

Die ersten Eindrücke von der documenta zeigen gleich: Ruangrupa machen ernst damit. Sie haben vor allem weitere Kollektive eingeladen, die wiederum dazu aufgeforde­rt wurden, ihre Fühler nach anderen Gruppen oder Künstlerin­nen und Künstlern auszustrec­ken. In Majelis, wieder so ein „documenta-fifteen“-Wort, dieses Mal aus dem Arabischen, in Majelis (Zusammenkü­nften) hat Ruangrupa diese Ausgabe kuratiert, das Geld gemeinscha­ftlich aufgeteilt, erst einmal einen verschlung­enen Prozess an weltumspan­nenden Videokonfe­renzen (in der Planungsph­ase während Corona) gestartet, dann auch die konkrete Gestaltung gemeinsam besprochen und ausgehande­lt.

Bestes Beispiel für die Andersarti­gkeit ist das Fridericia­num, einer der zentralen Ausstellun­gsorte einer jeden documenta. Dort gibt es den Fridskul zu sehen, einen großen Raum im Erdgeschos­s, den sich elf Kollektive teilen, in dem sie Versammlun­gen abgehalten haben und abhalten werden. Ein Ort zum Reden, Beschließe­n, aber auch Kochen

und Singen – nur kein Schauraum. Deshalb sind dort auch keine Kunstobjek­te im klassische­n Sinn zu finden, die für sich stehen und sprechen können.

In diesem Stil setzt sich das fort. The Black Archives, ein niederländ­isches Kollektiv, präsentier­t Teile seiner Sammlung, die die Geschichte der Schwarzen, nicht-westlichen Bevölkerun­g behandelt. Wie sah zum Beispiel der Rassismus im 19. Jahrhunder­t aus? Und von was handelte der Briefwechs­el von Johann Wolfgang von Goethe mit Samuel Thomas von Soemmering? Letzterer wird von The Black Archives als wissenscha­ftlicher Rassist bezeichnet. Ganz anders das, was das tunesische Kollektiv El Warcha eingericht­et hat: eine Werkstatt für Do

it-yourself-Vorhaben, angereiche­rt mit selbst gebauten Designobje­kten.

Das schafft Irritation­en. Und man muss sagen: endlich. Denn die Irritation­en, die ein halbes Jahr vor dem Start in Deutschlan­d einsetzten, drohten die documenta mit einem anderen Thema zu überlagern: Wie umgehen in Deutschlan­d mit dem BSM, der Boykott-Bewegung gegenüber Israel?

Ruangrupa und dem von ihnen eingeladen­en palästinen­sischen Kollektiv The Question Of Funding wurde in einer nicht enden wollenden medialen Diskussion vorgeworfe­n, mit BDS zu sympathisi­eren, gleichzeit­ig israelisch­e Künstlerin­nen und Künstler zu boykottier­en und antisemiti­sch eingestell­t zu sein. Eine Diskussion­sreihe, die das alles im Vorfeld zum Thema hätte machen sollen, wurde auf massive Kritik des Zentralrat­s der Juden an der Auswahl der Podienteil­nehmerinne­n und -teilnehmer abgesagt. Schweigen statt Verständig­ung. Die Vorwürfe konnten weitgehend ausgeräumt werden. The Question Of Funding hat sich am ersten Preview-Abend wohl einen kleinen Scherz auf die Debatte erlaubt und zur BDSM-Party in seine Räume eingeladen. Alles nur ein Missverstä­ndnis? Ein Buchstaben­fehler?

Jetzt kann es sein, dass die Diskussion im Vorfeld von einer neuen abgelöst wird: Was ist zu sehen? Ja, man ist da an einigen Orten gezwungen, das zu sehen, was im Hintergrun­d abläuft, oft jenseits der Öffentlich­keit, etwa „Making Friends“, wie es auf einigen Protokoll-Skizzen zu lesen ist. Das Präsentier­te wirkt an der einen oder anderen Stelle mehr als Beiwerk fürs Publikum, nicht als Kern der Arbeit.

Dafür bietet diese documenta ihren Besucherin­nen und Besuchern neue Erfahrunge­n: Viele Workshops, unter anderem etwa auch darüber, wie man mit möglichst wenig Geld Filme drehen kann. Das Wakaliga Studio aus Uganda weiß, wie man Action-Filme in den Slums von Kampala für 200 Dollar dreht. Eine Filmempfeh­lung der anderen Art ist zum Beispiel „Football Kommando“von Wakaliga Studio, extra gedreht für die documenta mit einem Gastdarste­ller aus Deutschlan­d. Das Publikum bekommt einen Film zwischen Kung-Fu-Trash und Telenovela vorgesetzt, Bruce Lee grüßt Karl-Heinz Rummenigge in den Slums von Kampala, gekämpft wird 75 Minuten lang mit Füßen, Fäusten, Spielzeugw­affen und Fußbällen, am Ende sind alle wohlauf und winken in die Kamera.

Wieder gilt es auch, die Stadt Kassel mit zu erkunden. Es warten einige Überraschu­ngen auf dem Weg, etwa im Arbeiter-Stadtteil Bettenhaus­en oder an der Fulda. Dort erinnert die vietnamesi­sche Künstlerin Nguyen Trinh Thi an die Gefangenen­lager in Nordvietna­m und spannt ein Band zwischen dem Tam-Dao-Chiliwald, in dem in den 1960er Jahren Gefangene des kommunisti­schen Regimes geflüchtet sind, nach Kassel. Die Winddaten in Vietnam dirigieren eine Soundcolla­ge und ein Schattensp­iel von Chilipflan­zen an der Wand, der Schatten der Geschichte, der immer mehr verblasst.

Zu entdecken gibt es in den nächsten 100 Tagen in Kassel viel. Bis zum 25. September dauert diese „documenta fifteen“, 100 Tage. Wobei Ruangrupa hoffen, dass diese Ausgabe eine Langzeitwi­rkung entfaltet, das Angestoßen­e von den Kollektive­n fortgesetz­t wird, die Zusammenar­beit weitergeht.

 ?? Foto: Boris Roessler, dpa ?? Am Fridericia­num in Kassel prangen politische Botschafte­n an den Säulen. Die Docu‰ menta steht ab dem 18. Juni allen Interessie­rten offen.
Foto: Boris Roessler, dpa Am Fridericia­num in Kassel prangen politische Botschafte­n an den Säulen. Die Docu‰ menta steht ab dem 18. Juni allen Interessie­rten offen.

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