Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Alles kann, nichts muss

Die deutsche Elf zeigt gegen Italien, dass sie tatsächlic­h das Potenzial für große Erfolge hat. Zweifel an der dauerhafte­n Wettbewerb­sfähigkeit sind allerdings auch erlaubt.

- VON TILMANN MEHL

Mönchengla­dbach Der Blick von außen weitet manchmal den eigenen Horizont. Wer es mit der deutschen Fußball-Nationalma­nnschaft hält, ist sich beispielsw­eise seit einiger Zeit sicher, dass dieses Team für allerhand gut ist – nur leider nicht für erfolgreic­he Turniere. Roberto Mancini hingegen hat die Flick-Elf zu einem der „Top-Kandidaten auf den WM-Titel“erkoren. Und das schon, bevor die deutsche Mannschaft Italien am Dienstag mit 5:2 schlug. Nun mag Mancini als Experte nicht ganz unvoreinge­nommen sein. Der Mann trainiert die italienisc­he Nationalma­nnschaft und lobte dementspre­chend seinen Gegner. Macht man so, weil Niederlage­n gegen einen übermächti­gen Gegner zweifelsfr­ei besser zu verkraften sind als beispielsw­eise gegen den Weltrangsl­isten-Zwölften (der zufälliger­weise Deutschlan­d ist). Nach dem italienisc­hen Systemzusa­mmenbruch am Dienstag schob Mancini nach: „Die deutsche Mannschaft war großartig, auch schon in Bologna, der Unterschie­d zwischen Deutschlan­d und Italien ist riesig, wir hätten auch schon in Bologna mit drei oder vier Toren verlieren können, aber ein 2:5 tut trotzdem verdammt weh.“

In Bologna kam die deutsche Mannschaft zu einem 1:1 – und weil danach gegen England und Ungarn ebenfalls kein Sieg gelang, wuchs in der Öffentlich­keit die Ahnung zu einer Erkenntnis heran, dass auch die WM im kommenden Winter nicht zur deutschen Erfolgsges­chichte werden wird. Dann aber trafen Kimmich, Gündogan und Müller sowie der zuvor als Problemfal­l identifizi­erte Timo Werner gleich zweimal. Überrasche­nderweise wirkte die deutsche Mannschaft dabei gar nicht mal von sich selbst überrascht. Nicht, als würde sie sich in rauschhaft­e Zustände spielen. Sie spulte in beeindruck­ender Manier ihr Programm ab und war so der neu zusammenge­bastelten und schleunigs­t wieder zusammenge­fallenen italienisc­hen Auswahl deutlich überlegen.

Die deutsche Nationalma­nnschaft hat somit erstmals Italien in einem Pflichtspi­el nach 90 Minuten bezwungen – hier zeigt die Nations League zumindest ihre statistisc­he Bedeutung. Für Spieler und Trainer aber hat der fulminante Sieg noch weitergehe­nde Relevanz. „War ein guter Abschluss für uns alle“, so

Flick. Man könne nun „mit einem Supergefüh­l“in den Urlaub gehen. Das unterschei­det die deutsche Mannschaft beispielsw­eise von den zuletzt viel höher eingeschät­zten Teams aus Frankreich oder auch England. Nach einer 0:1-Niederlage gegen Kroatien stehen die Franzosen in ihrer Gruppe am Tabellenen­de und vor dem Abstieg. Trainer Didier Deschamps erachtete die Partie aber keinesfall­s als Übungseinh­eit für seine Ersatzspie­ler: Karim Benzema, Christophe­r Nkunku und Kylian Mbappé bildeten beispielsw­eise das Sturm-Trio. England stand Italien immerhin im EMFinale gegenüber und verlor nun zu Hause gegen Ungarn mit 0:4 – was möglicherw­eise auch zur Relativier­ung des deutschen 1:1 in Budapest führt.

was zweifelsfr­ei auch zeigt, dass die Blinddarms­piele am Ende der Saison nur schwer einzuordne­n sind. Allerdings findet auch die WM zu einem ungewohnte­n Zeitpunkt statt und mit den beiden Spielen gegen Ungarn und England im September gibt es nur noch zwei Spiele vor der Nominierun­g des Kaders für Katar.

Mit überrasche­nder Sicherheit dabei sein wird wohl Jonas Hofmann. Der Gladbacher traf in den beiden vorangegan­genen Länderspie­len und holte gegen Italien den Elfmeter zum 2:0 heraus. Er wird nie so spektakulä­r spielen wie Leroy

Sané oder Serge Gnabry, dafür kennt seine Leistungsa­mplitude kaum Ausschläge nach unten. Sané dagegen zeigte sich zwar gegen Italien gewillt, verloren gegangenen Bällen energisch nachzusetz­en, allerdings war er eben auch meist für deren Verlust verantwort­lich. Hier weitet der Blick auf Sanés übergroßes Potenzial die Erwartunge­n – doch wie langweilig wäre die Welt, wenn immer allen Erwartunge­n entsproche­n würde?

Was nun von der deutschen Mannschaft zu erwarten ist, wissen noch nicht einmal die Spieler selbst. Man verfüge über „alles, um an einem guten Tag jeden schlagen zu können“, meint beispielsw­eise Thomas Müller. „Aber wir haben noch allerhand Defizite, so ehrlich muss man sein“, ist er sich eben auch siUnd

cher. Immerhin ist diese Mannschaft tatsächlic­h wieder fähig, attraktive­n und leidenscha­ftlichen Fußball zu spielen. Das ist mehr, als es derzeit viele andere Teams zu tun in der Lage sind. Manchmal nämlich weitet auch der Blick nach außen den eigenen Horizont.

Deutschlan­d Neuer – Klosterman­n, Süle (87. Tah), Rüdiger, Raum – Kimmich, Gün‰ dogan (88. Stach) – Hofmann (64. Gnabry), Müller (75. Musiala), Sané – Werner (75. L. Nmecha) Italien Donnarumma – Calabria, Mancini (78. Scamacca), Bastoni, Spinazzola (65. Dimarco) – Frattesi (46. Caprar), Cris‰ tante, Barella – Politano (44. Luiz Felipe), Raspadori (46. Scalvini), Gnonto Tore: 1:0 Kimmich (10.), 2:0 Gündogan (45.+4/Foul‰ elfmeter), 3:0 Müller (51.), 4:0 Werner (68.), 5:0 Werner (69.), 5:1 Gnonto (78.), 5:2 Bas‰ toni (90.+4) Zuschauer 44.144 Schieds‰ richter Kovács (Rumänien)

Jonas Hofmann ist die positive Überraschu­ng

 ?? Foto: Federico Gambarini, dpa ?? Thomas Müller feiert seinen Treffer zum 3:0. In den Minuten zuvor schienen die Italiener erstmals in dieser Partie das Kommando übernehmen zu können. Leroy Sané konnte trotz merklicher Willenslei­stung spielerisc­h keine Akzente setzen.
Foto: Federico Gambarini, dpa Thomas Müller feiert seinen Treffer zum 3:0. In den Minuten zuvor schienen die Italiener erstmals in dieser Partie das Kommando übernehmen zu können. Leroy Sané konnte trotz merklicher Willenslei­stung spielerisc­h keine Akzente setzen.

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