Augsburger Allgemeine (Land Nord)
Zug um Zug – aber wohin genau eigentlich?
Krieg Die Reise des Bundeskanzlers in die Ukraine war so kurz wie historisch. Was sie konkret gebracht hat, ist am Freitag gar nicht leicht zu sagen. Über eine wortkarge Vize-Regierungssprecherin, Eilmeldungen und einen sichtlich erleichterten Olaf Scholz
Berlin/Brüssel/Kiew Nach seiner anstrengenden Ukraine-Reise ist Olaf Scholz am Freitagmorgen die Erleichterung deutlich anzusehen. Zurück auf polnischem Boden, in Przemysl und damit in Sicherheit, wechselt der Bundeskanzler einen Händedruck mit dem französischen Staatspräsidenten Emmanuel Macron, mit dem er im Zug unterwegs war. Noch ein Foto in einer Reihe historischer Fotos seit Mittwochabend, als er in Richtung Kiew aufbrach. Gemeinsam mit Macron und dem italienischen Ministerpräsidenten Mario Draghi. Endlich! Oder: Zu spät! – wie seine zahlreichen Kritikerinnen und Kritiker meinten.
Am Bahnsteig also noch ein Händedruck – eher ein Ineinanderschlingen –, ein paar vorerst letzte Worte zu Macron, ein Lächeln. Danach setzt Scholz den Rest der Strecke bis nach Berlin allein fort.
Es ist der wesentlich leichtere Teil einer Unternehmung, die in vielerlei Hinsicht schwierig war: Einen Tag lang hatte der Kanzler im Kriegsgebiet verbracht. Stets begleitet von Soldaten und Sicherheitskräften, die ihre Finger am Abzug ihrer Waffen hatten. Er war durch Butscha gefahren, jenem Ort, der weltweit für die russischen Kriegsgräuel steht. Er hatte sich Irpin zeigen lassen, wo nach dem Rückzug der russischen Truppen ebenfalls Dutzende hingerichtete Zivilisten gefunden worden waren. Er hatte mit eigenen Augen gesehen, welches Leid und welche Zerstörung der russische Präsident Wladimir Putin über die Ukraine bringt. Und er hatte sich, natürlich, mit dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj getroffen. Am Donnerstagnachmittag zeigten sie sich im Park des Marienpalastes in Kiew der Öffentlichkeit. Selenskyjs durchaus überraschendes Lob erfreute Scholz. „Ich bin sehr zufrieden mit unserem Treffen, das sage ich offen“, sagte der Ukrainer.
Ein Aufenthalt im Kriegsgebiet bedeutet immer eine große Unsicherheit. Eine weitere drückt sich in diesen Fragen aus: Wird die Reise so etwas wie ein politischer Gewinn sein? Für die Ukraine und für Scholz selbst? Es sind Fragen, die sich am Freitag nicht eindeutig beantworten lassen. Auch wenn es Journalistinnen und Journalisten in Kommentaren versuchen.
Was man am Freitag mit Gewissheit und auf den ersten Blick sagen kann: Körperlich hat Scholz keine Blessuren davongetragen, zum Glück. Doch politisch? Der SPDPolitiker weiß genau, dass er sich gewaltig anstrengen muss, damit die Ukraine tatsächlich von seinen Bemühungen profitiert. Bilder und Worte sind ja das eine, das andere sind Taten. Und dafür – dafür, zu wenig für die Ukraine getan zu haben und zu tun – wird Scholz seit Wochen scharf angegangen.
Sucht man nach Antworten, nach einer Einschätzung der Kanzlerreise, hört man diesen Satz: „Ich habe den Worten des Kanzlers nichts hinzuzufügen.“
Das ist die Standardformulierung, wenn Regierungssprecher, in diesem Fall Vize-Sprecherin Christiane Hoffmann, am Tag nach einem politischen Großereignis um eine Bewertung gebeten werden. Bezüglich des Ukraine-Besuchs des deutschen Regierungschefs ist das knappe Statement allerdings mal keine Ausflucht, sondern eine nüchterne Wiedergabe des Istzustands.
Die Worte, die Scholz in der Hauptstadt der Ukraine sprach: „Meine Damen und Herren, meine Kollegen und ich sind heute hier nach Kiew gekommen mit einer klaren Botschaft: Die Ukraine gehört zur europäischen Familie.“Und er ergänzte: „Ein Meilenstein auf ihvoraussetzungsreichen europäischen Weg ist der Status eines Beitrittskandidaten.“
Im Getöse der Eilmeldungen, die dieser Satz auslöste und die auf den Kandidatenstatus der Ukraine abzielten, ging das wirklich wichtige Wort jedoch völlig unter: „voraussetzungsreich“.
Scholz war als Hoffnungsträger in das vom russischen Angriffskrieg erschütterte Land gekommen – mit seinem Satz unterstrich er gleichwohl die Hoffnungslosigkeit des Unterfangens. „Der Olaf weiß natürlich genau, dass das so leicht nicht wird mit dem Beitritt. Vielleicht wird es nie etwas“, sagt denn auch einer aus der Regierungstruppe. Mit Namen will er nicht genannt werden, die Reaktionen auf den möglichen Start des Beitrittsprozesses für die Ukraine sind ohnehin überschaubar.
Alle im politischen Berlin wissen: Wer bei diesem Thema jetzt auf Optimismus macht, schwindelt offensichtlich. Das verdeutlicht allein der Blick auf die Lage anderer möglicher EU-Mitglieder. Da ist zum Beispiel Albanien, das sich seit fast Jahren um Zutritt zum Staatenklub bemüht. Exkanzlerin Angela Merkel hatte sich wiederholt für eine EU-Beitrittsperspektive ausgesprochen, stieß aber immer wieder auf Widerstand, etwa bei Macron. Ihr Nachfolger Scholz wird es ähnlich schwer haben, sein Versprechen an den ukrainischen Präsidenten Selenskyj umzusetzen. Seine gute Laune, festgehalten auf Fotos vom Bahnhof der polnischen Grenzstadt Przemysl, dürfte schnell den Mühen des politischen Alltags weichen. Wenige Tage vor dem nächsten EUGipfel sieht sich Scholz mit Bedenken von Seiten Portugals und Österreichs konfrontiert.
Dem Beitrittskandidatenstatus müssen alle 27 EU-Mitgliedstaaten zustimmen. Selbst wenn das passiert, wovon vor dem Hintergrund des Krieges in der Ukraine schlussendlich auszugehen ist, ist das nur ein winziger Schritt auf dem langen Weg zur Vollmitgliedschaft.
Beitrittskandidat Albanien etwa musste unter anderem erst eine Wahlrechtsreform beschließen, die Gerichtsbarkeit reformieren, Strukturen zur Bekämpfung von Korruprem tion, Organisierter Kriminalität und Geldwäsche schaffen, Asylmissbrauch bekämpfen und sein Mediengesetz ändern – damit überhaupt die Bedingungen für Beitrittsverhandlungen mit der EU erfüllt waren. Der endgültige Beitritt wird weitere Jahre dauern, dabei ist das Land Nato-Mitglied, hatte schon mal den OSZE-Vorsitz inne und gehört dieses sowie nächstes Jahr als nichtständiges Mitglied dem UNSicherheitsrat an.
Der Freitag bringt aber nicht bloß politische Spekulationen mit sich, auch er hat eine Eilmeldung zu bieten. Die Deutsche Presse-Agentur verbreitet sie um 11.57 Uhr: „EUKommission empfiehlt Beitrittskandidatenstatus für Ukraine“. Es ist eine weitere frohe Botschaft für die Ukraine und ihren Präsidenten. Um dies zu unterstreichen, erscheint Ursula von der Leyen, die deutsche EU-Kommissionspräsidentin, am Mittag in Brüssel in blauer Bluse und knallgelbem Blazer, den ukrainischen Farben. „Ja, die Ukraine verdient eine europäische Perspektive“, sagt sie. „Ja, die Ukraine sollte als Kandidatenland begrüßt wer20 den.“Auch das sind Worte, auf die Ukrainerinnen und Ukrainer lange hofften und warteten.
Ursula von der Leyen wäre dabei nicht Ursula von der Leyen, wenn sie ihre Rede nicht mit einigem Pathos unterfüttert hätte. Und so sagt sie: Für diese Perspektive seien Ukrainer bereit zu sterben. „Wir wollen, dass sie mit uns den europäischen Traum leben.“
Ganz formell empfiehlt die Kommission, die Ukraine und Moldau offiziell zu Kandidaten für den Beitritt zur EU zu ernennen. Gleichwohl knüpft die Behördenchefin konkrete Bedingungen an den Fortschritt des Beitrittsprozesses. Es seien „weitere wichtige Reformen“notwendig. In beiden Ländern gebe es Defizite im Bereich der Rechtsstaatlichkeit und im Kampf gegen Korruption. Wer sie so reden hört, muss an Albanien denken. Oder an die Türkei, die seit 1999 den Status eines Bewerberlandes hat.
Dann sagt von der Leyen, dass es die Ukraine in der Hand habe. „Und was könnte besser sein, als die eigene Zukunft zu gestalten?“
Was Wolodymyr Selenskyj wohl von diesen Sätzen hält? Ob er die Zukunft seines Landes gestalten kann, liegt maßgeblich in der Hand Putins, der die Ukraine in Schutt und Asche bomben lässt.
Dennoch: Monatelang hatte Selenskyj massiven Druck auf Brüssel ausgeübt, nun twittert er über die Entscheidung: Sie sei „der erste Schritt auf dem Weg zur Mitgliedschaft in der EU, der uns bestimmt unserem Sieg näherbringt“. Dem folgt ein Appell: „Ich zähle auf positive Ergebnisse des EU-Gipfels nächste Woche.“Auf dem beraten die 27 Staats- und Regierungschefs auch über dieses Thema.
Die Bundesregierung werde jetzt „alles tun, damit eine einstimmige Entscheidung zustande kommt“, sagt Vizesprecherin Christiane Hoffmann. Kanzler Scholz dürfte bereits den Kontakt mit anderen Staats- und Regierungschefs suchen, um das hinzubekommen. Wie seine Vorgängerin Merkel wird er versuchen, Deals zu besiegeln. Zustimmung lässt sich in der EU mit Geld und Versprechungen erkaufen. Aber auch mit Wechseln auf die Zukunft, die den eigenen Spielraum einschränken.
So schön es allerdings klingen mag, dass sich Deutschland, Frankreich oder Italien für die Ukraine als Beitrittskandidat aussprechen – in Brüssel nimmt man das eher als politisches Zeichen der Solidarität wahr. Zu viele Abers knüpfen sich an die hehren Worte, und nicht vergessen ist überdies, dass Frankreich zuletzt vorschlug, eine „europäische politische Gemeinschaft“für beitrittswillige Länder zu schaffen – um Staaten in einen breiteren und lockeren Nachbarschaftsrahmen aufzunehmen, ohne ihnen eine Vollmitgliedschaft zu gewähren.
Schließlich gibt es Stimmen wie die von Jens Geier, Vorsitzender der
Scholz weiß, dass er sich gewaltig anstrengen muss Handelt es sich letztlich nur um Symbolpolitik?
SPD-Europaabgeordneten. Der begrüßt es zwar, der Ukraine „einen Weg in die Union aufzuzeigen“. Es könne aber „keine Bevorzugung geben“, was bedeute, „dass die Beitrittskriterien uneingeschränkt gelten“. Handelt es sich also lediglich um Symbolpolitik, die hier betrieben wird? Auch auf diese Frage wird Bundeskanzler Olaf Scholz eine ausführlichere Antwort geben müssen.
Wie, unverändert, auf die nach den Waffenlieferungen an die Ukraine. Der CDU-Außenexperte Norbert Röttgen konfrontiert ihn unmittelbar nach seiner Reise damit. Angesichts eines russischen „Zerstörungskrieges“sei die deutsche Unterstützung unzureichend, sagt er im ZDF. Die Ukraine brauche zum Überleben Waffen. „Und die werden von Deutschland verweigert. Das ist die Politik der Bundesregierung.“
Bekanntlich geht vielen Politikerinnen und Politikern in der Ampelkoalition, vor allem bei Grünen und FDP, das Tempo bei den Waffenlieferungen ebenfalls nicht schnell genug. US-Präsident Joe Biden wird beim G7-Gipfel nächste Woche auf Schloss Elmau im Landkreis Garmisch-Partenkirchen Druck bei diesem Thema machen. Die Vereinigten Staaten dringen bei den NatoVerbündeten darauf, die Ukraine in ihrem Kampf gegen den russischen Angreifer stärker zu unterstützen.
Es ist eine reichlich komplizierte Lage, alles in allem. Und wenn man sich wenigstens an eine erste Antwort wagt zur Einschätzung seiner Ukraine-Reise, dann kann man wohl sagen: Olaf Scholz hat sie mit Anstand hinter sich gebracht. Sowie: Er hat Hunderte von Kilometern zurückgelegt, konnte sich der Lösung der Probleme jedoch nicht wirklich annähern.
Nach Berlin dürfte der Bundeskanzler mit der Gewissheit zurückgekommen sein, dass der eigentliche Weg noch vor ihm liegt. Und dass der Weg zum Ende des Krieges lang sein wird.