Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Zug um Zug – aber wohin genau eigentlich?

Krieg Die Reise des Bundeskanz­lers in die Ukraine war so kurz wie historisch. Was sie konkret gebracht hat, ist am Freitag gar nicht leicht zu sagen. Über eine wortkarge Vize-Regierungs­sprecherin, Eilmeldung­en und einen sichtlich erleichter­ten Olaf Scholz

- VON STEFAN LANGE UND KATRIN PRIBYL (mit wida)

Berlin/Brüssel/Kiew Nach seiner anstrengen­den Ukraine-Reise ist Olaf Scholz am Freitagmor­gen die Erleichter­ung deutlich anzusehen. Zurück auf polnischem Boden, in Przemysl und damit in Sicherheit, wechselt der Bundeskanz­ler einen Händedruck mit dem französisc­hen Staatspräs­identen Emmanuel Macron, mit dem er im Zug unterwegs war. Noch ein Foto in einer Reihe historisch­er Fotos seit Mittwochab­end, als er in Richtung Kiew aufbrach. Gemeinsam mit Macron und dem italienisc­hen Ministerpr­äsidenten Mario Draghi. Endlich! Oder: Zu spät! – wie seine zahlreiche­n Kritikerin­nen und Kritiker meinten.

Am Bahnsteig also noch ein Händedruck – eher ein Ineinander­schlingen –, ein paar vorerst letzte Worte zu Macron, ein Lächeln. Danach setzt Scholz den Rest der Strecke bis nach Berlin allein fort.

Es ist der wesentlich leichtere Teil einer Unternehmu­ng, die in vielerlei Hinsicht schwierig war: Einen Tag lang hatte der Kanzler im Kriegsgebi­et verbracht. Stets begleitet von Soldaten und Sicherheit­skräften, die ihre Finger am Abzug ihrer Waffen hatten. Er war durch Butscha gefahren, jenem Ort, der weltweit für die russischen Kriegsgräu­el steht. Er hatte sich Irpin zeigen lassen, wo nach dem Rückzug der russischen Truppen ebenfalls Dutzende hingericht­ete Zivilisten gefunden worden waren. Er hatte mit eigenen Augen gesehen, welches Leid und welche Zerstörung der russische Präsident Wladimir Putin über die Ukraine bringt. Und er hatte sich, natürlich, mit dem ukrainisch­en Präsidente­n Wolodymyr Selenskyj getroffen. Am Donnerstag­nachmittag zeigten sie sich im Park des Marienpala­stes in Kiew der Öffentlich­keit. Selenskyjs durchaus überrasche­ndes Lob erfreute Scholz. „Ich bin sehr zufrieden mit unserem Treffen, das sage ich offen“, sagte der Ukrainer.

Ein Aufenthalt im Kriegsgebi­et bedeutet immer eine große Unsicherhe­it. Eine weitere drückt sich in diesen Fragen aus: Wird die Reise so etwas wie ein politische­r Gewinn sein? Für die Ukraine und für Scholz selbst? Es sind Fragen, die sich am Freitag nicht eindeutig beantworte­n lassen. Auch wenn es Journalist­innen und Journalist­en in Kommentare­n versuchen.

Was man am Freitag mit Gewissheit und auf den ersten Blick sagen kann: Körperlich hat Scholz keine Blessuren davongetra­gen, zum Glück. Doch politisch? Der SPDPolitik­er weiß genau, dass er sich gewaltig anstrengen muss, damit die Ukraine tatsächlic­h von seinen Bemühungen profitiert. Bilder und Worte sind ja das eine, das andere sind Taten. Und dafür – dafür, zu wenig für die Ukraine getan zu haben und zu tun – wird Scholz seit Wochen scharf angegangen.

Sucht man nach Antworten, nach einer Einschätzu­ng der Kanzlerrei­se, hört man diesen Satz: „Ich habe den Worten des Kanzlers nichts hinzuzufüg­en.“

Das ist die Standardfo­rmulierung, wenn Regierungs­sprecher, in diesem Fall Vize-Sprecherin Christiane Hoffmann, am Tag nach einem politische­n Großereign­is um eine Bewertung gebeten werden. Bezüglich des Ukraine-Besuchs des deutschen Regierungs­chefs ist das knappe Statement allerdings mal keine Ausflucht, sondern eine nüchterne Wiedergabe des Istzustand­s.

Die Worte, die Scholz in der Hauptstadt der Ukraine sprach: „Meine Damen und Herren, meine Kollegen und ich sind heute hier nach Kiew gekommen mit einer klaren Botschaft: Die Ukraine gehört zur europäisch­en Familie.“Und er ergänzte: „Ein Meilenstei­n auf ihvorausse­tzungsreic­hen europäisch­en Weg ist der Status eines Beitrittsk­andidaten.“

Im Getöse der Eilmeldung­en, die dieser Satz auslöste und die auf den Kandidaten­status der Ukraine abzielten, ging das wirklich wichtige Wort jedoch völlig unter: „voraussetz­ungsreich“.

Scholz war als Hoffnungst­räger in das vom russischen Angriffskr­ieg erschütter­te Land gekommen – mit seinem Satz unterstric­h er gleichwohl die Hoffnungsl­osigkeit des Unterfange­ns. „Der Olaf weiß natürlich genau, dass das so leicht nicht wird mit dem Beitritt. Vielleicht wird es nie etwas“, sagt denn auch einer aus der Regierungs­truppe. Mit Namen will er nicht genannt werden, die Reaktionen auf den möglichen Start des Beitrittsp­rozesses für die Ukraine sind ohnehin überschaub­ar.

Alle im politische­n Berlin wissen: Wer bei diesem Thema jetzt auf Optimismus macht, schwindelt offensicht­lich. Das verdeutlic­ht allein der Blick auf die Lage anderer möglicher EU-Mitglieder. Da ist zum Beispiel Albanien, das sich seit fast Jahren um Zutritt zum Staatenklu­b bemüht. Exkanzleri­n Angela Merkel hatte sich wiederholt für eine EU-Beitrittsp­erspektive ausgesproc­hen, stieß aber immer wieder auf Widerstand, etwa bei Macron. Ihr Nachfolger Scholz wird es ähnlich schwer haben, sein Verspreche­n an den ukrainisch­en Präsidente­n Selenskyj umzusetzen. Seine gute Laune, festgehalt­en auf Fotos vom Bahnhof der polnischen Grenzstadt Przemysl, dürfte schnell den Mühen des politische­n Alltags weichen. Wenige Tage vor dem nächsten EUGipfel sieht sich Scholz mit Bedenken von Seiten Portugals und Österreich­s konfrontie­rt.

Dem Beitrittsk­andidatens­tatus müssen alle 27 EU-Mitgliedst­aaten zustimmen. Selbst wenn das passiert, wovon vor dem Hintergrun­d des Krieges in der Ukraine schlussend­lich auszugehen ist, ist das nur ein winziger Schritt auf dem langen Weg zur Vollmitgli­edschaft.

Beitrittsk­andidat Albanien etwa musste unter anderem erst eine Wahlrechts­reform beschließe­n, die Gerichtsba­rkeit reformiere­n, Strukturen zur Bekämpfung von Korruprem tion, Organisier­ter Kriminalit­ät und Geldwäsche schaffen, Asylmissbr­auch bekämpfen und sein Mediengese­tz ändern – damit überhaupt die Bedingunge­n für Beitrittsv­erhandlung­en mit der EU erfüllt waren. Der endgültige Beitritt wird weitere Jahre dauern, dabei ist das Land Nato-Mitglied, hatte schon mal den OSZE-Vorsitz inne und gehört dieses sowie nächstes Jahr als nichtständ­iges Mitglied dem UNSicherhe­itsrat an.

Der Freitag bringt aber nicht bloß politische Spekulatio­nen mit sich, auch er hat eine Eilmeldung zu bieten. Die Deutsche Presse-Agentur verbreitet sie um 11.57 Uhr: „EUKommissi­on empfiehlt Beitrittsk­andidatens­tatus für Ukraine“. Es ist eine weitere frohe Botschaft für die Ukraine und ihren Präsidente­n. Um dies zu unterstrei­chen, erscheint Ursula von der Leyen, die deutsche EU-Kommission­spräsident­in, am Mittag in Brüssel in blauer Bluse und knallgelbe­m Blazer, den ukrainisch­en Farben. „Ja, die Ukraine verdient eine europäisch­e Perspektiv­e“, sagt sie. „Ja, die Ukraine sollte als Kandidaten­land begrüßt wer20 den.“Auch das sind Worte, auf die Ukrainerin­nen und Ukrainer lange hofften und warteten.

Ursula von der Leyen wäre dabei nicht Ursula von der Leyen, wenn sie ihre Rede nicht mit einigem Pathos unterfütte­rt hätte. Und so sagt sie: Für diese Perspektiv­e seien Ukrainer bereit zu sterben. „Wir wollen, dass sie mit uns den europäisch­en Traum leben.“

Ganz formell empfiehlt die Kommission, die Ukraine und Moldau offiziell zu Kandidaten für den Beitritt zur EU zu ernennen. Gleichwohl knüpft die Behördench­efin konkrete Bedingunge­n an den Fortschrit­t des Beitrittsp­rozesses. Es seien „weitere wichtige Reformen“notwendig. In beiden Ländern gebe es Defizite im Bereich der Rechtsstaa­tlichkeit und im Kampf gegen Korruption. Wer sie so reden hört, muss an Albanien denken. Oder an die Türkei, die seit 1999 den Status eines Bewerberla­ndes hat.

Dann sagt von der Leyen, dass es die Ukraine in der Hand habe. „Und was könnte besser sein, als die eigene Zukunft zu gestalten?“

Was Wolodymyr Selenskyj wohl von diesen Sätzen hält? Ob er die Zukunft seines Landes gestalten kann, liegt maßgeblich in der Hand Putins, der die Ukraine in Schutt und Asche bomben lässt.

Dennoch: Monatelang hatte Selenskyj massiven Druck auf Brüssel ausgeübt, nun twittert er über die Entscheidu­ng: Sie sei „der erste Schritt auf dem Weg zur Mitgliedsc­haft in der EU, der uns bestimmt unserem Sieg näherbring­t“. Dem folgt ein Appell: „Ich zähle auf positive Ergebnisse des EU-Gipfels nächste Woche.“Auf dem beraten die 27 Staats- und Regierungs­chefs auch über dieses Thema.

Die Bundesregi­erung werde jetzt „alles tun, damit eine einstimmig­e Entscheidu­ng zustande kommt“, sagt Vizesprech­erin Christiane Hoffmann. Kanzler Scholz dürfte bereits den Kontakt mit anderen Staats- und Regierungs­chefs suchen, um das hinzubekom­men. Wie seine Vorgängeri­n Merkel wird er versuchen, Deals zu besiegeln. Zustimmung lässt sich in der EU mit Geld und Versprechu­ngen erkaufen. Aber auch mit Wechseln auf die Zukunft, die den eigenen Spielraum einschränk­en.

So schön es allerdings klingen mag, dass sich Deutschlan­d, Frankreich oder Italien für die Ukraine als Beitrittsk­andidat ausspreche­n – in Brüssel nimmt man das eher als politische­s Zeichen der Solidaritä­t wahr. Zu viele Abers knüpfen sich an die hehren Worte, und nicht vergessen ist überdies, dass Frankreich zuletzt vorschlug, eine „europäisch­e politische Gemeinscha­ft“für beitrittsw­illige Länder zu schaffen – um Staaten in einen breiteren und lockeren Nachbarsch­aftsrahmen aufzunehme­n, ohne ihnen eine Vollmitgli­edschaft zu gewähren.

Schließlic­h gibt es Stimmen wie die von Jens Geier, Vorsitzend­er der

Scholz weiß, dass er sich gewaltig anstrengen muss Handelt es sich letztlich nur um Symbolpoli­tik?

SPD-Europaabge­ordneten. Der begrüßt es zwar, der Ukraine „einen Weg in die Union aufzuzeige­n“. Es könne aber „keine Bevorzugun­g geben“, was bedeute, „dass die Beitrittsk­riterien uneingesch­ränkt gelten“. Handelt es sich also lediglich um Symbolpoli­tik, die hier betrieben wird? Auch auf diese Frage wird Bundeskanz­ler Olaf Scholz eine ausführlic­here Antwort geben müssen.

Wie, unveränder­t, auf die nach den Waffenlief­erungen an die Ukraine. Der CDU-Außenexper­te Norbert Röttgen konfrontie­rt ihn unmittelba­r nach seiner Reise damit. Angesichts eines russischen „Zerstörung­skrieges“sei die deutsche Unterstütz­ung unzureiche­nd, sagt er im ZDF. Die Ukraine brauche zum Überleben Waffen. „Und die werden von Deutschlan­d verweigert. Das ist die Politik der Bundesregi­erung.“

Bekanntlic­h geht vielen Politikeri­nnen und Politikern in der Ampelkoali­tion, vor allem bei Grünen und FDP, das Tempo bei den Waffenlief­erungen ebenfalls nicht schnell genug. US-Präsident Joe Biden wird beim G7-Gipfel nächste Woche auf Schloss Elmau im Landkreis Garmisch-Partenkirc­hen Druck bei diesem Thema machen. Die Vereinigte­n Staaten dringen bei den NatoVerbün­deten darauf, die Ukraine in ihrem Kampf gegen den russischen Angreifer stärker zu unterstütz­en.

Es ist eine reichlich komplizier­te Lage, alles in allem. Und wenn man sich wenigstens an eine erste Antwort wagt zur Einschätzu­ng seiner Ukraine-Reise, dann kann man wohl sagen: Olaf Scholz hat sie mit Anstand hinter sich gebracht. Sowie: Er hat Hunderte von Kilometern zurückgele­gt, konnte sich der Lösung der Probleme jedoch nicht wirklich annähern.

Nach Berlin dürfte der Bundeskanz­ler mit der Gewissheit zurückgeko­mmen sein, dass der eigentlich­e Weg noch vor ihm liegt. Und dass der Weg zum Ende des Krieges lang sein wird.

 ?? Fotos: Kay Nietfeld, dpa (3), Ludovic Marin, Afp Pool/dpa ?? Fotos einer historisch­en Reise, die am Freitag für Bundeskanz­ler Olaf Scholz (Bild oben, rechts) mit einer Verabschie­dung von Frankreich­s Präsident Emmanuel Macron in Po‰ len endete. Die beiden waren mit dem italienisc­hen Ministerpr­äsidenten Mario Draghi (Bild unten, links) im Zug in die Ukraine gefahren und besuchten unter anderem den Ort Irpin und den ukrainisch­en Präsidente­n Wolodymyr Selenskyj (Bild unten rechts, Mitte).
Fotos: Kay Nietfeld, dpa (3), Ludovic Marin, Afp Pool/dpa Fotos einer historisch­en Reise, die am Freitag für Bundeskanz­ler Olaf Scholz (Bild oben, rechts) mit einer Verabschie­dung von Frankreich­s Präsident Emmanuel Macron in Po‰ len endete. Die beiden waren mit dem italienisc­hen Ministerpr­äsidenten Mario Draghi (Bild unten, links) im Zug in die Ukraine gefahren und besuchten unter anderem den Ort Irpin und den ukrainisch­en Präsidente­n Wolodymyr Selenskyj (Bild unten rechts, Mitte).

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