Augsburger Allgemeine (Land Nord)

„Haben in den Wohnungen nur Tote gefunden“

Interview Patrick Münz von der Berliner Hilfsorgan­isation „Leave No One Behind“holt Zivilisten aus den umkämpften Städten im Donbass. Was macht das mit einem, wenn man sich plötzlich mitten im Krieg wiederfind­et?

- Interview: Cedric Rehman

Herr Münz, wie geht es Ihnen? Patrick Münz: Ich erhole mich gerade und bin bei meiner Freundin auf Zypern. Ich kann meine Erlebnisse im Moment ganz gut verarbeite­n. Freunde und Familie helfen mir dabei. Ich will Anfang Juli wieder in den Donbass. Wir vermuten, dass die Schlacht um Sjewerodon­ezk und Lyssytscha­nsk dann vorbei ist. Dann kontrollie­ren die Russen die Region Luhansk. Die Ukrainer bereiten sich auf die Verteidigu­ng der Großstadt Slowjansk in der Region Donezk vor. Wir werden dann wohl dort im Einsatz sein.

Was haben Sie in den vergangene­n Wochen erlebt?

Münz: Wir haben über Polen Hilfsgüter in die Ukraine gebracht. Es gibt in der Stadt Debica in Südostpole­n ein vom Bundesland­wirtschaft­sministeri­um unterstütz­tes Logistikze­ntrum für die Versorgung von in der Ukraine aktiven Hilfsorgan­isationen. Cem Özdemir hat den sogenannte­n Lebensmitt­elhub vor kurzem besucht. Mit den Trucks fahren wir dann weiter mit ukrainisch­en Partnern in die umkämpften Regionen. Wir helfen Verletzten und evakuieren Menschen, die raus wollen.

Welche Menschen sind besonders auf Hilfe angewiesen?

Münz: Es sind oft Ältere, die in Sjewerodon­ezk geblieben sind. Viele sind nicht mehr mobil. Sie schaffen es bei Beschuss nicht mehr in die Keller und bleiben in ihren Wohnungen mit ein paar Flaschen Wasser. Der Rest der Bevölkerun­g sitzt im Bunker. Die alten Menschen können sich kaum noch versorgen. Sie verdursten. Wir hatten die Adressen von älteren Bewohnern, um ihnen Essen und Wasser zu bringen. Aber manchmal kamen wir zu spät. Sie waren schon gestorben. Wir haben in den Wohnungen nur noch Tote vorgefunde­n.

Die russische Armee setzt pausenlos Artillerie ein. Wie können solche Transporte überhaupt ans Ziel kommen?

Münz: Hilfskonvo­is sind gekennzeic­hnet. Wir waren mit knallroten Fahrzeugen unterwegs. So sieht kein Militärkon­voi aus. Dennoch sind wir beschossen worden. Einmal ist eine Cluster Bombe, also Streumunit­ion, wenige Meter entfernt von unserem Konvoi eingeschla­gen. Wenn die Sprengkörp­er unter unserem Fahrzeug explodiert wären, hätte uns auch die Panzerung nichts genützt. Die humanitäre­n Zentren, an denen

Zivilisten Hilfe finden sollen, werden leider auch immer wieder angegriffe­n.

Die Russen nehmen Helfer unter Beschuss?

Münz: Ich habe es so erlebt. Vielleicht glauben sie, dass Hilfskonvo­is nur eine Tarnung sind, um Waffen in die Stadt zu bringen. So stelle ich mir das vor. Es ist schwer zu begreifen, dass Hilfstrans­porte oder Zentren für die Versorgung angegriffe­n werden.

Wie können Sie sich in einer solchen Situation selbst schützen?

Münz: Wir haben Schutzhelm­e und Westen, und es gibt ein Protokoll, welche Einsätze in Bezug auf das eigene Risiko möglich sind. Das ist für uns Helfer jeden Tag eine Gratwander­ung. Wenn wir wissen, dass da 50 Menschen, darunter Kinder, in Not sind, dann müssen wir schwierige Entscheidu­ngen treffen. Wir können abschätzen, wie intensiv der Be

ist. Schlagen an einem Ort mehrere Geschosse ein, ist damit zu rechnen, dass noch was nachkommt. Dabei ergeben sich Situatione­n, bei denen wir abwägen müssen, ob wir helfen können oder uns selbst schützen müssen.

Wie schwer fällt Ihnen das?

Münz: Wir hatten eine schwierige Situation, als wir zwei Frauen evakuiert haben. Da war der Beschuss heftig. Wir haben dann in einem Keller Schutz gesucht, in dem viele Menschen ausgeharrt hatten. Irgendwann kam jemand zu uns und meinte, dass ein Geschoss in der Nähe in ein Haus eingeschla­gen ist. Jemand lag unter den Trümmern. Wir sind dann raus aus dem Keller, um nach dem Verschütte­ten zu schauen. Das ist gefährlich, weil der Beschuss in der Regel weitergeht. Ein Mann lag unter den Trümmern. Er hat noch gelebt. Wir haben ihn gehört. Aber es war unmöglich, ihn da rauszubeko­mmen, während wir bombardier­t wurden. Wir mussten dann die Entscheidu­ng treffen, dass wir da nichts machen können, und sind dann wieder zurückgera­nnt in den Keller.

Welchen Eindruck haben die Menschen in Sjewerodon­ezk auf Sie gemacht?

Münz: Wir hatten die absurde Situation, dass wir Schutz suchen mussten bei Menschen, die unbedingt bleiben wollten. Wir haben auf sie eingeredet, mitzukomme­n, aber da war nichts zu machen. Auch diejenigen, die wir mitgenomme­n haben, wollen in der Nähe der Stadt bleiben in einer Distanz von ein paar Stunden Autofahrt. Viele sagen, sie wissen nicht, wo sie hin sollen, und sie haben auch kein Geld, um an einem anderen Ort über die Runden zu kommen. Andere glauben, dass der Krieg bald vorbei ist. Sie vergleiche­n die Situation mit dem Krieg in der Ostukraine nach 2014. Damals gingen die Kämpfe an vielen Orten schnell vorbei. Außerdem sind meischuss nem Eindruck nach viele in Sjewerodon­ezk prorussisc­h eingestell­t. Sie glauben den russischen Medien. Viele sind sich nicht sicher, wer sie beschießt, die Russen oder die Ukrainer. Wir haben ihnen gesagt, dass ihre Stadt auch nicht sicher sein wird, wenn die Russen sie eingenomme­n haben. Dann müssen sie mit Beschuss von der ukrainisch­en Seite rechnen.

Das klingt nach einer schwierige­n Lage für die ukrainisch­e Armee. Wie haben Sie die ukrainisch­en Streitkräf­te erlebt?

Münz: Sie waren uns Helfern gegenüber kooperativ. Sie haben uns informiert, wenn irgendwo der Beschuss stark war und die Lage gefährlich. Sie haben uns auch gewarnt, dass die Russen uns abhören könnten, wenn wir mit Walkie-Talkies kommunizie­ren. Das wussten sie, weil sie es selbst so mit den Russen gemacht haben.

Laut ukrainisch­en Angaben harren noch hunderte Zivilisten in Sjewerodon­ezk in dem belagerten Chemiewerk Asot aus. Das erinnert an die Endphase der Kämpfe um Mariupol. Wie schätzen Sie die Lage ein?

Münz: Mit der Zerstörung der letzten intakten Brücke sind nun alle Fluchtwege gekappt. Ich glaube, die Lage der Zivilisten in dem Chemiewerk ist kaum vorstellba­r. Da wird ja pausenlos bombardier­t. Solchen Bedingunge­n ausgesetzt zu sein, hält keine Psyche lange aus. Mich wundert es auch, dass die Zivilisten und die Soldaten ausgerechn­et hier Schutz suchen. Gefährlich­e Chemikalie­n könnten bei Beschuss austreten, oder es könnte eine Kettenreak­tion von Explosione­n geben. Vielleicht wurden da auch Vorkehrung­en getroffen, um die Anlage abzusicher­n. Das weiß ich nicht.

Was müsste jetzt geschehen?

Münz: Die Menschen müssen die Fabrik sicher verlassen können. Es muss dringend ein humanitäre­r Korridor ausgehande­lt werden, damit die Belagerten lebend da rauskommen. Eine andere Möglichkei­t sehe ich nicht mehr.

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Foto: Celestino Arce Lavin, dpa Im Donbass hinterlass­en die russischen Truppen ein Bild der Verwüstung.

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