Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Ein Stehaufmän­nchen feiert seinen 80. Geburtstag Genie

Mit „Yesterday“, „Let It Be“und „Hey Jude“schrieb er Musikgesch­ichte. Eine Hommage an den unermüdlic­hen Ex-Beatle Paul McCartney.

- VON REINHARD KÖCHL

London Hier geht es nicht um die Beatles. Doch, vielleicht ein bisschen. Aber in erster Linie soll er im Mittelpunk­t stehen: ein Stehaufmän­nchen, seit über 60 Jahren. Ein Unkaputtba­rer in einer Welt, in der Erfolg und Misserfolg nicht mehr von Platten, sondern Klicks oder Followern abhängig sind. Ein Alleskönne­r, der zwar offiziell den Bass bedient, aber schon eine Reihe von Alben völlig im Alleingang eingespiel­t hat. Natürlich ein Dinosaurie­r, mitnichten zeitlos, sondern bewusst retro, immer mit einem offenen Fenster in Richtung Vergangenh­eit, in der nicht alles, aber möglicherw­eise wenigstens die Musik besser war. Das Phänomen ist nicht neu, wir kennen es von den Rolling Stones, Carlos Santana, Eric Clapton, Elton John … In die Jahre gekommene Stars, die auch 2022 noch Massen anziehen und für Konzerte Höchstprei­se aufrufen können. Was machen sie anders als die Jungen?

Am Beispiel von Sir James Paul McCartney, der heute vor 80 Jahren in Liverpool als Sohn des Kaufmanns James McCartney und der Krankensch­wester Mary Patricia McCartney zur Welt kam, lässt sich das Mysterium vielleicht entschlüss­eln. Ihn gibt es gefühlt schon genauso lange wie die Chinesisch­e

Mauer, das Taj Mahal, den Mount Everest. Den Mann heute noch auf der Bühne zu erleben, fühlt sich irgendwie seltsam an. Ein Wesen aus einer anderen Zeit. Als hätte er ein unglaublic­hes Abenteuer überstande­n. Reise zum Mittelpunk­t der Erde, 20.000 Meilen unter dem Meer, von der Erde zum Mond.

Ein Leben ohne die Songs des charmanten Genies, das man auf eine Stufe mit Mozart, Beethoven, Bach stellen kann – undenkbar! Seit Generation­en findet jeder garantiert wenigstens eine McCartney-Kompositio­n in seiner musikalisc­hen DNA. „Yesterday“zum Beispiel, „Let It Be“, „Ob-La-Di, Ob-LaDa“, die Kracher seiner 1970erBand Wings „Live And Let Die“, „Jet“und „Band On The Run“, die 1980er-Hits „Say Say Say“oder „Ebony And Ivory“sowie „Hope Of Deliveranc­e“aus den 1990ern.

Das Publikum liebt nun mal Konvention­en, es braucht Helden, die es ein Leben lang begleiten, auch wenn sie am Schluss als Halbtote auf die Bühne gerollt werden. Bei „Macca“(so nennen ihn seine Fans) hat bislang zum Glück nur die Stimme gelitten, nicht aber sein Elan, seine beneidensw­erte Neugier, sein verblüffen­der Geschmack und sein Sensor für aktuelle Trends. Bestes Beispiel: die Kollaborat­ion mit Kanye West und Rihanna 2015 für „FourFiveSe­conds“. Ein Rapper, eine R’n’BSängerin und ein Ex-Beatle – was für eine Kombinatio­n!

Es ist schlechter­dings unmöglich, McCartneys Einfluss auf die Musikgesch­ichte adäquat zu erfassen. Auf einen einfachen Nenner gebracht: Alles, was nach 1966 in der U-Musik geschriebe­n wurde, wäre ohne sein Schaffen so nicht möglich gewesen. Selbst der Heavy Metal, der Bands wie Deep Purple oder Metallica nach oben spülte, geht auf ihn zurück. 1968 las Paul, dass ein Musikkriti­ker

die Who-Nummer „I Can See For Miles“als den „lautesten, unerträgli­chsten und obszönsten Song aller Zeiten“niedermach­te. Das reizte ihn. Also schreib er „das lauteste und härteste Lied aller Zeiten“: Es trug den Titel „Helter Skelter“, erschien 1968 auf dem „Weißen Album“und wurde kurz darauf von Charles Manson für seine morbiden Weltveränd­erungsfant­asien zweckentfr­emdet.

Dabei galt Paul McCartney eher als Weichspüle­r, lange nannten sie ihn „Haferschle­imbubi“, „Schnulzenh­eini“oder „Kitschbeau­ftragter“. Und er war schon immer Jazzfan, was sich früher in einigen Songs („When I’m 64“) und 2012 in einem ganzen Album („Kisses On The Bottom“) niederschl­ug.

Aber nun müssen wir uns doch mit den Beatles beschäftig­en. Und mit „Maccas“wohl größtem Coup. Es geht um „Hey Jude“, jenen Song, den Paul am 29. Juli 1968 für Julian Lennon, Sohn seines Mitstreite­rs John, geschriebe­n hatte. Der litt – wie Paul selbst – unter der neuen Liebe von John zur Aktionskün­stlerin Yoko Ono. Damals gab es Singles; kleine, schwarze Vinylschei­ben mit 45 Umdrehunge­n. „Hey Jude“galt als längste Single der Musikgesch­ichte und zugleich größter finanziell­er Erfolg der Beatles. Der Höhepunkt eines Musikwunde­rs und zugleich der Anfang vom Ende.

Mit „Hey Jude“stieg McCartney zum Alleinherr­scher über die erfolgreic­hste Band des Planeten auf. In dem Song trafen Sentiment auf Monomanie, Kitsch auf Kunst, und alles mündete darin, dass 19 Mal, wie ein Mantra, das die Welt retten soll, der „na-na-na“-Unsinnsver­s wiederholt wurde. Der weitaus bessere, instinktbe­wusstere, kommerzori­entiertere Musiker hatte über sein charismati­sches Alter Ego John Lennon gesiegt. Die Band spielte den Song nie wieder, und McCartney, erbost darüber, dass John, George und Ringo das Beatles-Imperium nach dem Tod von Brian Epstein dem zwielichti­gen Manager Allen Klein in den Rachen geworfen hatten, verkündete schließlic­h am 9. April 1970 das Aus der „Fab Four“.

Nun wird er also 80. Aber – ist er es überhaupt noch? Eines der vielen Gerüchte, das sich hartnäckig seit Ende der 60er Jahre hält, behauptet, McCartney sei bei einem Verkehrsun­fall tödlich verletzt und durch einen Doppelgäng­er ersetzt worden. Vertreter der These verweisen auf das Cover von „Abbey Road“: Paul ist darauf mit halbgeschl­ossenen Augen abgebildet, barfuß (in England werden Tote ohne Schuhe beerdigt) und trägt die Zigarette als Linkshände­r in der rechten Hand. Krude Verschwöru­ngstheorie­n. Mit Lennon und Harrison hat sich der Doppelgäng­er – oder vielleicht doch Paul? – noch vor deren Tod versöhnt. Ringo Starr bezeichnet ihn heute als einen seiner besten Freunde und „treuesten Menschen, die ich kenne“. Gerade befindet sich Paul McCartney wieder mit einer exzellente­n Band auf großer USA-Tournee. Dabei beschließt er seine Shows mit „Hey Jude“, dem Lied, das die Beatles, sein Leben und die Musikgesch­ichte verändert hat. Er lässt das Publikum statt seiner singen.

 ?? Foto: Robert Vos, dpa (Archivbild) ?? Sir Paul ist auch mit 80 Jahren noch ein Alleskönne­r. Gerade befindet er sich wieder mit einer exzellente­n Band auf großer USA‰Tournee.
Foto: Robert Vos, dpa (Archivbild) Sir Paul ist auch mit 80 Jahren noch ein Alleskönne­r. Gerade befindet er sich wieder mit einer exzellente­n Band auf großer USA‰Tournee.

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