Augsburger Allgemeine (Land Nord)
Francesca Melandri: Alle, außer mir (158)
EStellen Sie sich vor: Eines Tages steht vor Ihrer Tür ein junger, dunkel häutiger Flüchtling, der begründet behauptet, Enkel Ihres Vaters zu sein. Was wird nun passieren? Ein Szenario, hier – nicht ohne Sarkasmus – in einer römischen Familiengeschichte über drei Generationen hinweg durchgespielt. © 2018 Verlag Klaus Wagenbach, Berlin
in Kollege musste ihm einen Schlag auf den Kiefer versetzen, damit er abließ, er hatte ihm die Uniform zerrissen und sogar ein Stückchen Fleisch erwischt wie ein wildgewordener Pitbull. Solche Typen muss er mit dem Body Cuff ruhigstellen oder mit dem Klettverschlussanzug, der auch zur Ausrüstung gehört, damit niemand, die Rückführer inklusive, Waffen an Bord schmuggeln kann. Oder dieser riesige Nigerianer, den er nach Fiumicino überführen musste, der hatte Handgelenke dreimal so dick wie er. Er schaute aus seinen zwei Metern Höhe auf ihn herab und sagte immer wieder: „Ich fahre nicht“, er konnte sogar ganz gut Italienisch. Diesem Riesen mit der harten Tour zu kommen hätte im Kampf geendet. Also kaufte der Assistente Capo ihm etwas zu essen, fragte ihn, welche Pizza er möge, gab ihm sogar noch etwas Taschengeld und sagte dann: „Okay, hör zu, du bist größer als ich, du schlägst mich nieder, dann kommen
meine Kollegen, sie schlagen dich nieder, wenn nötig kommen noch fünf mehr, oder zehn, oder zwanzig, wie viele es halt braucht, jedenfalls stellen wir dich am Ende ruhig. Wenn du dar-über nachdenkst, wirst du begreifen, dass du besser tust, was ich dir sage.“Der andere hatte den Kopf gesenkt und war zahm wie ein riesiges Lämmlein ins Flugzeug gestiegen.
Allerdings nur, weil es ein Mann war. Eine Frau … ach, wenn die Nigerianerinnen nicht wollen, kriegst du sie nicht hinein. Wenn du die gefangenen Mädchen des Juju rückführen willst, ist es, als würdest du sie direkt in die Arme des Dämons schicken. Einmal hat er zwei erlebt, die hatten sie schon bis auf die Gangway bekommen, obwohl sie wie Stuten um sich traten und sich die Extensions ausrissen mitsamt Fetzen der Kopfhaut. An der Einstiegsluke haben sie sich dann hingehockt und gekackt. Einfach so auf den Boden. Dann haben sie angefangen, wie wild mit der
Scheiße um sich zu schmeißen: auf Barozzino, seinen Kollegen, die Flugbegleiter, die sich hinter den Sitzen in Sicherheit brachten. Er hat Kot ins Gesicht bekommen, auf den Mund, auf die Augen. Am Ende haben sie gewonnen, der Pilot kam aus dem Cockpit und sagte: „Ihr glaubt doch nicht ernsthaft, dass ich die in meinem Flieger mitnehme.“Also mussten sie die Gangway wieder hinabsteigen, sie aufs Präsidium bringen, die Flugkabine reinigen lassen. Seine Uniform war so voll mit Scheiße, dass er den Kittel eines Notarztes anziehen musste, um nach Hause zu fahren. Wo er sich dann den ganzen Abend lang übergab. Es gibt Richter, die diese Dinge wissen und den Festgehaltenen zwar zur Abschiebung verurteilen, ihn aber, wenn er keine Straftat begangen hat, auf freien Fuß setzen. Woraufhin er natürlich nie mehr gesehen wird. In solchen Fällen fühlt sich Assistente Capo Barozzino einerseits auf den Arm genommen, andererseits ist er einverstanden damit. Einerseits würde er den Richtern gerne sagen: „Ihr, die ihr die Gesetze anwendet, stimmt euch doch bitte mit denen ab, die sie machen, schließlich habe ich einem Staat die Treue geschworen, nicht zweien.“Auf der anderen Seite würde er sich wünschen, dass Signor Bossi und Signor Fini, die dieses Gesetz unterschrieben haben, sowie die Parlamentarier, die dafür votiert haben, und all jene, die immer lauthals „Schicken wir sie endlich nach Hause“schreien, mal ein paar Tage lang die Personenbegleiter Luft unterstützen würden. Sollen sie sich doch die Kopfnüsse und Bisse, die Scheiße und vor allem die Blicke der Abgeschobenen reinziehen. Sollen sie sie doch nach Hause schicken. Sollen sie doch die neue Vereinbarung zwischen Gaddafi und Berlusconi umsetzen, welche all diese Menschen – Nigerianer, Senegalesen, Eriträer, Somalier, Ghanesen und alle, die über das Meer auf Lampedusa anlanden – nicht etwa in ihre jeweiligen Heimatländer zurückschickt, sondern in die Gefängnisse in Libyen. Vielleicht erleben sie dann dasselbe wie er, dass ein Mann, der beim Öffnen der Flugzeugtür die Luft von Tripolis wiedererkannte, sich vor Barozzino niederkniete, den Kopf senkte und ihn um den Gnadenschuss bat.
Was am Ende auch diesem Jungen hier blüht. Die Fingerabdrücke wurden ihm nach der Landung genommen, er ist über das Meer gekommen, er hat sogar einen Abschiebebefehl, dem er nicht nachgekommen ist. Für ihn führt an Gaddafis Lagern theoretisch kein Weg vorbei.
Theoretisch.
Heute aber hat Barozzino etwas so Erstaunliches erlebt wie noch nie – ein Festgehaltener aus Äthiopien mit zwei Ablehnungsbescheiden, der fast zwei Jahre lang untergetaucht war und nun auf seinen eigenen Beinen das CIE verlässt anstatt an Bord eines Streifenwagens in Richtung Flughafen. Der zudem aber auch noch ein hellgelbes Blatt Papier in der Hand hält: die verlängerbare Aufenthaltsgenehmigung für ein Jahr auf seinen Namen, die per Dringlichkeitsschreiben aus dem Ministerium gekommen ist. Ein wahres Wunder für einen Festgehaltenen im CIE, noch unwahrscheinlicher als die Möglichkeit, dass er seine Anna wieder lebendig in die Arme schließt.
Der Assistente Capo beobachtet, wie der Junge schlaksig durch das Metalltor geht, als wäre er ein Filmstar, der das Grand Hotel verlässt, der den gepflasterten Platz überquert und in seine Limousine steigt. Die zwar ein Panda ist, aber die gleiche Wirkung erzielt. Erwartet von einer dünnen Frau und einem jüngeren Mann, der ihr ähnlich sieht, aber zu alt ist, um ihr Sohn zu sein. Sie umarmen ihn, er steigt ins Auto, und sie fahren los.
„Wer das wohl war“, fragt sich Assistente Capo Barozzino.
Ein Flugzeug donnert wenige
Dutzend Meter über das Gebäude des CIE hinweg, über die Festgehaltenen, die noch zu identifizieren und abzuschieben sind, über den Panda, der vom Piazzale abbiegt. Einen Moment gibt es nichts anderes als das Dröhnen der Motoren und den durchdringenden Geruch des Kerosins.
Wie sehr wünscht er sich ein ebensolches Wunder. Oder wenigstens eine Erscheinung, das würde schon genügen.
In Italien ist nichts unmöglich für denjenigen, der Einfluss hat. Piero benötigte nicht mehr als ein paar Telefonate. Schon war der Junge aus dem CIE raus, war kein Illegaler mehr, von heute an kann er sogar eine Arbeit annehmen. Es war alles ganz einfach. Danach hat Piero aber einen weiteren Freund im Außenministerium angerufen, der bis vor wenigen Monaten in Addis Abeba tätig war.
Er hat ihm einen Namen genannt. Der Freund im Außenministerium hat Freunde kontaktiert, die Freunde von Freunden kontaktiert haben, bis man bei der richtigen Person der äthiopischen Regierung angelangt war. Im Innenministerium, um genau zu sein. Dieses Mal war es nicht ganz so einfach, doch Piero hat bekommen, was er wollte: eine Information.