Augsburger Allgemeine (Land Nord)
Augsburgs Chöre singen wieder
Vereinsleben Lockdown, Kontaktverbote und extreme Abstandsregeln: Corona hat den Männerchor Lyra hart getroffen. Jetzt dürfen die Sänger wieder drauflos schmettern, aber ein Problem ist leider geblieben.
Was fällt beim ersten Blick auf die Männer auf, die in schwarzen Monturen mit roten Fliegen in einer Reihe aufgestellt sind und für ein Foto in die Kamera lächeln? Einer ist in die Hocke gegangen, weil er ansonsten über seinen Nebenmann zu weit hinausragen und die Harmonie stören würde. Doch auch wenn das stimmt, ist es die falsche Antwort. Erst der zweite Blick aufs Bild bringt das richtige Ergebnis. Das heißt: Das sind alles „ältere Semester“. Die anwesenden Mitglieder der Sängergesellschaft Lyra am Tisch lächeln bejahend, weil sie gerade darauf Wert legen.
Der Vorsitzende Bernd Greppmeier und sein Stellvertreter Paul Jennen sind mit 63 und 75 Jahren im Mittelfeld des Männerchores anzusiedeln. Im Alter von 56 Jahren ist Klaus Kugelmann fast der Jüngste im Bunde der Sänger. Nur einer sei erst 51, heißt es in der Runde, hinter der schwere Zeiten liegen. Denn in den Monaten der Lockdowns war ihnen ihr Anliegen verwehrt. Abwechslung und Ausgleich im Alltag waren dahin, ebenso die Kontaktmöglichkeiten von Menschen, die trotz verschiedener Herkunft die Freude an der Chormusik eint.
Die pandemiebedingten Regeln trafen besonders Senioren hart, weil sie in völliger Isolation verharren mussten. Die Sänger verloren ein zentrales Anliegen. „Die soziale Aufgabe“, sagen sie unisono, „die uns ganz wichtig ist.“Regen Kontakt habe man zwar gepflegt – allerdings nur telefonisch, so der staatlich geprüfte Ehrenchorleiter Dietmar Hierdeis, der auf einer seiner acht Stationen bei der Bundeswehr
seinen ersten eigenen Chor ins Leben rief. In Fontainebleau bei der NATO bekam er ad hoc 85 Interessenten zusammen. Sogar zwei Generäle hätten sich angeschlossen.
Hierdeis betont, dass Mitglieder, die nicht mehr so mobil seien, bei normalem Betrieb abgeholt und wieder heimgebracht würden. Das bedeute, dass sich ein 80-Jähriger dem Männerchor „locker anschließen“könne, auch wenn er nicht mehr gut zu Fuß ist. „Die Freude am Singen steht im Vordergrund“, sagen die Männer, die sich wöchentlich am Dienstagabend in einer Betriebskantine zur Probe treffen. Au
schwärmen sie von den gemeinschaftlichen Erlebnissen – sei es ein Konzert mit 2000 Besuchern in Heilig Geist oder das noch bevorstehende Konzert im Hofgarten (bei freiem Eintritt), das wegen schlechten Wetters von Mai auf den 10. Juli verlegt werden musste. Das Konzert der insgesamt zehn Chöre beginnt um 13.30 Uhr und endet gegen 17 Uhr. Für ihren Auftritt probt die Sängergesellschaft bereits fleißig.
Dietmar Hierdeis hat nach Auskunft seiner Sänger die Fähigkeit, einen Mann schon beim Sprechen der passenden Stimmlage zuzuordnen. Ob erster oder zweiter Tenor,
erster oder zweiter Bass, er finde den richtigen Platz für ihn. So ist man derzeit auf der Suche nach neuen Mitgliedern und -sängern, wobei sich vor allem die über 35-Jährigen angesprochen fühlen sollen. Dabei sei es nicht nötig, Noten lesen zu können, sagt der 83-Jährige, der auch dem Kolping-Männerchor Göggingen vorsteht. Und noch ein Hinweis soll die Hemmschwelle senken: „Vorsingen ist nicht erforderlich.“
Für Bernd Greppmeier war der Beitritt zu Lyra „fast schon eine Verpflichtung“. Bei seiner Hochzeitsfeier in St. Konrad im Bärenßerdem keller trat der Chor auf, und er versprach im Gegenzug, Mitglied zu werden. Beim ersten Kontakt zur Truppe sei er sofort geduzt worden, was seinerzeit noch alles andere als selbstverständlich war. Heute ist der damalige Bräutigam seit 40 Jahren Sänger und vom Notenwart in der Chor-Hierarchie bis zum Vorsitzenden ausgestiegen.
An diesem denkwürdigen Tag hatte auch Dietmar Hierdeis einen überraschenden Auftritt: „Die engagierte Solistin kam zu mir“, erzählt er. Sie sagte, sie könne wegen ihrer Erkältung das „Ave Maria“von Gounod nicht singen. Doch das brachte den Chorleiter nicht in Verlegenheit. Auf die Hiobsbotschaft antwortete er nur: „Na, dann sing’ halt i.“Heute springt er immer noch ein, wenn Not am Mann ist. Denn inzwischen führt Werner Schrupp den Chor. 2018 bekam er von Hierdeis dessen vergoldeten Dirigentenstab weitergereicht.
Wieder stehen den Augsburgern Jubiläen ins Haus: Gemeinsam mit dem Kolping-Männerchor Göggingen zelebriert die Sängergesellschaft Lyra 250 Jahre Chorgeschichte im Kurhaus, wobei 155 Jahre auf das Konto der Lyra und 95 Jahre weitere auf das der Kolping-Männer gehen. Dass die Sänger eine eingeschworene Gemeinschaft sind, hatte sich schon beim 140. und 150. Geburtstag gezeigt.
Der aus Ostwestfalen stammende Paul Jennen pflegt bis heute engen Kontakt zu seinen dortigen Chorbrüdern. Zu den Feierlichkeiten reisen sie für gewöhnlich zahlreich an. Das zeigt einen Zusammenhalt, wie er auch nach dem Geschmack von Klaus Kugelmann, dem Benjamin am Tisch, ist.