Augsburger Allgemeine (Land Nord)
OFFICE Das Büro auch als Zuhause?
kann für Unternehmen gefährlich werden, denn weniger Bindung bedeutet auch, dass Beschäftigte sich leichter von einer Firma lösen können. „Man kann heute überall Jobs annehmen“, sagt Julia Lanzl. Die Augsburger Wissenschaftlerin arbeitet am Kernkompetenzzentrum Finanz& Informationsmanagement, einer Forschungseinrichtung mit mehreren Standorten in Bayern, und am Institutsteil Wirtschaftsinformatik des FraunhoferInstituts für Angewandte Informationstechnik, kurz Fit. Sie beschäftigt sich gemeinsam mit ihrem Kollegen Manfred Schoch mit der neuen Arbeitswelt und ihren Folgen für das Leben der Beschäftigten. Lanzl sagt: Wer in Augsburg wohnt, könne aus dem Homeoffice auch für ein Unternehmen in Berlin oder New York arbeiten. „Der Arbeitsmarkt ist durch die Pandemie viel größer geworden, Mitarbeitende wechseln viel einfacher als vorher.“
Dazu kommt, dass sich in der Krise plötzlich mehr Menschen als zuvor damit beschäftigt haben, wie und wo sie arbeiten wollen, Jobs und Lebensmodelle infrage gestellt wurden – und das in einer Zeit, in der viele Branchen Neuzugänge so kräftig umwerben wie zuvor höchstens neue Kunden. „Die Macht der Arbeitnehmenden ist gestiegen“,
Lanzl.
Wsagt Expertin
ie groß die Wechselbereitschaft während der Corona-Zeit geworden ist, lässt sich auch messen. Seit 20 Jahren befragen die Wissenschaftler und Forscherinnen des GallupInstituts die Deutschen jedes Jahr nach ihrem Verhältnis zur Arbeit. In diesem Jahr gaben nur noch 60 Prozent aller Befragten in zwölf Monaten bei ihrem aktuellen Unternehmen beschäftigt sein zu wollen. Im Jahr zuvor waren es 78 Prozent. Anders formuliert: Mehr als jede und jeder Dritte wäre bereit, zu wechseln, 14 Prozent suchen demnach sogar aktiv nach einem neuen Job – doppelt so viele wie im Jahr 2021.
In den USA zeigen sich die Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt schon jetzt. Das Land ist in den vergangenen Monaten von einer gewaltigen Kündigungswelle erfasst worden. Der US-Psychologe Anthony Klotz prägte den Begriff der „Great Resignation“. Für den Forscher geht es dabei um mehr als die bloße Kündigung eines Jobs. In einem Interview mit der Zeit sagte er: „Man kann es auch ein großes Erwachen nennen, einen großen Neubeginn, eine große Umstrukturierung.“
Es ist die Revolution, von der eingangs die Rede war: eine gewaltige Umwälzung, die nicht in Demonstrationen und Protesten erkämpft wurde, sondern schleichend im Homeoffice. Wie begegnet man nun dieser neuen Zeit, wie können sich Unternehmen und Beschäftigte in dieser veränderten Arbeitswelt zurechtfinden?
I n Augsburg, bei der Agentur Xpose360, setzt Alexander Geißenberger auf die Unternehmenskultur. „Ein Jobwechsel bedeutet heute oft nur, im Homeoffice den Laptop der einen Firma zu- und den der anderen Firma aufzuklappen“, sagt der Agenturchef. Geißenberger ist überzeugt, dass Unternehmen sich deshalb künftig noch mehr anstrengen müssen, um ihre Angestellten zu halten. Das Büro spielt dabei aus seiner Sicht eine zentrale Rolle: „Es muss eine Sogwirkung haben“, betont er. Die MitarbeitenDas den müssen also gern an ihren Arbeitsplatz kommen, sich bestenfalls wohler fühlen als zu Hause. In der Agentur können die Teammitglieder deshalb nicht nur gemeinsam Englisch lernen. Das Unternehmen richtet Kochkurse aus, es gibt eine Bar, eine Müsli-Auslage, einmal in der Woche kommt eine Masseurin in die Firma, regelmäßig auch ein Coach und eine Logopädin.
Geißenberger geht es dabei nicht darum, dass jemand fünf Tage die Woche seine Zeit im Büro absitzt, das ist ihm wichtig zu betonen. Für ihn ist der Arbeitsplatz ein Ort, an dem man die Bindung zur Firma immer wieder aufs Neue auffrischt – ähnlich wie bei einem Akku, der aufgeladen wird. Die eigentliche Arbeit im Büro tritt in den Hintergrund. „Mir würde es auch reichen“, sagt Geißenberger, „wenn die Leute vier Stunden die Woche ins Büro kommen, um Tischtennis zu spielen und Eis zu essen.“
Milena Bockstahler, die Fraunhofer-Expertin, sieht das ähnlich. „Austausch ist einer der Hauptgründe, warum Menschen ins Büro gehen“, sagt sie. „Alleine am Schreibtisch kann man auch zu Hause arbeiten.“Kolleginnen und Kollegen ziehen sich ihrer Ansicht nach gegenseitig ins Büro. Unternehmen sollten deshalb das Zusammentreffen gezielt fördern, sagt Bockstahler: Events für die Beschäftigten ausrichten, After-Work-Veranstaltungen organisieren, Erfolge gemeinsam feiern.
Und auch das Büro selbst muss sich aus Sicht der Expertin verändern. Besonders das Großraumbüro hemme viele Menschen, an den Arbeitsplatz zurückzukehan, ren. „Die Störeffekte im Büro sind höher, viele haben sich zu Hause an ein sehr ruhiges Arbeiten gewöhnt und empfinden das als angenehmer“, sagt sie. Um diese Menschen zurückzuholen, müsse sich „die Arbeitsumgebung klar vom Zuhause abheben“, betont Bockstahler: mit ergonomischen Arbeitsplätzen, fest definierten Zonen für Zusammenarbeit, konzentriertem Arbeiten und sozialem Austausch.
An verschiedenen Fujitsu-Standorten hat man diese Zonen schon vor der Pandemie eingeführt. Manager Robert Mayer setzt sich im Büro mit seinem Laptop zwischen seine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Wenn er telefonieren muss, geht er in einen „Think Tank“, Teambesprechungen finden in sogenannten Kollaborationsbereichen statt. In den vergangenen Wochen hat Mayer im Büro eine Veränderung festgestellt: „Mit dem sozialen Kontakt kommt auch die Kreativität und Innovationskraft zurück“, erzählt er. Statt 2D ist plötzlich alles wieder in 3D. So hat es ihm ein Mitarbeiter beschrieben. Mayer ist es wichtig, das zu erzählen. Er ist jemand, der gern mit seinen Kolleginnen und Kollegen zusammensitzt, das auch nicht missen will.
Bei Fujitsu und auch anderswo stellt man sich mit der Rückkehr ins Büro jetzt bereits auf neue Fragen ein. Wie lässt sich die Arbeit organisieren, wenn die einen hier und die anderen dauerhaft dort arbeiten? Wie sicherstellen, dass der Stress durch das hybride Arbeiten, also analog und digital, nicht zunimmt? Mayer erzählt von Resilienz-Programmen und Kursen, die das Wohlbefinden steigern sollen, sogenannte Well-being-Events. Es gehe darum, wieder aktiv Pausen zu machen, egal ob im Homeoffice oder im Büro. Nicht Meeting an Meeting zu reihen, sondern die Arbeitszeit auch für den Austausch zu nutzen.
Denn so flexibel das Homeoffice auch ist, so stressig war es gleichzeitig für viele. Nach einer Studie der Harvard University ist die Arbeitszeit in Ländern, die einen Lockdown hatten, um zehn Prozent gestiegen. Julia Lanzl, die Augsburger Arbeitsexpertin, forscht zu der Frage, wie digitaler Stress Menschen beeinflusst. Sie sagt: Im Jahr 2020, als viele neue Kommunikationskanäle eingeführt wurden, waren viele überfordert. „Wann schreibe ich Mails? Wann nutze ich den Chat? Zu welchen Zeiten muss ich erreichbar sein? Für die Beschäftigten ist das eine Informationsüberflutung.“Arbeit und Privates seien immer mehr verschwommen, weil alles in einer Wohnung, teils sogar in einem Zimmer stattgefunden habe.
Dazu kamen in der Corona-Zeit noch andere Sorgen, andere Probleme: die Gesundheit, die Weltlage, für Familien die Frage nach der Betreuung der Kinder, die überdurchschnittlich oft die Frauen übernahmen. Julia Lanzl zählt die möglichen Folgen auf: Kopfschmerzen, Schlafstörungen, auch die Produktivität könne sinken und die Bindung zum Unternehmen gehe zurück, wenn jemand digital gestresst ist.
All das hat dazu geführt, dass sich in den Corona-Jahren deutlich mehr Menschen erschöpft und ausgebrannt fühlten als in den Jahren zuvor. In einer Befragung der Krankenkasse AOK gaben 48 Prozent der Teilnehmenden im Lockdown-Frühjahr 2021 an, dass ihre Belastung gestiegen sei. Jede fünfte Krankmeldung im Winter 2020/2021 ging demnach auf eine psychische Erkrankung zurück.
Expertin Julia Lanzl rät Unternehmen deshalb, die Rückkehr ins Büro und das hybride Zusammenarbeiten eng zu begleiten, Mitarbeitende regelmäßig zu befragen und häufige Stressquellen von vornherein auszuschalten: einen Kommunikations-Knigge erstellen, funktionierende Technik anbieten, eine angenehme Arbeitsatmosphäre schaffen.
Auch Alexander Geißenberger macht sich Gedanken darüber, wie das hybride Zusammenarbeiten klappen kann. „Wir überlegen gerade, wie wir unsere Unternehmenskultur daran anpassen“, sagt der Unternehmer. Wie sich also das Gemeinschaftsgefühl, das durch Kochkurse, Englischlernen und Bar-abende entsteht, auch auf jene Beschäftigten übertragen lässt, die nie oder so gut wie nie im Büro arbeiten. Alle Antworten darauf hat Geißenberger noch nicht gefunden, da geht es ihm wie den meisten Unternehmern und Unternehmerinnen in diesem Sommer. Nur eines ist für ihn schon klar: „Das wird eine gewaltige Aufgabe.“